BGE 108 Ia 82 - Kirchgemeinde Straubenzell | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 17. Februar 1982 |
i.S. evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen und evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Straubenzell gegen Z., Dr. R. und Regierungsrat des Kantons St. Gallen |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 88 OG, Legitimation; Gemeindeautonomie; Verfahren betreffend die Abberufung eines Pfarrers. |
Legitimation der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung der Autonomie (E. 1b). |
Verletzung der Autonomie der Kantonalkirche und der Kirchgemeinde Straubenzell dadurch, dass der Regierungsrat im Rechtsmittelverfahren die ihm zustehende Prüfungsbefugnis überschritt: er nahm zu Unrecht an, es liege ein Missbrauch der Amtsgewalt durch den Kirchenrat der Kantonalkirche vor, weil dieser im Beschwerdeverfahren davon abgesehen habe, den von der Kirchgemeindeversammlung in geheimer Abstimmung gefassten Beschluss betreffend die Abberufung des Pfarrers aufzuheben (E. 3). | |
Sachverhalt | |
A.- Die Kirchenvorsteherschaft der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Straubenzell (SG) versandte am 10. Dezember 1979 ein Rundschreiben an die Kirchgemeindemitglieder, in welchem sie ausführte, sie sei einstimmig zur Überzeugung gelangt, dass ein weiteres Wirken von Z. als Pfarrer wegen der von ihm vertretenen nationalsozialistischen Ideen nicht mehr verantwortet werden könne; sie empfehle daher einstimmig die Abberufung von Pfarrer Z. und ersuche um Unterzeichnung des beigelegten Abberufungsbegehrens. Das Begehren wurde von 2539 der insgesamt 6620 Stimmberechtigten der Kirchgemeinde Straubenzell unterschrieben.
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Die Kirchenvorsteherschaft von Straubenzell berief auf den 10. Februar 1980 eine ausserordentliche Kirchgemeindeversammlung ein. Diese beschloss in geheimer Abstimmung mit 1072 gegen 39 Stimmen die Abberufung von Pfarrer Z.. Hiegegen legten Z. und Dr. R. beim Regierungsrat Kassationsbeschwerde ein, die an den Kirchenrat der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen als zuständige konfessionelle Oberbehörde weitergeleitet wurde. Der Kirchenrat wies die Kassationsbeschwerde mit Beschluss vom 19. August 1980 ab.
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Pfarrer Z. und Dr. R. erhoben Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons St. Gallen. Sie machten geltend, das Abberufungsverfahren sei von einem unzuständigen Organ, nämlich der Kirchenvorsteherschaft, eingeleitet worden. Diese habe versucht, mit ihrem Rundschreiben den Prozess demokratischer Willensbildung mit unwahren und aktenwidrigen Behauptungen zu beeinflussen. Dem angegriffenen Pfarrer sei keine Gelegenheit gegeben worden, zu den Anschuldigungen gebührend Stellung zu nehmen.
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Der Regierungsrat hiess mit Beschluss vom 10. März 1981 die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut und hob den Entscheid des Kirchenrates vom 19. August 1980 auf. Er erklärte zwar die von Pfarrer Z. und Dr. R. erhobenen Rügen als unbegründet, kam aber zum Schluss, nach der Kirchenverfassung sei der Entscheid über ein Abberufungsbegehren nicht in einer Kirchgemeindeversammlung, sondern in einer Urnenabstimmung zu treffen. Die Abstimmung über die Abberufung von Pfarrer Z. müsse deshalb an der Urne wiederholt werden.
