BGE 98 Ia 14 | |||
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3. Auszug aus dem Urteil vom 22. März 1972 i.S. Rüegger gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau. | |
Regeste |
Entschädigung für die Untersuchungshaft. | |
Sachverhalt | |
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Am Sonntag, dem 2. November 1969, wurde in die Heftpflasterfabrik der Firma ISOPLAST AG in Brugg eingebrochen. An diesem Einbruch waren erwiesenermassen zwei Täter beteiligt. Der eine von ihnen, Arthur Nater, konnte am Tatort verhaftet werden, während der andere unerkannt entkam. Nater bezeichnete im Strafverfahren einen jungen Mann mit Vornamen Kurt ("Küde"), den er nicht näher kenne, als seinen Komplizen. Der Verdacht der Mittäterschaft richtete sich indessen von Anfang an gegen Roland Rüegger, der schon früher mit Nater zusammen Straftaten ausgeführt hatte.
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Das Bezirksgericht Brugg hielt die Mittäterschaft Rüeggers für erwiesen und verurteilte ihn und Nater am 3. März 1970 zu je einem Jahr Zuchthaus, wobei es Rüegger 93 Tage ausgestandener Untersuchungshaft auf die Strafe anrechnete.
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Rüegger legte gegen dieses Urteil Berufung ein, mit der er Freispruch sowie eine Entschädigung für die ausgestandene Untersuchungshaft verlangte. Das Obergericht des Kantons Aargau führte weitere Beweiserhebungen durch, die sich vor allem auf das Alibi Rüeggers bezogen. Die Mehrheit des Obergerichts kam zum Schluss, der Alibi-Beweis sei in genügender Weise geleistet, während eine Minderheit dies verneinte. Das Obergericht sprach daher Rüegger mit Urteil vom 8. Juli 1970 von der Anklage des qualifizierten Diebstahls frei, erklärte ihn in Übereinstimmung mit dem in diesem Punkte unangefochten gebliebenen bezirksgerichtlichen Urteil nur der fortgesetzten Widerhandlung gegen Art. 95 Ziff. 2 SVG schuldig und bestrafte ihn deswegen mit 20 Tagen Haft, die es als durch die ausgestandene Untersuchungshaft getilgt erklärte. Das Begehren um Entschädigung für die Untersuchungshaft wies es ab mit der Begründung, Rüegger habe durch widersprüchliche Angaben hinreichend Anlass gegeben, die Strafuntersuchung einzuleiten und die Haft anzuordnen.
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Erwägungen: | |
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Nach § 164 Abs. 3 der aargauischen Strafprozessordnung (StPO) entscheidet das Gericht über die Entschädigung des freigesprochenen Beklagten nach den Regeln, die bei der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gelten. Gemäss § 140 StPO ist dem Beschuldigten, gegen den das Verfahren eingestellt wird, auf Begehren eine Entschädigung für die Untersuchungshaft und andere Nachteile, die er erlitten hat, zu Lasten des Staates zu gewähren. Die Entschädigung kann verweigert werden, wenn der Beschuldigte das Verfahren durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verschuldet oder erschwert hat. Das entspricht dem allgemeinen Grundsatz, wonach ein Verhafteter eine Entschädigung nur dann beanspruchen kann, wenn er die Untersuchungshaft nicht schuldhaft durch eigenes Verhalten veranlasst oder verlängert hat (BGE 64 I 143/4, BGE 84 IV 48, nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 11. März 1959 i.S. Scherrer; WAIBLINGER, Komm. zur bernischen Strafprozessordnung N. 1 zu Art. 202, S. 299; CLERC, SJZ 46, 1950, S. 274).
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a) (Ausführungen darüber, dass das Obergericht ohne Willkür annehmen konnte, der Beschwerdeführer habe in wichtigen Punkten widersprüchliche, d.h. zum Teil unrichtige Angaben gemacht und damit nicht nur Anlass zur Verhaftung gegeben, sondern auch das Verfahren durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten verschuldet und erschwert.)
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b) Für den Entscheid darüber, ob eine Entschädigung für ausgestandene Untersuchungshaft gänzlich oder teilweise zu verweigern ist, wenn der Freigesprochene die Haft schuldhaft veranlasst oder verlängert hat, ist massgebend, wie weit der Verhaftete die Haft durch sein schuldhaftes Verhalten verursachte. Lenkte er beispielsweise die Untersuchungsbehörde durch eine Lüge auf eine falsche Fährte und dauerte es bloss einige Tage bis zur Aufdeckung dieser Lüge, so geht der Verhaftete nicht dieses Verhaltens wegen eines Entschädigungsanspruches völlig verlustig, wenn die Untersuchungshaft ein Jahr dauerte. Durch seine Schuld hat er die Haft nur um einige Tage verlängert, und nur für diese Zeit kann er keine Entschädigung fordern, weil er insoweit die Haft schuldhaft verlängert hat (vgl. nicht veröffentlichte Urteile des Bundesgerichts vom 11. März 1959 i.S. Scherrer und vom 14. Mai 1969 i.S. Alvarez; KEHL, ZStR 64, S. 383).
