![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
74. Auszug aus dem Urteil vom 12. Dezember 1975 i.S. Haldi und Firma J. E. Kronenberg & Sohn gegen Appellationshof des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 4 BV; Gesamtarbeitsvertrag, Berechnung der Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes. |
2. Bei der Auslegung der gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen kann der Richter Vorschriften des öffentlichen Rechts des Bundes hilfsweise beiziehen, darf aber nicht annehmen, der Gesamtarbeitsvertrag müsse notwendigerweise die sich aus dem öffentlichen Recht des Bundes ergebenden Lösungen übernehmen (E. 3, 4). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Hans Haldi reichte beim Gerichtspräsidenten von Oberhasli gegen die Firma J.E. Kronenberg & Sohn Klage auf Bezahlung von Fr. 703.30 ein. Er stützte sich dabei auf den Rahmenvertrag für das Maler- und Gipsergewerbe vom 1. Januar 1973 (RV), wonach die verheirateten Arbeitnehmer, wenn sie Militärdienst leisten und diese Zeit 4 Wochen eines Kalenderjahres nicht übersteigt, Anspruch auf eine Entschädigung von 100% des Lohnausfalls haben (Art. 9.1 RV). Art. 9.3 RV bestimmt, dass der Berechnung des Lohnausfalls die Normalarbeitszeit und der Normalnettolohn (gesamtarbeitsvertragliche Arbeitszeit und effektiver Stundenlohn ohne Zulagen) zugrundezulegen sind. Bei der Berechnung des Normalnettolohnes des Klägers hatte die Ausgleichskasse die Ferien- und die Feiertagsentschädigung sowie den Anteil am 13. Monatslohn nicht berücksichtigt. Mit Urteil vom 3. Juli 1975 wies der Gerichtspräsident die Klage ab, im wesentlichen in der Erwägung, gestützt auf Art. 324b OR, welche Bestimmung im ![]() | 2 |
Auf Nichtigkeitsklage Haldis hin hob der Appellationshof des Kantons Bern mit Entscheid vom 22. August 1975 das Urteil des Gerichtspräsidenten von Oberhasli auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger den Betrag von Fr. 703.30 zu bezahlen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, der massgebende Lohn gemäss AHVG bilde auch die Grundlage für die Bemessung der Entschädigung für Lohnausfall wegen Militärdienstes. Danach seien die Lohnbestandteile, die regelmässig einmal im Jahr zur Auszahlung gelangen, auf den Tag umzurechnen und zum Einkommen hinzuzuzählen. Art. 9.3 RV könne nicht im Sinne der Erwägungen des erstinstanzlichen Richters ausgelegt werden, weil sonst ein Widerspruch zu den bundesrechtlichen Vorschriften entstünde.
| 3 |
Gegen den Entscheid des Appellationshofs wurden zwei staatsrechtliche Beschwerden eingereicht. Die Firma J. E. Kronenberg & Sohn beantragt die vollständige Aufhebung des angefochtenen Urteils, während Haldi dessen Aufhebung nur insoweit verlangt, als die Firma J. E. Kronenberg & Sohn nicht zur Bezahlung einer Parteientschädigung an den Kläger verpflichtet wurde.
| 4 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerden gut im Sinne folgender
| 5 |
Erwägungen: | |
1. Die Parteien anerkennen, dass für die Berechnung der Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes der Rahmenvertrag für das Maler- und Gipsergewerbe (RV), insbesondere Art. 9 RV, anwendbar ist. Art. 9.1 RV setzt den Anspruch eines verheirateten Arbeitnehmers auf Entschädigung für Lohnausfall wegen Militärdienstes auf 100% des Lohnausfalls fest, und nach Art. 9.3 RV ist der Berechnung des Lohnausfalls die Normalarbeitszeit und der Normalnettolohn (gesamtarbeitsvertragliche Arbeitszeit und effektiver Stundenlohn ohne Zulagen) zugrundezulegen. Streitig ist die Auslegung des Begriffs des "Normalnettolohnes", insbesondere des "effektiven Stundenlohnes ohne Zulagen". Es geht um die Frage, ob ![]() | 6 |
7 | |
a) Der Appellationshof war mit Grund der Ansicht, das Urteil des Gerichtspräsidenten von Oberhasli verletze klares ![]() | 8 |
b) Indem es der erstinstanzliche Richter letztlich ablehnte, die erwähnten Zusätze bei der Berechnung der Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes zu berücksichtigen, hat er sich auf Art. 324 b OR gestützt. Er ist der Ansicht, der Kläger habe das, was ihm nach dieser Bestimmung - welche im Gegensatz zu Art. 324 a OR eine abweichende vertragliche Regelung nicht vorbehalte - zustehe, erhalten und könne daher nichts mehr fordern.
