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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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10. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 22. März 1983 |
i.S. Sener gegen Bundesanwaltschaft und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement |
(Einsprache gemäss Auslieferungsgesetz) | |
Regeste |
Auslieferung. Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAÜ). |
1. Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ; Anforderungen an die Begründung des Auslieferungsgesuchs (E. 2a). |
2. Begriff des Ausnahmegerichts im Sinne des schweizerischen Vorbehalts zu Art. 1 EAÜ (E. 4). |
3. Kein politisches Delikt gemäss Art. 3 Ziff. 1 EAÜ (E. 6a). |
4. Verweigerung der Auslieferung in Anwendung von Art. 3 Ziff. 2 EAÜ, da ernstliche Gründe zur Annahme bestehen, der Einsprecher wäre aus rassischen und politischen Gründen in einem Strafverfahren des ersuchenden Staates der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage ausgesetzt (E. 6b). | |
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A. | |
Der türkische Staatsangehörige Mehmet Sener wurde am 22. Februar 1982 in Zürich verhaftet. Die Botschaft der Türkei in der Schweiz stellte am 12. März 1982 beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement ein Auslieferungsbegehren. Dieses stützt sich auf einen vom Militärgericht bei der Kommandantur des Ausnahmezustandes in Istanbul-Selimiye am 11. Juli 1979 erlassenen Haftbefehl. Es wird Sener vorgeworfen, er habe Mehmet Ali Agça (der später das Attentat auf den Papst verübte) dazu angestiftet, am 1. Februar 1979 in Istanbul Abdi Ipekçi, einen Redaktor der Zeitung "Milliyet", zu ermorden, und er habe ihm auch die Pistole verschafft, die bei der Ermordung verwendet wurde. Sener erhob gegen die Auslieferung Einwendungen, die sich auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAÜ) beziehen.
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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Nach dem Wortlaut des Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ ist dem Auslieferungsbegehren "eine Darstellung der Handlungen" beizufügen, derentwegen um Auslieferung ersucht wird. Zeit und Ort ihrer Begehung sowie ihre rechtliche Würdigung sind unter Hinweis auf die anwendbaren Gesetzesbestimmungen "so genau wie möglich" anzugeben. Verlangt wird demnach nicht eine "genaue" Darstellung der behaupteten strafbaren Handlungen, sondern nur, dass die betreffenden Angaben "so genau wie möglich" sein sollen. Der Zweck der Vorschrift besteht nicht darin, dass die Tat bis zu einem gewissen Grade bewiesen werden müsste. Es geht lediglich darum, dem ersuchten Staat den Entscheid über die auslieferungsrechtlich erheblichen Fragen (beidseitige Strafbarkeit; Vorliegen ![]() ![]() | 4 |
Die Darstellung des Sachverhaltes im eigentlichen Auslieferungsbegehren der Türkei vom 26. Februar 1982 (verfasst vom Militäranwalt bei der Kommandantur des Ausnahmezustandes in Istanbul-Selimiye) ist knapp gehalten. Es wird einzig gesagt, Sener habe Ali Agça zu dem am 1. Februar 1979 in Istanbul begangenen Mord an Abdi Ipekçi, einem Redaktor der Zeitung "Milliyet", angestiftet und ihm die dabei verwendete Pistole verschafft. Hinsichtlich der Umschreibung des Sachverhaltes sind indessen auch die Beilagen zum Auslieferungsgesuch zu berücksichtigen. Als solche fällt das am 11. Juli 1979 aufgenommene Protokoll über die Vernehmung des Ali Agça in Betracht. Danach hat dieser vor dem Militärgericht ausgesagt, er habe die beim Attentat gegen Ipekçi verwendete Pistole am Tage des Deliktes von Mehmet Sener entliehen, und im gleichen Dokument wird seitens des Gerichts ausgeführt, Sener habe Agça zur Tötung überredet. Das Bundesgericht hat versucht, durch Rückfragen bei den türkischen Behörden auf diplomatischem Wege noch etwas konkretere Angaben zu erhalten. Die türkische Regierung äusserte sich in ihrer Antwortnote dahin, sie verweise auf das dem Auslieferungsbegehren beigegebene Protokoll über die Aussagen Agças, über deren Glaubwürdigkeit einzig die türkischen Gerichte zu entscheiden hätten. Das Bundesamt für Polizeiwesen fügte bei, weitere Einzelheiten könnten auf dem Rechtshilfeweg durch eine Befragung des Mehmet Ali Agça in Erfahrung gebracht werden, der sich wegen des Attentates auf den Papst in Rom in Untersuchungshaft befinde.
