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3. Auszug aus dem Urteil vom 22. März 1972 i.S. Rüegger gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau. | |
Regeste |
Entschädigung für die Untersuchungshaft. | |
Sachverhalt | |
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Am Sonntag, dem 2. November 1969, wurde in die Heftpflasterfabrik der Firma ISOPLAST AG in Brugg eingebrochen. An diesem Einbruch waren erwiesenermassen zwei Täter beteiligt. Der eine von ihnen, Arthur Nater, konnte am Tatort verhaftet werden, während der andere unerkannt entkam. Nater bezeichnete im Strafverfahren einen jungen Mann mit Vornamen Kurt ("Küde"), den er nicht näher kenne, als seinen Komplizen. Der Verdacht der Mittäterschaft richtete sich indessen von Anfang an gegen Roland Rüegger, der schon früher mit Nater zusammen Straftaten ausgeführt hatte.
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Das Bezirksgericht Brugg hielt die Mittäterschaft Rüeggers für erwiesen und verurteilte ihn und Nater am 3. März 1970 zu je einem Jahr Zuchthaus, wobei es Rüegger 93 Tage ausgestandener Untersuchungshaft auf die Strafe anrechnete.
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Rüegger legte gegen dieses Urteil Berufung ein, mit der er Freispruch sowie eine Entschädigung für die ausgestandene Untersuchungshaft verlangte. Das Obergericht des Kantons Aargau führte weitere Beweiserhebungen durch, die sich vor allem auf das Alibi Rüeggers bezogen. Die Mehrheit des Obergerichts kam zum Schluss, der Alibi-Beweis sei in genügender Weise geleistet, während eine Minderheit dies verneinte. Das Obergericht sprach daher Rüegger mit Urteil vom 8. Juli 1970 von der Anklage des qualifizierten Diebstahls frei, erklärte ihn in Übereinstimmung mit dem in diesem Punkte unangefochten gebliebenen bezirksgerichtlichen Urteil nur der fortgesetzten Widerhandlung gegen Art. 95 Ziff. 2 SVG schuldig und bestrafte ihn deswegen mit 20 Tagen Haft, die es als durch die ausgestandene Untersuchungshaft getilgt erklärte. Das Begehren um Entschädigung für die Untersuchungshaft wies es ab mit der Begründung, Rüegger habe durch widersprüchliche Angaben hinreichend Anlass gegeben, die Strafuntersuchung einzuleiten und die Haft anzuordnen.
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Erwägungen: | |
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Nach § 164 Abs. 3 der aargauischen Strafprozessordnung (StPO) entscheidet das Gericht über die Entschädigung des freigesprochenen Beklagten nach den Regeln, die bei der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gelten. Gemäss § 140 StPO ist dem Beschuldigten, gegen den das Verfahren eingestellt wird, auf Begehren eine Entschädigung für die Untersuchungshaft und andere Nachteile, die er erlitten hat, zu Lasten des Staates zu gewähren. Die Entschädigung kann verweigert werden, wenn der Beschuldigte das Verfahren durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verschuldet oder erschwert hat. Das entspricht dem allgemeinen Grundsatz, wonach ein Verhafteter eine Entschädigung nur dann beanspruchen kann, wenn er die Untersuchungshaft nicht schuldhaft durch eigenes Verhalten veranlasst oder verlängert hat (BGE 64 I 143/4, BGE 84 IV 48, nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 11. März 1959 i.S. Scherrer; WAIBLINGER, Komm. zur bernischen Strafprozessordnung N. 1 zu Art. 202, S. 299; CLERC, SJZ 46, 1950, S. 274).
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a) (Ausführungen darüber, dass das Obergericht ohne Willkür annehmen konnte, der Beschwerdeführer habe in wichtigen Punkten widersprüchliche, d.h. zum Teil unrichtige Angaben gemacht und damit nicht nur Anlass zur Verhaftung gegeben, sondern auch das Verfahren durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten verschuldet und erschwert.)
