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5. Urteil vom 28. Februar 1973 i.S. Baudraz gegen Baudraz und Appellationshof des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 4 BV (Willkür, Rechtsverweigerung); kant. Prozessrecht. | |
Sachverhalt | |
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Am 26. Juni 1972 reichte Fredy Baudraz, nun vertreten durch Fürsprecher Dr. X., Bern, beim Amtsgericht ein Gesuch um Wiedereinsetzung und beim Appellationshof des Kantons Bern eine Beschwerde gegen das Amtsgericht wegen Amtspflichtverletzung ein. Gleichzeitig erklärte er "vorsorglicherweise" die Appellation gegen das Scheidungsurteil. - Die Beschwerde wurde am 4. Juli 1972 und das Wiedereinsetzungsgesuch am 31. Oktober 1972 abgewiesen.
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Am Montag, dem 17. Juli 1972 (Datum des Poststempels), erhob Fredy Baudraz gegen das Scheidungsurteil auch noch Nichtigkeitsklage gemäss Art. 359 Ziffer 2 ZPO/BE (Rüge der nicht gesetzlichen Vorladung zum Urteilstermin), um - wie er mit Hinweis auf die bereits eingereichte Appellation und das Wiedereinsetzungsgesuch erklärte - "alle in Frage kommenden prozessualen Massnahmen getroffen zu haben".
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B.- Mit Entscheid vom 25. September 1972 trat der Appellationshof des Kantons Bern auf die Nichtigkeitsklage nicht ein. Er erklärte, das Rechtsmittel sei verspätet eingelegt worden und zudem stehe der Nichtigkeitsklage Art. 337 ZPO entgegen. Dieser lautet:
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"Solange die Appellation offen steht, ist die Einlegung eines andern Rechtsmittels ausgeschlossen."
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Da der Nichtigkeitskläger seine Appellation aufrechterhalte, sei für das Rechtsmittel der Nichtigkeitsklage kein Platz.
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C.- Gegen diesen Nichteintretensentscheid vom 25. September 1972 hat Baudraz staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 72 KV erhoben.
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Die Beschwerdegegnerin und der Appellationshof beantragen Abweisung der Beschwerde. Beide anerkennen zwar, dass der Beschwerdeführer die Nichtigkeitsklage fristgerecht eingereicht habe und dass insofern der angefochtene Entscheid auf einem Irrtum beruhe. Sie machen aber geltend, der zweite Nichteintretensgrund (Ausschluss der Nichtigkeitsklage wegen offenstehender ![]() | 8 |
D.- Mit Entscheid vom 29. Dezember 1972/13. Januar 1973 trat der Appellationshof des Kantons Bern auf die Appellation nicht ein. Die Begründung lautete, die Appellation sei verspätet, da sie sich gegen ein Säumnisurteil richte und daher nicht die ordentliche lotägige, sondern nur die 5tägige Appellationsfrist gelte.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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b) Der angefochtene Entscheid ist ein letztinstanzlicher Endentscheid im Sinne von Art. 87 OG, der das Verfahren abschliesst. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall die Rüge der nicht gesetzlichen Bekanntmachung des Urteilstermins (Art. 359 Ziff. 2 ZPO) noch in der mündlichen Appellationsverhandlung hätte geltend machen können, wenn die Appellation nicht wegen Verspätung "zurückgewiesen" worden wäre (vgl. nachstehend Erw. 2 und 3); denn Appellation und Nichtigkeitsklage sind zwei verschiedene Rechtsmittelverfahren, die einander grundsätzlich ausschliessen. Die Appellation geht der Nichtigkeitsklage vor. Auf die Nichtigkeitsklage ist nur einzutreten, wenn keine gültige Appellation vorliegt. Wird auf die Nichtigkeitsklage nicht eingetreten und liegt auch keine gültige Appellation vor, so bedeutet dies regelmässig, dass der behauptete Verfahrensmangel nach kantonalem Recht nicht mehr gerügt werden kann (vgl. Näheres unter Erw. 2 und 3). Dass im vorliegenden Fall der Appellationshof die beiden Rechtsmittel in umgekehrter Reihenfolge beurteilt hat, tut nichts zur Sache.
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Die vorliegende Beschwerde ist daher zulässig.