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Es kann nicht Sache des ersuchten Staates sein, seinerseits an Stelle des ersuchenden Staates ein Rechtshilfebegehren an einen Drittstaat zu richten, um den Sachverhalt, der Gegenstand des Verfahrens im ersuchenden Staat bildet, näher abzuklären. Vielmehr ist aufgrund der vorliegenden Akten zu entscheiden, ob die Darstellung der dem Einsprecher vorgeworfenen Handlungen den Anforderungen des Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ genügt. Diese Frage ist zu bejahen. Die Angaben in den Beilagen zum Auslieferungsgesuch reichen aus, um dem ersuchten Staat den Entscheid über alle massgebenden auslieferungsrechtlichen Punkte zu ermöglichen. Mit der Frage, ob der Einsprecher die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat, kann sich der Auslieferungsrichter nicht befassen. Er ist an die Darstellung des Sachverhaltes im Auslieferungsbegehren und in den zugehörigen Beilagen gebunden, sofern sich in den ![]() ![]() | 6 |
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Erwägung 3 | |
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Der Einsprecher hält jedoch seine Auslieferung aus mehreren Gründen für unzulässig, die alle im Zusammenhang mit der heutigen politischen Lage in der Türkei stehen, d.h. mit dem dort bestehenden Militärregime. Da zwischen der Türkei und der Schweiz normale völkerrechtliche Beziehungen bestehen und das EAÜ für die beiden Staaten nach wie vor verbindlich ist, ist das Bundesgericht nicht befugt, Auslieferungen an die Türkei wegen der besonderen politischen Situation generell zu verweigern. Hingegen hat es zu prüfen, ob im betreffenden konkreten Fall die ![]() ![]() | 9 |
Erwägung 4 | |
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Die Schweiz hat sich bei ihrem Beitritt zum EAÜ das Recht vorbehalten, die Auslieferung abzulehnen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung vor ein Ausnahmegericht gestellt würde, und der ersuchende Staat nicht eine als ausreichend erachtete Zusicherung abgibt, wonach die Beurteilung durch ein Gericht erfolgt, das nach den Vorschriften der Gerichtsorganisation allgemein für die Rechtsprechung in Strafsachen zuständig ist (Vorbehalt zu Art. 1 EAÜ). Mit dieser Formulierung brachte die Schweiz deutlich zum Ausdruck, welche Gerichte sie als Ausnahmegerichte betrachtet. Der Begriff der Ausnahmegerichte wird in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eng ausgelegt. Es handelt sich um Gerichte, die ausserhalb der verfassungsmässigen Gerichtsorganisation stehen und nur für einen oder mehrere konkrete Fälle gebildet werden (BGE 53 I 318 E. 4, 39 I 385 E. 1, 33 I 408 E. 3). Das Bundesgericht hat in einem die Republik Zaïre betreffenden Urteil vom 11. Juli 1973 (BGE 99 Ia 552 E. 1b) ausgeführt, ein Spezialgericht, das nach Verfassung oder Gesetz allgemein in bestimmten Fällen über bestimmte Anschuldigungen zu entscheiden habe, stelle kein Ausnahmegericht dar. Das Verbot der Auslieferung bei drohender Beurteilung durch Ausnahmegerichte beziehe sich vielmehr im wesentlichen auf Gerichte, die "post factum" (nach Begehung der Tat) eingesetzt würden und über Strafkompetenzen verfügten, die jene der ordentlichen Gerichte des ersuchenden Staates überstiegen.
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Die türkische Regierung hat in einem Anhang zum Auslieferungshaftbefehl Art. 138 des Grundgesetzes und Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 betreffend den Ausnahmezustand angeführt. Demnach sind die Militärgerichte von Verfassungs wegen auch zur Beurteilung von Zivilpersonen zuständig, denen vorgeworfen wird, bestimmte, im Gesetz genannte Straftaten begangen zu haben. Dazu gehören vor allem die Tötungsdelikte. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden, beim Militärgericht, vor dem sich der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung zu verantworten hätte, handle es sich um ein Ausnahmegericht im Sinne der bundesgerichtlichen Auslegung dieses Begriffs. Der Vorbehalt der ![]() ![]() | 12 |
Erwägung 5 | |