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Im vorliegenden Fall hatten die falschen Aussagen des Beschwerdeführers zur Folge, dass ein ausgedehntes und langwieriges Beweisverfahren durchgeführt werden musste. Vor allem waren verschiedene Personen abzuhören, welche sich zur Alibi-Frage zu äussern hatten. Nach dieser Richtung hin waren auch andere Beweiserhebungen vorzunehmen, die eine gewisse Zeit beanspruchten. Durch sein schuldhaftes Verhalten hat der Beschwerdeführer demnach die Untersuchungshaft nicht bloss in geringem, sondern in erheblichem Mass verlängert. Anderseits lässt sich aber die Annahme mit sachlichen Gründen nicht vertreten, die gesamte Untersuchungshaft von rund 7 Monaten sei durch das Verhalten des Beschwerdeführers verursacht worden. Die Behörden haben das Verfahren zwar in keiner Weise verzögert. Dass es von der Entdeckung der Tat (2. November 1969) bis zur Beurteilung des Straffalles durch das Obergericht (8. Juli 1970) rund 8 Monate dauerte und der Beschwerdeführer fast während dieser ganzen Zeit in Untersuchungshaft war, ist aber klarerweise nicht allein auf das schuldhafte Verhalten Rüeggers zurückzuführen, sondern hat seinen Grund offenbar auch darin, dass die Behörden stark belastet waren und die Gerichtsverhandlungen nicht sofort angesetzt werden konnten. Das sind Ursachen, für welche ein Verhafteter nicht einzustehen hat und die demnach einen völligen Ausschluss der Entschädigung nicht zu rechtfertigen vermögen. Die Untersuchung wurde am 12. Januar 1970 abgeschlossen, und in der Folge wurden, abgesehen von der Beweisaufnahme vor Gericht, nur noch wenige Beweiserhebungen durchgeführt. Die Anklageschrift datiert vom 16. Februar 1970. Der Beschwerdeführer wurde erst am 8. Juli 1970 aus der Untersuchungshaft entlassen.
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Freilich kann bei schuldhaftem Verhalten des Verhafteten nicht wegen jeder Verzögerung, die sich aus Gründen der Prozessführung ergibt, eine Entschädigung für ausgestandene Untersuchungshaft verlangt werden. Es kommt in entscheidendem Mass auf die Umstände des Einzelfalles an. Wenn ein ganz empfindlicher Nachteil in Frage steht, ist insoweit eine Entschädigung zuzusprechen, als die Dauer der Untersuchungshaft nicht bloss durch das schuldhafte Verhalten des Verhafteten, sondern in wesentlichem Mass durch andere Umstände verlängert wurde (WAIBLINGER, a.a.O., S. 300). Dass das hier zutrifft, ist offensichtlich, und die gegenteilige Annahme lässt sich sachlich nicht vertreten. Wäre im übrigen das bezirksgerichtliche Urteil rechtskräftig geworden, so wäre der Beschwerdeführer während 12 Monaten, bei gutem Verhalten in der Strafanstalt während 8 Monaten (Art. 38 Ziff. 1 StGB) seiner Freiheit beraubt gewesen, während er nach dem freisprechenden obergerichtlichen Urteil rund 7 Monate seiner Freiheit beraubt war, wobei freilich 20 Tage Untersuchungshaft auf die ausgesprochene Haftstrafe angerechnet wurden. Das liesse sich nur rechtfertigen, wenn die Dauer des Freiheitsentzuges zum grössten Teil auf das schuldhafte Verhalten des Beschwerdeführers zurückzuführen wäre, was nach dem Gesagten klarerweise nicht zutrifft. Das Bezirksgericht rechnete Rüegger in seinem Urteil die Untersuchungshaft von 93 Tagen auf die ausgesprochene Strafe an. Nach Art. 69 StGB rechnet der Richter dem Verurteilten die Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe an, so weit der Täter die Untersuchungshaft nicht durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt oder verlängert hat. Auch wenn die bezirksgerichtliche Beurteilung der Strafsache für das Obergericht nicht verbindlich war, bildet doch die Anrechnung der Untersuchungshaft durch das erstinstanzliche Gericht ein Indiz dafür, dass zumindest nicht die ganze Untersuchungshaft durch das schuldhafte Verhalten Rüeggers verursacht war. Es ist bei dieser Sachlage mit Art. 4 BV nicht vereinbar, dass das Obergericht dem freigesprochenen Beschwerdeführer überhaupt keine Entschädigung für die ausgestandene Untersuchungshaft zusprach.
