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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
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38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes als staatsrechtlicher Kammer vom 15. Juni 1972 i.S. Arn gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 4 BV: Materielle Rechtsverweigerung. |
Art. 4 BV: Formelle Rechtsverweigerung. |
Abstellen auf ein nicht unterschriebenes polizeiliches Einvernahmeprotokoll ist keine formelle Rechtsverweigerung, wenn dessen Inhalt nie bestritten und daneben noch anderes belastendes Material berücksichtigt wurde (Erw. 1 b-d). | |
Sachverhalt | |
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B.- Der Gerichtspräsident VII von Bern verurteilte Anna Schaller wegen Diebstahl zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zehn Tagen, Arn wegen Gehilfenschaft zu Diebstahl und falscher Namensangabe zu drei Wochen Gefängnis unbedingt und zu einer Busse von 30 Franken.
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Arn appellierte gegen das erstinstanzliche Urteil an das Obergericht, zog aber die Berufung in bezug auf den Schuldspruch wegen falscher Namensangabe wieder zurück. Der Generalprokurator schloss sich der Appellation an.
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Die I. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern bestätigte am 12. August 1971 die Verurteilung Arns wegen Gehilfenschaft zu Diebstahl. Hiefür und für die falsche Namensangabe wurde er zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von zwei Monaten und zu einer Busse von 30 Franken verurteilt.
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C.- Arn erhebt hiegegen eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde. Mit der letzteren beantragt er, das Urteil wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben, während die Vorinstanz und der Generalprokurator Antrag auf Abweisung der Beschwerde stellen.
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Der Kassationshof wies die staatsrechtliche Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer wegen Gehilfenschaft zu Diebstahl verurteilt. Trotz seiner Bestreitung nahm sie an, er habe beim Verlassen des Ladens gewusst, dass sich in der Plastiktasche zwei von seiner Freundin gestohlene Kleider befanden. Die Beschwerde rügt diese Annahme als ![]() | 7 |
a) Es trifft zu, dass der Beschwerdeführer sich weigerte, bei der Polizei das Protokoll seiner ersten Einvernahme und das Nachtragsprotokoll dazu zu unterschreiben. Die Vorinstanz misst diesem Umstand keine besondere Bedeutung bei, da er leicht mit der forensischen Erfahrung des vielfach vorbestraften Angeschuldigten zu erklären sei. Der Beschwerdeführer hält diese Erklärung für widersinnig und daher für willkürlich. Ein forensisch Erfahrener hätte nicht die Unterschrift, sondern die Aussage verweigert, zumal er sich einer polizeilichen Befragung gar nicht hätte unterziehen müssen.
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An sich kann jeder Verdächtige die Aussage verweigern, sei es vor der Polizei oder vor einer gerichtlichen Instanz (vgl. Art. 79 ff. BStP; Art. 140 ff., bes. 141 Ziff. 2 BeStV). Das hat Arn nicht getan. Der Beschwerdeführer hat lediglich die Unterschrift verweigert, ohne jemals zu behaupten, das Protokoll gebe nicht seine Aussage wieder. Dieses Verhalten erklärt sich leicht durch die Überlegung, dass er zunächst eine Bestreitung des Diebstahls selbst für aussichtslos hielt und darum seine Beteiligung zugab, am Ende der Einvernahme aber neue Hoffnung schöpfte, mit einer Bestreitung durchzukommen und gestützt auf seine forensische Erfahrung in vielen Strafprozessen annahm, dass ihm dies gegenüber einem nicht unterzeichneten Polizeiprotokoll leichter gelingen könnte. Die Überlegung der Vorinstanz ist durchaus einleuchtend und jedenfalls nicht willkürlich.
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b) Mit Fug hat die Vorinstanz den Umstand hervorgehoben, dass der Angeklagte das Polizeiprotokoll "nie ausdrücklich" bestritten hat. Der Hinweis der Beschwerde auf die Offizialmaxime des bernischen Strafprozessrechts ändert nichts daran. Gewiss ist es Sache der Anklage, belastende Tatsachen zu beweisen und nicht Sache des Angeklagten, seine Unschuld darzutun oder auch nur ausdrücklich Vorwürfe zu bestreiten. Hier geht es aber nicht um seine Mitwirkung am Diebstahl, sondern um das Zustandekommen und die Bedeutung des Einvernahmeprotokolls und um die Begründung des Angeschuldigten für die an sich unbestrittene Verweigerung der Unterschrift. Tatsächlich haben weder der Angeschuldigte noch sein Verteidiger in irgend einer Phase des kantonalen Verfahrens ![]() | 10 |
c) Eine willkürliche Verletzung bernischen Prozessrechts erblickt die Beschwerde in dem Umstand, dass die Vorinstanz entscheidend auf ein Polizeiprotokoll abstellte, obwohl Art. 91/92 des bernischen Strafverfahrens (BeStV) vorschreibe, dass die Abhörung durch den Untersuchungsrichter unter Beizug eines beeidigten Aktuars vorzunehmen sei.