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Im Auslieferungsbegehren vom 12. März 1982 wird die Auslieferung Seners wegen Anstiftung und Beihilfe zu Tötung verlangt. Die entsprechenden Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches werden in deutscher Übersetzung beigefügt. Art. 450 StGB enthält verschiedene Tötungstatbestände und sieht die Todesstrafe vor. Gemäss Art. 65 StGB wird derjenige, der an der Begehung der Straftat teilgenommen hat, sei es "durch Anregung zur Begehung einer Straftat, durch Bestärkung des Entschlusses zur Begehung der Straftat, durch das Versprechen der Hilfeleistung und Unterstützung nach begangener Tat" (Ziff. 1), "durch Erteilung von Unterweisungen für die Begehung der Straftat oder durch Beschaffung tauglicher Arbeit und Mittel für ihre Begehung" (Ziff. 2) oder "durch Erleichterung der Ausführung durch Hilfeleistung und Unterstützung vor oder während der Begehung der Straftat" (Ziff. 3), mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren bestraft, wenn die begangene Tat mit Todesstrafe oder lebenslänglichem Zuchthaus bedroht ist; in den übrigen Fällen wird die gesetzlich festgesetzte Strafe um die Hälfte ermässigt. Gestützt auf diese Bestimmung hat die türkische Botschaft im Auslieferungsbegehren die Erklärung abgegeben, dass die Todesstrafe hier nicht in Betracht komme. Das Bundesgericht stellte mit Schreiben vom 13. September 1982 trotzdem nochmals die Frage, ob die strafbare Handlung, derentwegen um Auslieferung Seners ersucht werde, nicht mit der Todesstrafe bedroht sei und ob diese keinesfalls vollstreckt werde; ferner ersuchte es um die Zusicherung, dass die Todesstrafe auch dann nicht verhängt oder nicht vollzogen würde, wenn die Tat Seners im Laufe des Verfahrens anders gewürdigt werden sollte. In ihrer Antwortnote betont die türkische Regierung erneut, die Tat, derentwegen die Auslieferung verlangt werde, sei nach türkischem Recht nicht mit der Todesstrafe bedroht; wahrscheinlich habe Sener mit einer Strafe von zehn Jahren Zuchthaus zu rechnen. Zudem wird ausdrücklich erklärt, falls die Anschuldigung im Laufe ![]() ![]() | 14 |
Der Einsprecher weist in seiner Stellungnahme zur Antwortnote der Türkei darauf hin, dass für die Anstiftung zu Tötung nicht Art. 65 des türkischen StGB massgebend sei, der sich lediglich mit der Gehilfenschaft befasse. Zur Anwendung komme allein Art. 64 des türkischen StGB, der die Formen der Mittäterschaft und in Abs. 2 die Anstiftung behandle. Nach dieser Vorschrift drohe dem Anstifter wie dem Mörder selbst die Todesstrafe. Sener hält dafür, die türkischen Behörden hätten in Kenntnis der Tatsache, dass die Schweiz die Auslieferung bei drohender Todesstrafe verweigern würde, Art. 64 des Strafgesetzbuches verschwiegen und sich deshalb nur auf Art. 65 des Gesetzes berufen.
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Dieser Einwand ist jedoch nicht stichhaltig. Aus dem Wortlaut der Art. 64 und 65 des türkischen StGB, die dem Bundesgericht durch das Bundesamt für Polizeiwesen in einer französischen Übersetzung vorgelegt wurden, ergibt sich, dass ein Verhalten, welches in der Schweiz mit dem Ausdruck "Anstiftung" umschrieben ist, nach türkischem Recht entweder unter Art. 64 StGB ("instigation") oder aber unter Art. 65 StGB ("excitation") fallen kann. Es wäre indes sinnlos, aufgrund einer mehr oder weniger genauen Übersetzung eine Abgrenzung vornehmen zu wollen. Entscheidend ist, dass im Auslieferungsbegehren und im Anhang zum Haftbefehl ausdrücklich auf Art. 65 des türkischen Strafgesetzbuches verwiesen wird. Das bedeutet, dass der Einsprecher nicht wegen eines Verhaltens im Sinne des Art. 64 StGB angeklagt ist, welche Bestimmung die Todesstrafe vorsieht. Hinzu kommt, dass die türkische Regierung, wie erwähnt, in ihrer Antwortnote auf die schweizerische Rückfrage ausdrücklich bestätigt hat, dass nur Art. 65 StGB in Betracht gezogen werde und dass sich die türkischen Behörden an den Grundsatz der Spezialität halten würden. Unter diesen Umständen kommt eine Ablehnung der Auslieferung gestützt auf Art. 11 EAÜ nicht in Frage.