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c) Es lässt sich allerdings mit Fug die Ansicht vertreten, auch nach dem freisprechenden Urteil des Obergerichts laste auf dem Beschwerdeführer weiterhin ein erheblicher Verdacht, dass er an dem fraglichen Einbruch beteiligt gewesen sei. Wenn ein Angeklagter nur nach dem Grundsatz "im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten" freigesprochen wird und der Eindruck besteht, es sei ihm durch Lügen und Bestreiten gelungen, der Strafe zu entgehen, mag es wenig befriedigend scheinen, dass der Staat dem Freigesprochenen noch eine Entschädigung leisten soll.
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Einzelne kantonale Gesetze sehen vor, dass der unschuldig Verurteilte oder ungerechtfertigt Verhaftete unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Entschädigung hat. Andere Gesetze anerkennen keinen solchen Anspruch, sondern stellen es in das freie Ermessen der Behörde, im Sinne eines Gnadenakts nach Billigkeit eine Entschädigung zuzusprechen oder nicht (PFENNINGER, Probleme des schweizerischen Strafprozessrechts, S. 378 ff.; FISCHLI, ZSR 79, 1960, S. 280a ff.; RIGHETTI, ebenda, S. 467a ff.; CLERC, SJZ 46, 1950, S. 270). Die kantonalen Gesetze, welche dem Freigesprochenen keinen Anspruch zuerkennen und den Entscheid, ob eine Entschädigung zuzusprechen sei, völlig in das Ermessen der Behörde stellen, geben dieser offenbar auch die Möglichkeit, eine Entschädigung zu verweigern, wenn nach dem Freispruch ein Verdacht bestehen bleibt. Die Gesetze dagegen, die dem Freigesprochenen unter bestimmten Voraussetzungen einen Entschädigungsanspruch einräumen, nehmen es in Kauf, dass eine Entschädigung auch demjenigen ausgerichtet wird, der trotz dem auf Grund des Zweifels ergangenen Freispruch unter erheblichem Verdacht bleibt. Diese Ordnung lässt sich aus der Überlegung rechtfertigen, dass man in gewissem Mass zu den Verdachtsurteilen früherer Zeiten zurückkehren würde, wenn der im Zweifel Freigesprochene nicht gleich behandelt würde wie derjenige, dessen Unschuld sich klar erwiesen hat. Praktisch läuft es auf eine Verdachtsstrafe hinaus, wenn dem Freigesprochenen eine Entschädigung auch für jene Untersuchungshaft verweigert wird, die er nicht schuldhaft veranlasst oder verlängert hat.
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Es ist nicht zweifelhaft, dass die aargauische StPO dem Freigesprochenen unter den bereits genannten Voraussetzungen einen Entschädigungsanspruch einräumt. Die Frage, ob einer Person, die in eine Untersuchung gezogen wurde, eine Entschädigung gebührt, entscheidet sich demnach nach aargauischem Recht nicht nach Billigkeitsüberlegungen; vielmehr steht dem Betroffenen ein Rechtsanspruch zu (BRÜHLMEIER, Aargauische Strafprozessordnung, N. 1 zu § 140 Abs. 1 S. 122). Da der Unschuldsbeweis nicht zu den Voraussetzungen gehört, von denen die Zusprechung einer Entschädigung abhängig ist, kommt es demnach nicht darauf an, dass der Beschwerdeführer nur nach dem Grundsatz "im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten" freigesprochen wurde.
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Diese Erwägungen führen zum Schluss, dass die Beschwerde in diesem Punkt teilweise gutzuheissen ist. Das Obergericht wird zu prüfen haben, in welchem Mass die Untersuchungshaft nicht durch das Verhalten des Beschwerdeführers verschuldet war, wobei es durchaus in Rechnung stellen darf, dass infolge der widersprüchlichen, teilweise unrichtigen Aussagen Rüeggers recht zeitraubende Erhebungen nötig wurden und dass die ausgesprochene Haftstrafe von 20 Tagen als durch die ausgestandene Untersuchungshaft getilgt erklärt wurde.
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