BGE 101 Ia 456 | |||
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74. Auszug aus dem Urteil vom 12. Dezember 1975 i.S. Haldi und Firma J. E. Kronenberg & Sohn gegen Appellationshof des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 4 BV; Gesamtarbeitsvertrag, Berechnung der Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes. |
2. Bei der Auslegung der gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen kann der Richter Vorschriften des öffentlichen Rechts des Bundes hilfsweise beiziehen, darf aber nicht annehmen, der Gesamtarbeitsvertrag müsse notwendigerweise die sich aus dem öffentlichen Recht des Bundes ergebenden Lösungen übernehmen (E. 3, 4). | |
Sachverhalt | |
Der bei der Firma J. E. Kronenberg & Sohn in Meiringen als Maler tätige Hans Haldi absolvierte in den Jahren 1973 und 1974 je einen Wiederholungskurs. Die Arbeitgeberin entrichtete ihm als Lohnausfallentschädigung, wie sie von der Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes nach den Richtlinien der eidgenössischen Erwerbsersatzordnung sowie des Gesamtarbeitsvertrages des SMGV (Schweizerischer Maler- und Gipsermeisterverband) berechnet und der Firma J. E. Kronenberg & Sohn überwiesen wurde, für den WK 1973 Fr. 1'264.-- und für den WK 1974 Fr. 1'484.--.
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Hans Haldi reichte beim Gerichtspräsidenten von Oberhasli gegen die Firma J.E. Kronenberg & Sohn Klage auf Bezahlung von Fr. 703.30 ein. Er stützte sich dabei auf den Rahmenvertrag für das Maler- und Gipsergewerbe vom 1. Januar 1973 (RV), wonach die verheirateten Arbeitnehmer, wenn sie Militärdienst leisten und diese Zeit 4 Wochen eines Kalenderjahres nicht übersteigt, Anspruch auf eine Entschädigung von 100% des Lohnausfalls haben (Art. 9.1 RV). Art. 9.3 RV bestimmt, dass der Berechnung des Lohnausfalls die Normalarbeitszeit und der Normalnettolohn (gesamtarbeitsvertragliche Arbeitszeit und effektiver Stundenlohn ohne Zulagen) zugrundezulegen sind. Bei der Berechnung des Normalnettolohnes des Klägers hatte die Ausgleichskasse die Ferien- und die Feiertagsentschädigung sowie den Anteil am 13. Monatslohn nicht berücksichtigt. Mit Urteil vom 3. Juli 1975 wies der Gerichtspräsident die Klage ab, im wesentlichen in der Erwägung, gestützt auf Art. 324b OR, welche Bestimmung im Gegensatz zu Art. 324a OR die gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen nicht vorbehalte, habe der Arbeitnehmer nicht Anspruch auf den vollen Lohnausfall, sondern nur auf 80% desselben, welchen Betrag Haldi erhalten habe.
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Auf Nichtigkeitsklage Haldis hin hob der Appellationshof des Kantons Bern mit Entscheid vom 22. August 1975 das Urteil des Gerichtspräsidenten von Oberhasli auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger den Betrag von Fr. 703.30 zu bezahlen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, der massgebende Lohn gemäss AHVG bilde auch die Grundlage für die Bemessung der Entschädigung für Lohnausfall wegen Militärdienstes. Danach seien die Lohnbestandteile, die regelmässig einmal im Jahr zur Auszahlung gelangen, auf den Tag umzurechnen und zum Einkommen hinzuzuzählen. Art. 9.3 RV könne nicht im Sinne der Erwägungen des erstinstanzlichen Richters ausgelegt werden, weil sonst ein Widerspruch zu den bundesrechtlichen Vorschriften entstünde.
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Gegen den Entscheid des Appellationshofs wurden zwei staatsrechtliche Beschwerden eingereicht. Die Firma J. E. Kronenberg & Sohn beantragt die vollständige Aufhebung des angefochtenen Urteils, während Haldi dessen Aufhebung nur insoweit verlangt, als die Firma J. E. Kronenberg & Sohn nicht zur Bezahlung einer Parteientschädigung an den Kläger verpflichtet wurde.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerden gut im Sinne folgender
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Erwägungen: | |
1. Die Parteien anerkennen, dass für die Berechnung der Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes der Rahmenvertrag für das Maler- und Gipsergewerbe (RV), insbesondere Art. 9 RV, anwendbar ist. Art. 9.1 RV setzt den Anspruch eines verheirateten Arbeitnehmers auf Entschädigung für Lohnausfall wegen Militärdienstes auf 100% des Lohnausfalls fest, und nach Art. 9.3 RV ist der Berechnung des Lohnausfalls die Normalarbeitszeit und der Normalnettolohn (gesamtarbeitsvertragliche Arbeitszeit und effektiver Stundenlohn ohne Zulagen) zugrundezulegen. Streitig ist die Auslegung des Begriffs des "Normalnettolohnes", insbesondere des "effektiven Stundenlohnes ohne Zulagen". Es geht um die Frage, ob unter den Zulagen die Ferien- und die Feiertagsentschädigung sowie der Anteil am 13. Monatslohn zu verstehen sind. Bei vielen wie der Kläger im Stundenlohn beschäftigten Arbeitnehmern werden diese Entschädigungen nicht während des Zeitabschnittes entrichtet, für welchen sie vorgesehen sind, sondern in Form von Zuschlägen, die dem Bruttolohn (bestehend aus dem Entgelt für die normalen Arbeitsstunden und die Überstunden sowie aus den Überzeitzuschlägen) beigefügt werden. Die Zuschläge betragen für die Ferien im Jahre 1973 8% und im Jahre 1974 8 1/2% des Bruttolohnes, für die Feiertage 3% des Bruttolohnes und für den 13. Monatslohn im Jahre 1973 4% und im Jahre 1974 8% (Art. 8.1, 8.3 und 7.5.1 RV). Daraus ergibt sich, dass auf Grund der von der Beklagten vorgenommenen Auslegung des Art. 9.3 RV dem Arbeitnehmer ein Teil der Ferien- und der Feiertagsentschädigung sowie des 13. Monatslohns entginge, während nach klägerischer Auslegung die Entrichtung dieser Entschädigungen dank der Zahlung der Zuschläge auf dem Nettolohn gewahrt bliebe.
