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8. Urteil vom 24. Januar 1973 i.S. Badertscher gegen Gemeinde Wünnewil und Staatsrat des Kantons Freiburg. | |
Regeste |
Art. 85 lit. a OG. | |
Sachverhalt | |
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"1 Eine Entscheidung ist nur dann gültig, wenn sie die absolute Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder erlangt hat.
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2 Das Protokoll muss jedesmal, bei Strafe der Nichtigkeit, erwähnen:
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a) die Zahl der anwesenden Mitglieder;
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b) die Zahl des Stimmenmehrs für jede Entscheidung."
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"1 Une décision n'est valide que pour autant qu'elle réunit la majorité absolue des suffrages des membres présents.
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2 Le protocole doit mentionner chaque fois, sous peine de nullité: a) Le nombre des membres présents.
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b) Le chiffre de la majorité qu'a obtenue une décision."
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Gemäss Art. 21 der freiburgischen Kantonsverfassung gilt der französische Gesetzestext als Urtext. Eine mit der heutigen französischen Fassung des Art. 79 GGP wörtlich übereinstimmende Vorschrift fand sich schon im Gesetz über die Gemeinden und Pfarreien vom 5. Juli 1848 (Art. 43). Sie wurde in die späteren Gemeindegesetze vom 7. Mai 1864 (Art. 46) und vom 26. Mai 1879 (Art. 52) und auch in das heute geltende Gesetz vom 19. Mai 1894 offenbar diskussionslos übernommen. Demgegenüber hatte das Gesetz von 1848 in seiner deutschen Übersetzung ursprünglich einen etwas anderen Wortlaut, indem in Absatz 1 nur von der "absoluten Stimmenmehrheit" die Rede war; Absatz 2 unterschied sich von der jetzigen Fassung nur redaktionell. Im Gesetz von 1864 erhielt Absatz 1 die heutige Fassung. Der deutsche Text von 1879 entspricht wörtlich demjenigen von 1894.
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B.- Art. 79 GGP wurde während langer Zeit in konstanter Praxis dahin ausgelegt, dass für das gültige Zustandekommen eines Gemeindeversammlungsbeschlusses die Zustimmung der absoluten Mehrheit der im Zeitpunkt der Abstimmung anwesenden Gemeindemitglieder erforderlich sei, gleichgültig, ob sich ein Teil der Anwesenden der Stimme enthalten habe oder nicht. Noch in einem Schreiben der kantonalen Direktion der Gemeinden und Pfarreien aus dem Jahre 1936 wurde ausgeführt: "Laut Art. 79 des Gemeindegesetzes ... ist eine Entscheidung nur dann gültig, wenn sie die absolute Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder erlangt hat. Die Anwesenden sollen demnach, auch wenn sie sich der Stimme enthalten haben, mitgezählt werden, um die absolute Stimmenmehrheit festzustellen. Die Zahl der Anwesenden muss im Augenblick der Abstimmung festgestellt werden. Bei geheimen Abstimmungen wird die Zahl der anwesenden Mitglieder durch die ausgeteilten Zettel festgesetzt." In einem Entscheid vom 17. August 1951 vertrat der Staatsrat des Kantons Freiburg, offenbar in Anlehnung an eine inzwischen geänderte Praxis, erstmals die Auffassung, dass die sich der Stimme enthaltenden Gemeindemitglieder ![]() | 11 |
C.- Am 3. Dezember 1971 fand in der Gemeinde Wünnewil eine Gemeindeversammlung statt, welche unter Traktandum 3 die Detailpläne, das Ausführungsbegehren und das Kreditbegehren über Fr. 4'300,000.-- für die bauliche Erweiterung des Schulzentrums Wünnewil zu behandeln hatte. Von den erschienenen 259 Stimmberechtigten stimmten 106 für und 68 (bzw. 72 laut Angabe des Beschwerdeführers) gegen das Projekt; der Rest enthielt sich der Stimme. Gestützt auf die vom Staatsrat vertretene neue Auslegung des Art. 79 GGP behandelte der Gemeinderat das Projekt als genehmigt.
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D.- Hiegegen erhob Fritz Badertscher, der als stimmberechtigter Bürger an der Versammlung teilgenommen hatte, am 5. Dezember 1971 beim Staatsrat des Kantons Freiburg fristgerecht Rekurs. Er machte geltend, bei richtiger Auslegung von Art. 79 GGP sei die zur Gültigkeit des Beschlusses erforderliche Mehrheit nicht zustandegekommen. Bei 259 anwesenden Personen betrage das absolute Mehr 130 Stimmen. Mit bloss 106 befürwortenden Stimmen sei die in Art. 79 GGP verlangte absolute Mehrheit nicht erreicht worden.
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Am 24. Juli 1972 führte Fritz Badertscher staatsrechtliche Beschwerde, mit der er rügte, dass sich der Staatsrat des Kantons Freiburg durch die Nichtbehandlung seines am 5. Dezember 1971 eingereichten Rekurses einer Rechtsverzögerung bzw. Rechtsverweigerung schuldig mache. In seiner Vernehmlassung erklärte der Staatsrat, dass der ausstehende Entscheid demnächst ergehen werde, und wies in der Folge am 3. Oktober 1972 den Rekurs ab. Die staatsrechtliche Beschwerde wurde daraufhin am 28. November 1972 vom Bundesgericht als gegenstandslos geworden abgeschrieben.
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Zur Begründung seines Rekursentscheides vom 3. Oktober ![]() | 15 |
E.- Gegen den Rekursentscheid des Staatsrates richtet sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde, mit der Fritz Badertscher eine Verletzung von Art. 4 BV sowie seiner politischen Stimmberechtigung geltend macht.
