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9. Urteil vom 24. Februar 1975 i.S. Kägi AG gegen Kopp Bauunternehmung AG und Obergericht (I. Kammer) des Kantons Luzern. | |
Regeste |
Art. 59 BV; Prorogation bei Zweigniederlassung; Grundsatz von Treu und Glauben. |
2. Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt auch im Zivilprozessrecht, insbesondere muss sich ein Vertragspartner, aus dessen Erklärungen die Gegenpartei nach Treu und Glauben den Schluss auf eine "Domizilnahme" ziehen durfte und musste, bei seinen so verstandenen Äusserungen ohne Rücksicht auf einen abweichenden inneren Willen behaften lassen (E. 3 und 4). | |
Sachverhalt | |
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Das Amtsgericht Luzern-Stadt bejahte seine Zuständigkeit mit Entscheid vom 11. Juni 1974. Die Beklagte erhob am 27. Juni 1974 Rekurs beim Obergericht des Kantons Luzern. Dieser wurde mit Entscheid vom 29. Juli 1974 abgewiesen. Das Obergericht stützte sich dabei auf § 38 der Zivilprozessordnung des Kantons Luzern, wonach dann, wenn ein Handels- oder Fabrikationsgeschäft an einem vom Wohnsitz des Inhabers verschiedenen Ort betrieben wird, Klagen auch beim Gericht des Geschäftsortes anhängig gemacht werden können.
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Gegen diesen Entscheid hat die Firma Kägi AG am 4. November 1974 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie rügt eine Verletzung der Gerichtsstandsgarantie des Art. 59 BV und beantragt, den Entscheid des Obergerichtes des Kantons Luzern aufzuheben und die Unzuständigkeitseinrede zu schützen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
1. Das Obergericht des Kantons Luzern hat die Zuständigkeit der Gerichte dieses Kantons nicht auf Grund einer Bestimmung des Bundesrechtes bejaht, insbesondere nicht auf Grund von Art. 642 Abs. 3 OR, sondern auf Grund von § 38 der Zivilprozessordnung des Kantons Luzern. Ob diese Bestimmung zu Recht oder zu Unrecht angewendet worden sei, entzieht sich der Überprüfung durch das Bundesgericht. Es steht den Kantonen frei, in ihrem Prozessrecht spezielle, von ![]() | 4 |
2. Zu dieser Frage macht die Beschwerdeführerin geltend, bei der Betriebsstelle ihrer Firma in Luzern handle es sich nicht um eine Zweigniederlassung, sondern um eine blosse Agentur. Sie werde von einem selbständig erwerbenden ![]() | 5 |
Demgegenüber hat die Beschwerdegegnerin bereits in ihrer Replik an das Amtsgericht Luzern-Stadt, sodann in der Rekursantwort an das Obergericht und schliesslich in ihrer Beschwerdeantwort an das Bundesgericht darauf hingewiesen, dass sich das Luzerner Büro der Firma Kägi AG im Geschäftsverkehr mit ihr immer wie eine Zweigniederlassung verhalten habe. So habe sie Offerteingaben unter der Firmenbezeichnung "Kägi AG Luzern" erstattet, habe Briefpapier mit dem Kopf "Kägi AG 6002 Luzern" verwendet, habe mündliche Besprechungen über Verträge geführt und deren Zustandekommen schriftlich bestätigt. Einer der beiden Verträge, derjenige über die Lieferung von Stahlzargen und Türen, sei sogar abgewickelt worden. Die Firma "Kägi AG Luzern" sei somit als direkter Vertragspartner der Firma Kopp AG aufgetreten, ohne je einmal in für diese erkennbarer Weise mit der Firma Kägi AG in Winterthur Fühlung zu nehmen oder deren Zustimmung vorzubehalten. Auch die Beschwerdegegnerin hat ihre Sachdarstellung durch Offerteingaben und Briefe der "Kägi AG Luzern" belegt.