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2. a) Die Appellation nach bernischer ZPO ist ein ordentliches, umfassendes Rechtsmittel, mit dem die Überprüfung des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens in formeller und materieller ![]() | 13 |
b) Der Beschwerdeführer stellte gegen das im Säumnisverfahren ergangene Scheidungsurteil vorerst beim Amtsgericht Wangen a.A. ein Wiedereinsetzungsgesuch gemäss Art. 288 ZPO mit der Begründung, er habe vom Urteilstermin ohne Verschulden keine Kenntnis erlangt. Gleichzeitig erhob er "vorsorglicherweise" - gemeint war wohl: für den Fall der Abweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs - Appellation innert der ordentlichen Appellationsfrist von 10 Tagen und beantragte, das erstinstanzliche Verfahren von Amtes wegen (Art. 90 ZPO) aufzuheben, eventuell die Scheidungsklage abzuweisen. Obwohl eine Appellation grundsätzlich erst in der mündlichen Parteiverhandlung vor der Appellationsinstanz begründet werden soll (LEUCH, N 3 zu Art. 339 ZPO; KUMMER, S. 171), fügte der Appellant kurz bei, er sei in erster Instanz nicht säumig gewesen, da ihm weder eine Vorladung noch eine andere richterliche Verfügung zugekommen sei. Er brachte diese summarische Begründung ![]() | 14 |
c) Bis zum Ablauf der 30tägigen Frist für die Einreichung einer Nichtigkeitsklage waren weder das Wiedereinsetzungsgesuch noch die Appellation beurteilt. Der Beschwerdeführer erhob deshalb auch noch die Nichtigkeitsklage und beanstandete, der Urteilstermin sei ihm nicht gesetzlich bekanntgemacht worden (Art. 359 Ziff. 2 ZPO). Er tat dies augenscheinlich für den Fall, dass er mit den beiden andern Rechtsmitteln nicht durchdringen würde. Es wird heute vom Appellationshof und von der Beschwerdegegnerin mit Recht anerkannt, dass der Nichtigkeitskläger die 30tägige Frist wahrte. Die gegenteilige Feststellung im angefochtenen Entscheid beruht auf einem Irrtum. Sie widerspricht ganz eindeutig Art. 120 ZPO (Bestimmung über das Auslaufen einer Frist am Sonntag usw.). Fraglich kann somit nur noch sein, ob sich der Entscheid wenigstens mit der zweiten vom Appellationshof gegebenen Begründung vor Art. 4 BV halten lasse.
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b) Wollte man einräumen, der Wortlaut von Art. 337 ZPO könnte, isoliert betrachtet, notfalls noch so verstanden werden, wie das der Appellationshof tat, so ist andererseits doch augenscheinlich, dass eine derartige Auslegung vollständig Sinn und Zweck dieser Bestimmung sowie des ganzen Rechtsmittelsystems der bernischen ZPO widerspräche und zu einem unhaltbaren Ergebnis führte. Die Nichtigkeitsklage nach Art. 359 ZPO ist gegen appellable und nichtappellable Entscheide zulässig (LEUCH, N 2 zu Art. 359 ZPO; KUMMER, S. 175), und zwar in jedem Fall innert 30 Tagen nach deren Eröffnung ![]() | 18 |
Ob nun aber eine gültige Appellation vorliegt, wird vom Appellationshof wohl meistens erst nach Ablauf der 30tägigen Frist für die Nichtigkeitsklage entschieden (im vorliegenden Fall dauerte es 6 Monate). In der Regel dürfte es also nicht möglich sein, mit der Nichtigkeitsklage zuzuwarten, bis feststeht, ob auf die Appellation eingetreten wird. Andererseits kommt die Anhandnahme einer ungültigen Appellation als Nichtigkeitsklage schon deshalb nicht in Frage, weil die Appellationserklärung ![]() | 19 |
4. Der Appellationshof führt im angefochtenen Entscheid für seine Auffassung einen Satz aus dem Kommentar LEUCH (N 1 zu Art. 337 ZPO) an. Abgesehen davon, dass das Zitat nebst einer falschen Zahl einen sinnverändernden Kommafehler aufweist (Leuch setzt ein Komma nach der eingeklammerten Zahl 338), zeigen die weiteren Bemerkungen des Autors in der gleichen Note, dass er gerade nicht der Auffassung des Appellationshofes ist. Schon im erwähnten Satz selber setzt Leuch den Ausdruck "solange die Appellation offensteht" gleich mit "während der Appellationsfrist (338)" und sagt nur, dass in dieser Zeit und während der Hängigkeit der erklärten Appellation die Nichtigkeitsklage entbehrlich sei. Aus dem folgenden Satz könnte man zwar allenfalls e contrario schliessen, Leuch meine, eine eigene Appellation mache die Nichtigkeitsklage unmöglich. Indessen fährt er weiter unten fort: "Eventuelle Nichtigkeitsklage ist auch sonst für den Fall des Nichteintretens auf die Appellation zulässig. Nach unbenütztem Ablauf der ![]() | 20 |
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6. Wie ausgeführt (Erw. 2 b), ergriff der Beschwerdeführer die Nichtigkeitsklage offensichtlich nur für den Fall, dass das Wiedereinsetzungsgesuch und die Appellation keinen Erfolg haben sollten. Dass er die Nichtigkeitsklage als Eventual-Rechtsmittel verstand, brauchte er nicht noch ausdrücklich zu sagen; dies ergab sich sowohl aus der gesetzlichen Stellung und Funktion der Nichtigkeitsklage als auch aus den konkreten Umständen. Da die Appellation von Gesetzes wegen das prinzipale Rechtsmittel ist und die Nichtigkeitsklage nur bestehen kann, wenn keine gültige Appellation vorliegt, wäre eigentlich zu erwarten gewesen, der Appellationshof entscheide zuerst über Eintreten auf die Appellation. Indem er auf die Nichtigkeitsklage mit der Begründung nicht eintrat, es sei eine Appellation hängig, obwohl diese nach seinem späteren Entscheid gar nicht gültig war, handelte er willkürlich. Er schrieb Art. 337 ZPO eine Behauptung zu, die dieser Bestimmung schlechterdings nicht zukommen kann. Damit verschloss er dem Beschwerdeführer in willkürlicher Weise einen ihm gesetzlich zustehenden ![]() | 22 |
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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