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Im Namen des Staatsrates beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg Abweisung der Beschwerde. Die Gemeinde Wünnewil hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Bei Beschwerden gemäss Art. 85 lit. a OG prüft das Bundesgericht die Auslegung kantonaler Vorschriften, die den Umfang und Inhalt des Stimm- und Wahlrechtes normieren oder mit diesem in einem engen Zusammenhang stehen, grundsätzlich frei (BGE 97 I 663 E. 3, 32 E. 4 a; BGE 96 I 61 E. 3 mit Hinweisen). Der vom Beschwerdeführer zusätzlich erhobenen Willkürrüge kommt daher keine selbständige Bedeutung zu; dasselbe gilt für die Rüge der Verletzung von Art. 9 KV, welcher lediglich den bereits in Art. 4 BV verankerten Gleichheitssatz wiederholt.
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2. Dass sich die Frage, ob der Gemeindeversammlungsbeschluss vom 3. Dezember 1971 gültig zustandegekommen sei, ![]() ![]() | 20 |
3. a) Geht man davon aus, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass nicht die vom Staatsrat heute vertretene, sondern die frühere Auslegung des Art. 79 GGP, auf die sich der Beschwerdeführer beruft, die richtige ist. Wenn im massgebenden französischen Text bestimmt wird, ein Gemeindeversammlungsbeschluss sei nur gültig, wenn er "la majorité absolue des suffrages des membres présents" (deutscher Text: "die absolute Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder") auf sich vereint, so kann dies nicht anders verstanden werden als dahin, dass die absolute Mehrheit sämtlicher an der Versammung anwesenden - d.h. einschliesslich der sich der Stimme enthaltenden - Bürger gegeben sein muss. Zwar spricht Art. 79 nicht schlechthin von der "majorité absolue des membres présents", sondern er verlangt die "majorité absolue des suffrages des membres présents", woraus zur Unterstützung der gegenteiligen These abgeleitet werden könnte, die absolute Mehrheit sei nur inbezug auf die Zahl der abgegebenen - positiven oder negativen - Stimmen zu berechnen, wer keine Stimme abgegeben habe, falle bei der Ermittlung der "majorité des suffrages" ausser Betracht. Bei dieser Betrachtungsweise wäre jedoch der Zusatz "des membres présents" überflüssig und unverständlich. Gegen die vom Staatsrat vertretene Auslegung spricht auch die Vorschrift in Art. 79 Abs. 2, wonach das Protokoll für jede einzelne Abstimmung einerseits die Zahl der anwesenden Bürger und andererseits die Zahl des anfallenden Stimmenmehrs enthalten muss. Dies ist offensichtlich nichts anderes als die Wiedergabe der beiden Grössen, die ![]() | 21 |
b) Eine Art. 79 GGP entsprechende und in der französischen Fassung wörtlich übereinstimmende Vorschrift fand sich bereits im Gesetz über die Gemeinden und Pfarreien von 1848; sie wurde offenbar diskussionslos in die späteren Gesetze von 1864 und 1879 und auch in das heutige GGP von 1894 übernommen. Das Protokoll der grossrätlichen Beratungen von 1848 gibt über die hier strittige Frage keinen Aufschluss. Es ist lediglich ersichtlich, dass ursprünglich vorgesehen war, dass das Gemeindeversammlungsprotokoll auch die Zahl der in der Gemeinde stimmberechtigten Bürger angeben sollte, wovon dann aber aus praktischen Gründen abgesehen wurde. Die Gesetzesmaterialien geben jedenfalls keinen Anhaltspunkt dafür, dass die obige, anhand des Wortlautes sich aufdrängende Auslegung nicht dem wirklichen Sinn der Bestimmung entspricht. Wesentlich ins Gewicht fällt schliesslich auch die Tatsache, dass die Vorschrift zunächst während langer Zeit in jener naheliegenden Weise ausgelegt und gehandhabt worden ist. Es könnte immerhin eingewendet werden, der Gesetzgeber habe beim Erlass des GABR im Jahre 1966 von einer Abänderung oder Aufhebung des Art. 79 GGP deshalb abgesehen, weil er mit der seit 1951 geänderten Praxis des Staatsrates einverstanden gewesen sei und daher keinen Anlass für eine Korrektur gesehen habe. Dies wäre für die Auslegung des Art. 79 GGP jedoch höchstens dann von Bedeutung, wenn der Gesetzgeber von 1966 eine dahingehende Auffassung irgendwie verbindlich zum Ausdruck gebracht hätte, was nicht zutrifft. Da er die Vorschrift unberührt weiterbestehen liess, ist sie unabhängig von seiner allenfalls abweichenden Meinung nach ihrem objektiven Gehalt und nach dem Willen des historischen Gesetzgebers, auf dem ihre Rechtskraft beruht, auszulegen.
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c) Die Berechnung der Stimmenmehrheit anhand der Gesamtzahl der Stimmbürger bzw. der an einer Versammlung Anwesenden (sog. Personenprinzip) war in älteren Gesetzen häufig vorgesehen (KERN, Über die Äusserung des Volkswillens in der Demokratie, S. 46). Auch in der Freiburger Staatsverfassung vom 7. Mai 1857 fand sich eine derartige - inzwischen revidierte - Vorschrift, indem in Art. 79 KV die Revision der Verfassung von der Zustimmung der Mehrheit der eingeschriebenen Aktivbürger abhängig gemacht wurde (vgl. CASTELLA, L'organisation des pouvoirs politiques dans les constitutions ![]() | 23 |
4. Der angefochtene Rekursentscheid des Staatsrates beruht ![]() | 24 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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