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b) Für den Entscheid darüber, ob eine Entschädigung für ausgestandene Untersuchungshaft gänzlich oder teilweise zu verweigern ist, wenn der Freigesprochene die Haft schuldhaft veranlasst oder verlängert hat, ist massgebend, wie weit der Verhaftete die Haft durch sein schuldhaftes Verhalten verursachte. Lenkte er beispielsweise die Untersuchungsbehörde durch eine Lüge auf eine falsche Fährte und dauerte es bloss einige Tage bis zur Aufdeckung dieser Lüge, so geht der Verhaftete nicht dieses Verhaltens wegen eines Entschädigungsanspruches ![]() | 9 |
Im vorliegenden Fall hatten die falschen Aussagen des Beschwerdeführers zur Folge, dass ein ausgedehntes und langwieriges Beweisverfahren durchgeführt werden musste. Vor allem waren verschiedene Personen abzuhören, welche sich zur Alibi-Frage zu äussern hatten. Nach dieser Richtung hin waren auch andere Beweiserhebungen vorzunehmen, die eine gewisse Zeit beanspruchten. Durch sein schuldhaftes Verhalten hat der Beschwerdeführer demnach die Untersuchungshaft nicht bloss in geringem, sondern in erheblichem Mass verlängert. Anderseits lässt sich aber die Annahme mit sachlichen Gründen nicht vertreten, die gesamte Untersuchungshaft von rund 7 Monaten sei durch das Verhalten des Beschwerdeführers verursacht worden. Die Behörden haben das Verfahren zwar in keiner Weise verzögert. Dass es von der Entdeckung der Tat (2. November 1969) bis zur Beurteilung des Straffalles durch das Obergericht (8. Juli 1970) rund 8 Monate dauerte und der Beschwerdeführer fast während dieser ganzen Zeit in Untersuchungshaft war, ist aber klarerweise nicht allein auf das schuldhafte Verhalten Rüeggers zurückzuführen, sondern hat seinen Grund offenbar auch darin, dass die Behörden stark belastet waren und die Gerichtsverhandlungen nicht sofort angesetzt werden konnten. Das sind Ursachen, für welche ein Verhafteter nicht einzustehen hat und die demnach einen völligen Ausschluss der Entschädigung nicht zu rechtfertigen vermögen. Die Untersuchung wurde am 12. Januar 1970 abgeschlossen, und in der Folge wurden, abgesehen von der Beweisaufnahme vor Gericht, nur noch wenige Beweiserhebungen durchgeführt. Die Anklageschrift datiert vom 16. Februar 1970. Der Beschwerdeführer wurde erst am 8. Juli 1970 aus der Untersuchungshaft entlassen.
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Freilich kann bei schuldhaftem Verhalten des Verhafteten nicht wegen jeder Verzögerung, die sich aus Gründen der Prozessführung ergibt, eine Entschädigung für ausgestandene Untersuchungshaft verlangt werden. Es kommt in entscheidendem Mass auf die Umstände des Einzelfalles an. Wenn ein ganz ![]() | 11 |
c) Es lässt sich allerdings mit Fug die Ansicht vertreten, auch nach dem freisprechenden Urteil des Obergerichts laste auf dem Beschwerdeführer weiterhin ein erheblicher Verdacht, dass er an dem fraglichen Einbruch beteiligt gewesen sei. Wenn ein Angeklagter nur nach dem Grundsatz "im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten" freigesprochen wird und der Eindruck besteht, es sei ihm durch Lügen und Bestreiten gelungen, der Strafe zu entgehen, mag es wenig befriedigend scheinen, dass der Staat dem Freigesprochenen noch eine Entschädigung leisten soll.
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Es ist nicht zweifelhaft, dass die aargauische StPO dem Freigesprochenen unter den bereits genannten Voraussetzungen einen Entschädigungsanspruch einräumt. Die Frage, ob einer Person, die in eine Untersuchung gezogen wurde, eine Entschädigung gebührt, entscheidet sich demnach nach aargauischem Recht nicht nach Billigkeitsüberlegungen; vielmehr steht dem Betroffenen ein Rechtsanspruch zu (BRÜHLMEIER, Aargauische Strafprozessordnung, N. 1 zu § 140 Abs. 1 S. 122). Da der Unschuldsbeweis nicht zu den Voraussetzungen gehört, von denen die Zusprechung einer Entschädigung abhängig ist, kommt es demnach nicht darauf an, dass der Beschwerdeführer nur nach dem Grundsatz "im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten" freigesprochen wurde.
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Diese Erwägungen führen zum Schluss, dass die Beschwerde ![]() | 15 |
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