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Die für die Einvernahme von Zeugen und Beschuldigten aufgestellten Formvorschriften dienen der Rechtssicherheit, insbesondere dem Schutz des Beschuldigten gegen unzulässige Einvernahmemethoden (Suggestivfragen, Drohung, Schläge, Beugehaft etc.) und gegenüber ungenauer Wiedergabe von Aussagen in Protokollen, deren Verfasser keine genügende Gewähr für qualifizierte und unvoreingenommene Befragung und Niederschrift gewähren. Protokollen, die diesen Voraussetzungen nicht genügen, kommt daher nicht der Charakter rechtsgültiger Einvernahmeprotokolle zu. Das gilt auch im bernischen Verfahrensrecht für blosse Polizeirapporte und für Protokolle über polizeiliche Einvernahmen. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass solchen Aktenstücken keine Bedeutung zukomme, wie der Beschwerdeführer anzunehmen scheint. Nach Art. 249 BStP wie auch nach Art. 254 BeStV würdigt der Richter die Beweise frei. Weder muss er auf ein ordnungsgemäss erstelltes Einvernahmeprotokoll abstellen und deshalb zum Beispiel gestützt auf ein Geständnis oder auf die Einvernahme von zwei Zeugen hin verurteilen, noch ist es ihm versagt, auf Aussagen des Beschuldigten oder von Zeugen gegenüber der Polizei oder Dritten abzustellen, soweit sie glaubwürdig erscheinen und der Richter dabei sein pflichtgemässes Ermessen nicht überschreitet. Die vom Generalprokurator in der Beschwerdeantwort vertretene Auffassung, die Verweigerung der Unterschrift bei einem Einvernahmeprotokoll sei überhaupt bedeutungslos für dessen Beweiskraft, geht allerdings zu weit. Der Richter wird eine protokollierte aber nicht unterzeichnete oder nicht gegenüber der zuständigen Behörde abgegebene Aussage besonders kritisch würdigen und allen Einwänden, die für die Verweigerung der Unterschrift oder sonstwie gegen die Gültigkeit des ![]() | 12 |
Wie bereits erwähnt, hat der Angeklagte in keinem Stadium des kantonalen Verfahrens das Vorgehen der Polizei oder auch nur den Inhalt des Polizeiprotokolls beanstandet oder seine Unterschriftsverweigerung begründet. Er hat auch nichts zur Begründung des späteren Widerrufs seines ersten Zugeständnisses vorgebracht. Die Vorinstanz hat trotzdem von Amtes wegen geprüft, aus welchen Gründen der Angeschuldigte die Unterzeichnung des Protokolls verweigert haben könnte. Sie ist mit der bereits erörterten einleuchtenden Begründung zum Schluss gelangt, dass der Verweigerung keine Bedeutung zukommt.
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Die Vorinstanz hat jedoch nirgends behauptet, das Polizeiprotokoll sei einem vom Untersuchungsrichter in Gegenwart des Aktuars errichteten Einvernahmeprotokoll gleichzustellen. Von einer willkürlichen Anwendung der Art. 91/92 BeStV kann daher keine Rede sein.
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d) Der Beschwerdeführer rügt als willkürliche Verletzung des bernischen Strafverfahrens ebenfalls den Umstand, dass die Vorinstanz für die Verurteilung Arns "vor allem" auf dieses nicht unterschriebene Polizeiprotokoll abgestellt habe. Damit werde die Minimalgarantie, die Art. 91 BeStV dem unter dem Inquisitionsprinzip ohnehin schon jeder Verteidigungsrechte beraubten Angeschuldigten gibt, vollständig aus den Angeln gehoben.
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Dem ist nicht so. Zunächst muss festgehalten werden, dass es im angefochtenen Entscheid heisst, "allem voran" spreche die Erklärung Arns vor der Polizei für seine Schuld. Das kann als Gewichtung gemeint sein, eher aber bezieht sich diese Ausdrucksweise, die mit der von Arn zitierten nicht identisch ist, auf den zeitlichen und verfahrensmässigen Ablauf des Falles. Selbst wenn man nach der Ansicht des Beschwerdeführers das Urteil dahin auslegt, dass das Obergericht jenem Geständnis das Hauptgewicht beigemessen habe, ist festzustellen, dass es sich bei weitem nicht damit begnügt hat. Es zählt vielmehr noch andere gewichtige Indizien für die Richtigkeit der ersten Darstellung ![]() | 16 |
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