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Die evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen und die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Straubenzell führen gegen den Beschluss des Regierungsrates vom 10. März 1981 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung ihrer Autonomie sowie des Art. 4 BV.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 1 | |
1.- a) Es steht ausser Zweifel, dass auf die Beschwerde eingetreten werden kann, soweit sie von der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Straubenzell erhoben wurde. Der Entscheid des St. Galler Regierungsrates vom 10. März 1981 berührt die Kirchgemeinde in ihrer Eigenschaft als Trägerin öffentlicher Gewalt. Sie ist daher nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung legitimiert, mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung ihrer Autonomie zu rügen. Ob die Gemeinde im fraglichen Bereich tatsächlich autonom ist, ist keine Frage des Eintretens, sondern eine solche der materiellen Beurteilung der Beschwerde (BGE 104 Ia 387 E. 1; 103 Ia 321 E. 1, 472 E. 1 mit Hinweisen).
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Erwägung 2 | |
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Nach Art. 24 KV und dem gleichlautenden Art. 1 des st. gallischen Gesetzes über die Besorgung der Angelegenheiten des katholischen und des evangelischen Konfessionsteiles vom 25. Juni 1923 (KonfG) sind die beiden kantonalen Kirchen berechtigt, sich ihre konfessionelle Organisation unter Vorbehalt der staatlichen Genehmigung selbst zu geben. Art. 2 Abs. 2 KonfG (in der Fassung vom 23. August 1979) sieht vor, dass sich die von den Konfessionsteilen erlassenen Vorschriften hinsichtlich der Organisation der Kirchgemeinden nach der staatlichen Gesetzgebung über die Spezialgemeinden zu richten haben, soweit nicht besondere Verhältnisse eine Abweichung rechtfertigen. Gleichwohl steht aber der kantonalen Kirche beim Erlass solcher organisatorischer Vorschriften, zu denen auch die hier in Frage stehenden Bestimmungen über die Abberufung der Pfarrer gehören, eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu. Die Kirchgemeinden ihrerseits regeln gemäss Art. 11 Abs. 3 der Verfassung der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen vom 13. Januar 1974 (VEK) ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetzgebung der Kantonalkirche selbständig. Die Beschwerdeführerinnen sind demnach im Sachbereich, der Gegenstand des Streites bildet, autonom.
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Erwägung 3 | |
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a) Nach Art. 7 Abs. 2 KonfG kann beim Regierungsrat gegen Entscheide der konfessionellen Oberbehörden - abgesehen vom hier nicht zur Diskussion stehenden Anfechtungsgrund der zweckwidrigen Verwendung oder gesetzwidrigen Verwaltung von Kirchengut - lediglich "wegen Missbrauches oder Überschreitung der Amtsgewalt" Beschwerde geführt werden. Der Regierungsrat hat diese Vorschrift selber zutreffend in dem Sinn ausgelegt, dass er nur eingreifen kann, wenn die Verfügung eines Konfessionsteiles mit dem Gesetz offensichtlich unvereinbar oder ein Ermessensentscheid willkürlich ist (St. Gallische Gerichts- und Verwaltungspraxis 1960 Nr. 48 S. 131). Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht, der Regierungsrat habe zu Unrecht angenommen, es liege eine Überschreitung der Amtsgewalt durch den Kirchenrat der evangelischen Kantonalkirche vor, weil dieser davon abgesehen habe, den Beschluss der Kirchgemeindeversammlung Straubenzell betreffend die Abberufung von Pfarrer Z. aufzuheben. Da es bei der Beurteilung der Frage, ob der Regierungsrat dem Kirchenrat Amtsmissbrauch vorwerfen konnte, nicht um die Auslegung von Normen der Bundesverfassung oder der St. Galler Kantonsverfassung geht, prüft das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid im Rahmen der Autonomiebeschwerde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 104 Ia 127, 138 mit Hinweisen).