| 9 |
Art. 324 b OR regelt den Fall, in welchem der Arbeitnehmer auf Grund gesetzlicher Vorschrift gegen die wirtschaftlichen Folgen unverschuldeter Arbeitsverhinderung aus Gründen, die in seiner Person liegen, obligatorisch versichert ist, und bestimmt, dass unter diesen Umständen der Arbeitgeber den Lohn nicht zu entrichten habe, wenn die für die beschränkte Zeit im Sinne von Art. 324 a OR geschuldeten Versicherungsleistungen mindestens vier Fünftel des darauf entfallenden Lohnes decken. Entgegen der Auffassung des Gerichtspräsidenten behält das Gesetz die vertraglichen Vorschriften, welche die Stellung des Arbeitnehmers verbessern, vor. Nach Art. 362 Abs. 1 OR darf von Art. 324b OR zuungunsten des Arbeitnehmers nicht abgewichen werden; Art. 362 Abs. 2 OR bestimmt, dass die vertraglichen Bestimmungen, welche von den unter Abs. 1 angeführten Vorschriften zuungunsten des Arbeitnehmers abweichen, nichtig sind. Daraus lässt sich schliessen, dass die vertraglich vorgesehenen Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer gültig sind. Ausserdem liegt hier ein Anwendungsfall des Art. 358 OR vor, wonach die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages, die zugunsten der Arbeitnehmer vom zwingenden Recht des Bundes und der Kantone abweichen, gültig sind, sofern sich aus dem zwingenden Recht nichts anderes ergibt, was im vorliegenden Fall - wie festgestellt wurde - nicht zutrifft.
| 10 |
3. Der Appellationshof beschränkte sich nicht darauf, ![]() | 11 |
Die Beklagte hält diese Argumentation für willkürlich mit der Begründung, die kantonale Instanz habe durch die Anwendung von Regeln des öffentlichen Rechts auf eine Streitsache des Privatrechts den Rechtsgrundsatz verletzt, wonach auf private Rechtsverhältnisse die Zivilgesetzgebung anwendbar sei.
| 12 |
Es ist klar, dass ein Gesamtarbeitsvertrag die Bestimmungen der eidgenössischen Erwerbsersatzordnung nicht abändern kann, doch im vorliegenden Fall geht es nicht um diese Ordnung, sondern um die vertraglichen Lohnausfallentschädigungen, die von der Bundesgesetzgebung unabhängig sind. Der Arbeitnehmer muss mindestens die Beträge erhalten, die sich auf Grund der bundesrechtlichen Regelung und der dort vorgesehenen Berechnungsgrundlage ergeben, doch kann der Gesamtarbeitsvertrag dem Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber (oder allenfalls gegenüber der gemäss Gesamtarbeitsvertrag mit der Zahlung beauftragten Ausgleichskasse) ausser dem Anspruch auf diese Beträge einen Lohnanspruch einräumen, dessen Berechnungsgrundlage nicht notwendigerweise die gleiche ist wie bei der bundesrechtlichen Erwerbsausfallentschädigung. Das öffentliche Recht des Bundes verpflichtet die am Gesamtarbeitsvertrag beteiligten Parteien nicht, bei der Bestimmung der gesamtarbeitsvertraglich vorgesehenen Entschädigung für Militärdienst die gleichen Berechnungsgrundlagen anzuwenden wie sie die Bundesgesetzgebung in Sachen der Sozialversicherung vorschreibt. Freilich können die Begriffe der Bundesgesetzgebung in Sozialversicherungssachen für die Auslegung der gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen ![]() | 13 |
4. Damit ist indes nicht gesagt, dass auch das Ergebnis, zu welchem der Appellationshof im angefochtenen Entscheid gelangt ist, notwendigerweise unhaltbar wäre. Die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages sind unklar und bedürfen der Auslegung, vor allem muss abgeklärt werden, ob unter den in Art. 9.3 RV erwähnten Zulagen einzig die Entschädigungen für Überstunden und analoge Entschädigungen zu verstehen sind oder auch diejenigen Zulagen, die den Arbeitnehmern als Entschädigungen für Ferien, Feiertage und den Anteil am 13. Monatslohn entrichtet werden. Bei der Auslegung des Art. 9.3 RV ist es für den Richter entgegen der Ansicht der Beklagten nicht entscheidend, wie die Vertragsparteien die Bestimmung auslegen könnten, dies insbesondere im vorliegenden Fall, wo die Beklagte selbst anerkennt und auch aus der Zeugeneinvernahme vor erster Instanz hervorging, dass die Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung des Art. 9.3 RV nicht gleicher Meinung sind. Der Richter kann Bestimmungen des öffentlichen Rechts oder anderer Gesamtarbeitsverträge hilfsweise beiziehen, darf aber nicht annehmen, der Gesamtarbeitsvertrag müsse notwendigerweise die sich aus dem öffentlichen Recht oder anderen Verträgen ergebenden Lösungen übernehmen. Die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages haben dagegen mit den zwingenden Vorschriften des Bundeszivilrechts übereinzustimmen (namentlich mit Art. 329b und 329d OR). Es steht dem Bundesgericht im Rahmen einer Willkürbeschwerde nicht zu, selber die Auslegung des umstrittenen Art. 9.3 RV vorzunehmen, sondern der Appellationshof wird darüber neu zu befinden haben.
| 14 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |