VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 99 Ia 22  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
4. Urteil vom 28. März 1973 i.S. Prof. Dr. X.
 
 
Regeste
 
Art. 4 BV; rechtliches Gehör im Disziplinarverfahren.  
 
Sachverhalt
 
BGE 99 Ia, 22 (22)A.- Prof. Dr. med. X. wurde 1968 zum Chefarzt der Ohren-Nasen-Hals-Abteilung eines Kantonsspitals gewählt und nahm seine Tätigkeit am 1. September 1968 auf.
1
Im Juni 1971 beschloss der Regierungsrat des betreffenden Kantons, gegen Prof. X. ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Es wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt. Die Vorwürfe, die Prof. X. in diesem Verfahren gemacht wurden, bezogen sich zum Teil auf seine medizinische Tätigkeit, indem behauptet wurde, er habe in einzelnen Fällen Patienten unrichtig behandelt. Das Verfahren ist noch hängig. Prof. X. hatte Gelegenheit, sich zu den Vorhalten zu äussern.
2
B.- Am 24. September 1972 trat der 1932 geborene H. F. als Privatpatient des Prof. X. in die Ohren-Nasen-Hals-Abteilung des Kantonsspitals ein. Die Diagnose lautete auf "chronische Nebenhöhlenentzündung beidseits". Prof. X. nahm am 25. September eine Kieferhöhlen-Operation beidseits vor, die in Vollnarkose durchgeführt wurde. Im Verlauf der Operation BGE 99 Ia, 22 (23)stellte sich eine starke Blutung ein. Gegen Ende der Operation starb der Patient. Der Kantonsarzt verlangte von Prof. X. einen Bericht über die Operation, und am 3. November wurde Prof. Dr. med. Y, Spezialarzt für Ohren-, Nasen- und Hals-Krankheiten in Z., beauftragt, ein Gutachten über die Operation zu erstatten. Dieses traf am 21. November 1972 beim Personalamt des Kantons ein. Der Experte führte darin abschliessend aus: "Unter den vorliegenden Umständen muss die bei einem Blutdruck von 65/35 mm Hg vorgenommene beidseitige Conchotomie als schwerer Kunstfehler bezeichnet werden, der den Tod des Patienten mitverursacht hat."
3
Am 22. November 1972, am Tag nach dem Eintreffen des Gutachtens, beschloss der Regierungsrat gestützt auf das kantonale Verantwortlichkeitsgesetz, Prof. X. mit sofortiger Wirkung in seinem Amt als Chefarzt mit Gehaltsentzug vorläufig einzustellen. Es wurde ihm damit untersagt, am Kantonsspital auf medizinischem Gebiet in irgendeiner Weise weiterhin tätig zu sein. Ferner beschloss der Regierungsrat, das Vorkommnis, welches Anlass zur vorläufigen Amtseinstellung gab, in das Disziplinarverfahren mit einzubeziehen.
4
C.- Gegen den Entscheid des Regierungsrats vom 22. November 1972 hat Prof. X. gestützt auf Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde eingereicht.
5
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Prof. X. beschwert sich einzig über eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs. Er macht geltend, er habe vom Gutachten des Prof. Y. keine Kenntnis erhalten und sich gegen den darin enthaltenen Vorwurf des Kunstfehlers nicht verteidigen können. Wenn ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden wäre, wäre ihm der Nachweis leicht gefallen, dass er für den Tod des Patienten H. F. in keiner Weise verantwortlich sei. Er führt sodann aus, auf welche Weise er diesen Beweis hätte erbringen können.
6
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zunächst grundsätzlich durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Wo sich dieser Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten.
7
BGE 99 Ia, 22 (24)Ob der bundesrechtliche Gehörsanspruch verletzt ist, prüft das Bundesgericht frei (BGE 98 Ia 6, 76 und 131).
8
b) Das Disziplinarrecht, wie es unter anderem für die Chefärzte des Kantonsspitals gilt, ist im kantonalen Verantwortlichkeitsgesetz geordnet. Nach diesem kann die zuständige Disziplinarbehörde die vorläufige Amtseinstellung mit Gehaltsentzug anordnen. Das Verantwortlichkeitsgesetz enthält ausführliche Vorschriften, die die Verteidigungsrechte des Beschuldigten sichern. Ein Disziplinarentscheid darf nur getroffen werden, wenn dem Beschuldigten vorher Gelegenheit gegeben wurde, sich zum Sachverhalt und zur Schuldfrage zu äussern. Es muss ihm Einsicht in die Akten und Gelegenheit gegeben werden, eine Ergänzung der Untersuchung zu beantragen. Damit ist aber nur gesagt, dass dem Beschuldigten diese Verteidigungsrechte einzuräumen sind, bevor ein Disziplinarentscheid getroffen wird. Prof. X. ist nicht disziplinarisch bestraft worden. Er wurde vorläufig im Amt eingestellt. Das Verantwortlichkeitsgesetz schreibt nicht vor, dass der Beamte vor der vorläufigen Amtseinstellung Gelegenheit erhalten müsse, sich zu den Vorwürfen zu äussern, die zu einer solchen provisorischen Massnahme Anlass geben. Der Beschwerdeführer behauptet denn auch nicht, dass der Regierungsrat kantonale Verfahrensvorschriften verletzt hätte, die sich auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs beziehen.
9
c) Es kann demnach nur fraglich sein, ob die kantonale Behörde unmittelbar aus Art. 4 BV fliessende Verfahrensregeln verletzt hat, indem sie Prof. X. vorläufig im Amt einstellte, ohne ihm vorher Gelegenheit zu geben, zu dem Gutachten von Prof. Y. Stellung zu nehmen und Entlastungsbeweise zu beantragen.
10
Die vorläufige Einstellung im Amt, die es Prof. X. verunmöglicht, seine bisherige Tätigkeit am Kantonsspital weiterzuführen, stellt einen empfindlichen Eingriff in die Rechtssphäre des Beschwerdeführers dar, auch wenn die Massnahme nur provisorischen Charakter hat. Bei einem so bedeutenden Eingriff muss dem Betroffenen grundsätzlich vorher Akteneinsicht und die Gelegenheit gewährt werden, sich zu den erhobenen Vorwürfen zu äussern. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann indessen die zeitliche Dringlichkeit der zu treffenden Massnahme das Recht des Betroffenen, sich vor deren Erlass zu äussern, ausschliessen (BGE 74 I 248/9, BGE 87 I 155, BGE 99 Ia, 22 (25)98 Ia 8 lit. c; vgl. IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. A, II, S. 615). Wenn das öffentliche Interesse dringend eine sofortige Verfügung verlangt, ist die Behörde befugt, sie ohne Anhörung der betroffenen Person zu treffen (TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83, 1964, II, S. 380 ff; vgl. LEVI, in: Rechtsprobleme der Stadtgemeinden, S. 229).
11
Es ist ausser Zweifel, dass der Regierungsrat die sofortige vorläufige Amtseinstellung für dringend hielt, hat er doch die angefochtene Massnahme bereits am Tag nach dem Eintreffen des Gutachtens von Prof. Y. getroffen. Die Auffassung des Regierungsrates, die sofortige vorläufige Amtseinstellung sei im öffentlichen Interesse geboten, lässt sich mit guten Gründen vertreten. Es steht zwar dahin, ob das Gutachten schlüssig ist. Bei vorläufiger Prüfung, wie sie die kantonale Behörde vorzunehmen hatte, konnte diese indessen davon ausgehen, der Beschwerdeführer habe möglicherweise durch einen Kunstfehler den Tod eines Patienten mitverursacht. Der beigezogene Experte ist Fachmann auf dem Gebiet der Ohren-Nasen-Hals-Krankheiten, und der Regierungsrat hatte keinen sichtbaren Grund, von vornherein an der Zuverlässigkeit des Gutachtens zu zweifeln. Nachdem schon im frühern Stadium des Disziplinarverfahrens, zum Teil von Ärzten, behauptet worden war, Prof. X. habe Patienten unrichtig behandelt, und nachdem der Experte in einem neuen Fall einen Kunstfehler festgestellt hatte, konnte der Regierungsrat mit Fug annehmen, es sei nicht mehr zu verantworten, Prof. X. weiterhin als Chefarzt amten zu lassen, bevor die fraglichen Fälle abgeklärt seien, und es dränge sich daher die unverzügliche vorläufige Einstellung im Amte auf. Wäre, was immerhin im Bereich des Möglichen lag, bei Fortführung der Chefarzttätigkeit des Beschwerdeführers von ihm ein Patient unrichtig behandelt worden, hätte sich der Regierungsrat den Vorwurf machen lassen müssen, er habe von den von einzelnen Personen, zum Teil Ärzten, erhobenen Vorwürfen und von der Expertise des Prof. Y. Kenntnis gehabt, ohne dass er eingeschritten sei.
12
Steht das Wohl der Patienten und das Vertrauen der Bevölkerung in die ärztliche Betreuung in einem Kantonsspital auf dem Spiel, so erheischt das öffentliche Interesse in Fällen wie dem zu beurteilenden rasches Handeln der staatlichen Aufsichtsbehörde. Der Regierungsrat hatte das öffentliche Interesse an der vorläufigen Amtseinstellung eines Chefarztes, dessen BGE 99 Ia, 22 (26)medizinische Tätigkeit nach dem bisherigen Ergebnis der Untersuchung zu schweren Bedenken Anlass geben konnte, gegenüber dem privaten Interesse des Beschwerdeführers an der Gewährung des rechtlichen Gehörs gegeneinander abzuwägen. Er durfte mit Rücksicht auf die bedeutenden Interessen der Patienten und des Spitals füglich der Meinung sein, das Moment der Dringlichkeit der Massnahme habe den Vorrang, weshalb davon abzusehen sei, dem Beschwerdeführer vor der Anordnung der vorläufigen Einstellung im Amt Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Bei dieser Sachlage kann der kantonalen Behörde keine Verletzung des sich aus Art. 4 BV ergebenden Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Last gelegt werden.
13
d) Es versteht sich, dass Prof. X. im weitern Verlauf des Disziplinarverfahrens Gelegenheit erhalten muss, zu dem Gutachten des Prof. Y. Stellung zu nehmen und Entlastungsbeweise zu beantragen. Die kantonale Behörde hat das Verfahren mit tunlicher Beschleunigung durchzuführen, damit die vorläufige Amtseinstellung rückgängig gemacht werden kann, falls sich die erhobenen Vorwürfe als haltlos erweisen sollten.
14
Demnach erkennt das Bundesgericht:
15
Die Beschwerde wird abgewiesen.
16
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).