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Ob der Regierungsrat so entscheiden durfte, obschon in der Kassationsbeschwerde gar nicht gerügt worden war, der Abberufungsbeschluss hätte an der Urne gefasst werden müssen, mag dahingestellt bleiben. Rein unter dem Gesichtspunkt des materiellen Rechts wäre der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden, wenn es sich so verhielte, wie der Regierungsrat anzunehmen scheint. Dieser geht nämlich davon aus, es bestehe hinsichtlich des Abberufungsverfahrens bloss Art. 18 Abs. 2 VEK, wonach Begehren um Abberufung eines Pfarrers durch Urnenabstimmung erledigt werden müssen. Die Kirchenverfassung enthält aber auch - was der Regierungsrat anscheinend übersah - einen Art. 16 lit. d, der vorsieht, dass über eine allfällige Abberufung der Pfarrer die Kirchgemeindeversammlung zu befinden hat. Die beiden Vorschriften widersprechen sich, erklärt doch die eine die Kirchgemeindeversammlung für die Abberufung zuständig, während die andere bestimmt, dass die Abberufung in einer Urnenabstimmung beschlossen werden muss. Es sprechen gewichtigere Gründe für die Annahme, nach dem Sinn der VEK sei die Kirchgemeindeversammlung zuständig. Art. 18 steht - ebenso wie Art. 16 - im Abschnitt über die "Kirchgemeindeversammlung" und sieht in Abs. 1 vor, die Kirchgemeindeversammlung übe ihre Befugnisse in der Regel in offener Abstimmung aus. Das legt den Schluss nahe, dass sich auch Abs. 2 auf die Art der Abstimmung in der Kirchgemeindeversammlung selbst bezieht und lediglich für die Abberufung von Pfarrern - als Ausnahme von der Regel - eine geheime Abstimmung in der Versammlung selbst vorschreiben will. Für diese Auslegung spricht ferner der Umstand, dass in der VEK keine ausserhalb der Kirchgemeindeversammlung stattfindenden Gemeindeabstimmungen vorgesehen sind. Zudem bestimmt Art. 42 des st. gallischen Gemeindegesetzes vom 23. August 1979, dass für die geheime Abstimmung in der Versammlung die Vorschriften des Gesetzes über die Urnenabstimmungen sachgemäss angewendet werden. Bei der geheimen Abstimmung in der Gemeindeversammlung wird zum Einsammeln der Stimmzettel in der Regel auch ein Gefäss verwendet, das als Urne bezeichnet wird. Verschiedene kantonale Vorschriften über Wahlen und Abstimmungen sehen dies ausdrücklich vor (z.B. § 81 des solothurnischen Gemeindegesetzes vom 27. März 1949). Der Ausdruck "Urnenabstimmung" in Art. 18 Abs. 2 VEK ist vermutlich ungenau und könnte auf einem Redaktionsversehen beruhen. Wie dem auch sei, auf jeden Fall lässt sich die Auffassung, die Kirchgemeindeversammlung sei zur Abberufung eines Pfarrers zuständig, mit guten Gründen vertreten. Verhält es sich so, dann konnte dem Kirchenrat klarerweise nicht Amtsmissbrauch vorgeworfen werden, wenn er in durchaus haltbarer Auslegung der Kirchenverfassung davon ausging, der Abberufungsbeschluss müsse nicht ausserhalb der Kirchgemeindeversammlung, sondern durch diese selbst gefasst werden. Die Annahme des Regierungsrates, der Beschluss des Kirchenrates vom 19. August 1980 sei offensichtlich falsch und müsse deshalb aufgehoben werden, ist nicht nur unrichtig, sondern bei Beachtung des Art. 16 VEK unhaltbar. Mit dem angefochtenen Entscheid hat der Regierungsrat die ihm gemäss Art. 7 Abs. 2 KonfG zustehende Prüfungsbefugnis eindeutig überschritten und damit die Beschwerdeführerinnen in ihrer Autonomie verletzt. Bei dieser Sachlage erübrigt es sich, noch zu untersuchen, ob der Regierungsrat die Beschwerdeführerinnen auch in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigt hat, wie diese behaupten. Die Beschwerde ist aus den dargelegten Gründen gutzuheissen und der angefochtene Beschluss des Regierungsrates vom 10. März 1981 aufzuheben.
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