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Keine der beiden Parteien hat die Vorbringen der Gegenpartei hinsichtlich der tatsächlichen Verhältnisse bestritten. Sie sind auch nicht unvereinbar; vielmehr stützt sich die Beschwerdeführerin auf die innere Organisation ihrer Firma, während die Beschwerdegegnerin diejenigen Umstände für sich geltend macht, die nach aussen, namentlich für sie selbst, erkennbar waren. Zu entscheiden ist somit die Rechtsfrage, ob ![]() | 7 |
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Im Bereich des Privatrechts gilt unbestritten das aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitete Vertrauensprinzip. Hinsichtlich der Auslegung von Willenserklärungen bedeutet dies, dass der Richter zu ermitteln hat, "wie der Empfänger in guten Treuen den äusseren Tatbestand unter Würdigung aller ihm erkennbaren Umstände auffassen durfte und musste" (Komm. SCHÖNENBERGER/JÄGGI, N. 181 ff. und insbesondere N. 195 zu Art. 1 OR; BGE 97 II 74 und 233 mit Hinweisen). Einer der wichtigsten Anwendungsfälle dieses Grundsatzes liegt auf dem Gebiete der Stellvertretung. Nach Art. 32 Abs. 2 OR ist eine stillschweigende Vollmachterteilung möglich. Daher muss jeder, der einem andern eine Stellung einräumt, die ihn Dritten gegenüber als zur Geschäftsführung in einem bestimmten Rahmen ermächtigt erscheinen lässt, die ![]() | 9 |
Es ist nicht einzusehen, weshalb dieser Grundsatz sinngemäss nicht auch auf dem Gebiet des Zivilprozessrechtes gelten sollte. Im Gegensatz zur älteren Rechtsprechung wurden in den letzten Jahrzehnten in vermehrtem Masse bewährte zivilrechtliche Institutionen ins öffentliche Recht übernommen (vgl. IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. Auflage, Band I, Nr. 241 Ziff. III). So ist heute allgemein anerkannt, dass der Grundsatz von Treu und Glauben auch im Zivilprozessrecht gilt (BGE 83 II 348 ff.; GULDENER, Treu und Glauben im Zivilprozess, in SJZ 39/1942/43, S. 389 ff. und S. 405 ff.; SCHWARTZ, Die Bedeutung von Treu und Glauben im Prozess- und Betreibungsverfahren, in Festschrift für Prof. M. Guldener, S. 291 ff.). Es drängt sich daher auf, auch die vorliegende Gerichtsstandsfrage in Anwendung dieses Grundsatzes zu entscheiden. Das steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts. In BGE 62 I 18 wurde ausgeführt, dass Umstände, welche bloss den Anschein eines wohnsitzähnlichen Verhältnisses erweckten, ohne dass ein solches in Wirklichkeit gegeben sei, für die Anerkennung eines Sondergerichtsstandes zwar grundsätzlich noch nicht genügen könnten. Jedoch gebe es Ausnahmen, und zwar müsse sich ein Vertragspartner, aus dessen Erklärungen die Gegenpartei nach Treu und Glauben den Schluss auf eine "Domizilnahme" habe ziehen dürfen und müssen, bei seiner so verstandenen Äusserung ohne Rücksicht auf einen abweichenden inneren Willen behaften lassen (BGE 62 I 20).
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4. Der Leiter der Geschäftsstelle der Firma Kägi AG in Luzern, A. Lauber, ist nach den Akten und nach den unbestrittenen Ausführungen der Firma Kopp AG dieser gegenüber in jeder Hinsicht so aufgetreten, als stünde er einer Zweigniederlassung vor. Er hat die gesamte Korrespondenz im Zusammenhang mit der Offertstellung und dem Vertragsabschluss auf eigenem Firmenpapier mit dem Aufdruck "Kägi AG 6002 Luzern" geführt. Der Briefkopf weist ferner auf ständige körperliche Anlagen und Einrichtungen der Firma Kägi AG im Kanton Luzern hin, indem er ein "Verkaufsbüro Zentralschweiz: Moosstrasse 15, Luzern" und eine "Ständige ![]() | 11 |
Die Beschwerdeführerin hat weder vor Obergericht noch vor Bundesgericht behauptet, sie sei mit dem selbständigen Auftreten Laubers unter der Bezeichnung "Kägi AG Luzern" nicht einverstanden gewesen, Lauber habe sich also seine Stellung angemasst, obschon die Beschwerdegegnerin bereits vor Amtsgericht Luzern-Stadt alle wesentlichen Tatsachen geltend gemacht und die erwähnten Akten vorgelegt hatte. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass A. Lauber unter mindestens stillschweigender Duldung durch die Beklagte sein Büro in Luzern so führte, dass Dritten gegenüber der Eindruck einer über völlige Selbständigkeit für den Abschluss von Geschäften verfügenden Zweigniederlassung entstehen musste. Sie hat dadurch bei den Verhandlungspartnern dieses Büros das Vertrauen darauf erweckt, mit einer Firma in Kontakt zu treten, die in Luzern über eine Zweigniederlassung verfüge. Wenn sie sich nun nach dem Auftreten von Meinungsverschiedenheiten auf die Gerichtsstandsgarantie des Art. 59 BV beruft, so liegt darin ein widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium), das keinen Rechtsschutz verdient (vgl. Komm. MERZ, N. 400 zu Art. 2 ZGB, hinsichtlich der Anwendbarkeit dieses Grundsatzes im Prozessrecht insbesondere N. 421 und 450). Darauf, ob sämtliche Merkmale einer Zweigniederlassung objektiv gegeben waren oder nicht, kommt es unter diesen Umständen nicht an. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher abzuweisen.
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