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Erwägung 6 | |
6.- Im weitern bringt der Einsprecher vor, die Auslieferung sei aufgrund von Art. 3 EAÜ zu verweigern. Er macht geltend, die Tötung von Redaktor Ipekçi sei eine politische Tat gewesen, und es drohe ihm, Sener, eine Benachteiligung aus politischen Gründen. ![]() ![]() | 17 |
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Als relativ politisches Delikt könnte die Tat dann gelten, wenn sie nach den Umständen, namentlich nach den Beweggründen und Zielen des Täters, einen vorwiegend politischen Charakter hätte. Ein solcher ist anzunehmen, wenn die strafbare Handlung im Rahmen eines Kampfes um die Macht im Staate ausgeführt oder wenn sie verübt wurde, um jemanden dem Zwang eines jede Opposition ausschliessenden Staates zu entziehen. Zwischen solchen Taten und den angestrebten Zielen muss eine enge, direkte und klare Beziehung bestehen. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Verletzung fremder Rechtsgüter in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten politischen Ziel steht und dass die im Spiele stehenden Interessen wichtig genug sind, um die Tat mindestens einigermassen verständlich erscheinen zu lassen. Bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt ist ein angemessenes Verhältnis zwischen Tat und Ziel nur gegeben, wenn die Handlung das einzige Mittel ist, um die auf dem Spiele stehenden elementaren Interessen zu ![]() ![]() | 19 |
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aa) Der Einsprecher macht geltend, er werde in der Türkei von Folterungen bedroht. Das Verbot der Folter ist nicht im EAÜ, wohl aber in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) enthalten. Gemäss Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Das Bundesgericht betrachtet diese Vorschrift und in gleicher Weise auch Art. 3 Ziff. 2 EAÜ als zwingende Regeln des Völkerrechts, die beim Entscheid über ein Auslieferungsbegehren zu beachten sind, unabhängig davon, ob die Schweiz mit dem ersuchenden Staat durch das EAÜ oder die EMRK, durch einen zweiseitigen Staatsvertrag oder überhaupt durch kein Abkommen verbunden ist (BGE 108 Ib 411; 106 Ib 304 f. E. 5; 101 Ia 541; 99 Ia 555 f.). Im vorliegenden Fall hat der ersuchende Staat ebenso wie die Schweiz sowohl das EAÜ als auch die EMRK unterzeichnet. Die Regierung der Türkei weist in ![]() ![]() | 21 |
bb) Das Bundesamt für Polizeiwesen hat zu der Behauptung des Einsprechers, er sei Kurde, bemerkt, es sei äusserst schwierig festzustellen, ob eine Person kurdischer Herkunft sei oder nicht; das einzige Merkmal sei, dass sie der kurdischen Sprache mächtig sei. Aufgrund der Feststellungen einer Übersetzerin, die in einem Protokoll der Bezirksanwaltschaft Zürich vom 16. Februar 1983 enthalten sind, spricht Mehmet Sener fliessend kurdisch. Es besteht daher kein Anlass, der Erklärung über seine kurdische Herkunft zu misstrauen. ![]() | 22 |
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Der Einsprecher ist Kurde. Er gehört zwar nach eigenen Angaben nicht einer Organisation an, die für eine Abspaltung der kurdischen Gebiete kämpft, sondern der rechtsstehenden Partei der nationalen Bewegung (MHP). Sener macht jedoch geltend, er habe sich für seine Landsleute eingesetzt. So habe er im Juni 1973 in Istanbul einen Verein kurdischer Studenten gegründet, in den folgenden Jahren jeweils ein Fest dieses Vereins organisiert und dabei kurdische Reden gehalten und Pressekonferenzen in kurdischer Sprache durchgeführt; der Verein sei unter dem Militärregime verboten worden. Ob diese Behauptungen zutreffen, kann dahingestellt bleiben. Nach den erwähnten Berichten, deren Zuverlässigkeit das Bundesgericht nicht im einzelnen nachprüfen kann, scheint bei der gegenwärtigen Situation der Kurden in der Türkei jemand bereits dann in eine gefährliche Lage zu geraten, ![]() ![]() | 24 |
Hinzu kommt, dass die Sener zur Last gelegte Tat (Anstiftung und Beihilfe zur Tötung des Redaktors Abdi Ipekçi) einen politischen Beweggrund hatte. Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines politischen Delikts im Sinne von Art. 3 Ziff. 1 EAÜ sind zwar, wie dargelegt, nicht gegeben. Es ist indessen unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Ziff. 2 EAÜ zu berücksichtigen, dass das Attentat gegen Ipekçi im Zusammenhang mit einer bestimmten politischen Situation stand. Ipekçi war damals Chefredaktor einer links ausgerichteten Zeitung, die nach den Angaben Seners "massiv gegen Nationalkonservative hetzte", zu denen der Einsprecher gehört. Da die einen rechtsextremen Charakter aufweisende Partei der nationalen Bewegung (MHP) in der Zeit vor der Machtübernahme durch das Militär aktiv an gewaltsamen Aktionen beteiligt war und nach Presseberichten ihr Führer unter dem Militärregime wegen subversiver Tätigkeit vor Gericht gezogen worden sein soll, erscheint die Annahme nicht als abwegig, dass die Lage Seners auch wegen seiner politischen Tätigkeit ernstlich erschwert sein kann.
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Zusammenfassend ergibt sich, dass in Anbetracht der erwähnten Umstände ernstliche Gründe zur Annahme bestehen, der Einsprecher wäre aus den genannten Gründen in einem türkischen Strafverfahren der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage ausgesetzt. Die Einsprache ist deshalb gutzuheissen und die Auslieferung Seners in Anwendung von Art. 3 Ziff. 2 EAÜ zu verweigern. ![]() | 26 |
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