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a) Der Appellationshof war mit Grund der Ansicht, das Urteil des Gerichtspräsidenten von Oberhasli verletze klares Recht. Die Argumentation des Gerichtspräsidenten ist widersprüchlich, nimmt er doch einerseits an, die Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes berechne sich auf Grund des Nettolohns, der Ferien- und der Feiertagsentschädigung sowie des Anteils am 13. Monatslohn, gibt andererseits aber - ohne sich diesbezüglich näher auszudrücken - zu, dass eine solche Auslegung dem Wortlaut des Art. 9.3 RV widerspreche.
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b) Indem es der erstinstanzliche Richter letztlich ablehnte, die erwähnten Zusätze bei der Berechnung der Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes zu berücksichtigen, hat er sich auf Art. 324 b OR gestützt. Er ist der Ansicht, der Kläger habe das, was ihm nach dieser Bestimmung - welche im Gegensatz zu Art. 324 a OR eine abweichende vertragliche Regelung nicht vorbehalte - zustehe, erhalten und könne daher nichts mehr fordern.
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Art. 324 b OR regelt den Fall, in welchem der Arbeitnehmer auf Grund gesetzlicher Vorschrift gegen die wirtschaftlichen Folgen unverschuldeter Arbeitsverhinderung aus Gründen, die in seiner Person liegen, obligatorisch versichert ist, und bestimmt, dass unter diesen Umständen der Arbeitgeber den Lohn nicht zu entrichten habe, wenn die für die beschränkte Zeit im Sinne von Art. 324 a OR geschuldeten Versicherungsleistungen mindestens vier Fünftel des darauf entfallenden Lohnes decken. Entgegen der Auffassung des Gerichtspräsidenten behält das Gesetz die vertraglichen Vorschriften, welche die Stellung des Arbeitnehmers verbessern, vor. Nach Art. 362 Abs. 1 OR darf von Art. 324b OR zuungunsten des Arbeitnehmers nicht abgewichen werden; Art. 362 Abs. 2 OR bestimmt, dass die vertraglichen Bestimmungen, welche von den unter Abs. 1 angeführten Vorschriften zuungunsten des Arbeitnehmers abweichen, nichtig sind. Daraus lässt sich schliessen, dass die vertraglich vorgesehenen Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer gültig sind. Ausserdem liegt hier ein Anwendungsfall des Art. 358 OR vor, wonach die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages, die zugunsten der Arbeitnehmer vom zwingenden Recht des Bundes und der Kantone abweichen, gültig sind, sofern sich aus dem zwingenden Recht nichts anderes ergibt, was im vorliegenden Fall - wie festgestellt wurde - nicht zutrifft.
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3. Der Appellationshof beschränkte sich nicht darauf, das Urteil des Gerichtspräsidenten aufzuheben, sondern hat in der Sache entschieden und dabei angenommen, der Berechnung der Lohnausfallentschädigung müsse nicht nur der Grundlohn, sondern auch die Ferien- und die Feiertagsentschädigung sowie der Anteil am 13. Monatslohn zugrunde gelegt werden. Er stützte sich wesentlich auf die gesetzlichen Vorschriften in Sachen Sozialversicherung und zog daraus den Schluss, dass die Bestimmungen eines Gesamtarbeitsvertrages vom gesetzlichen Begriff des massgebenden Lohnes weder zum Nachteil des Arbeitgebers noch des Arbeitnehmers abweichen dürften, zumal dann nicht - wie vom Appellationshof widersprüchlich festgestellt wird - wenn es darum gehe, die Stellung des Arbeitnehmers zu verbessern, was zulässig sei.
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Die Beklagte hält diese Argumentation für willkürlich mit der Begründung, die kantonale Instanz habe durch die Anwendung von Regeln des öffentlichen Rechts auf eine Streitsache des Privatrechts den Rechtsgrundsatz verletzt, wonach auf private Rechtsverhältnisse die Zivilgesetzgebung anwendbar sei.
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Es ist klar, dass ein Gesamtarbeitsvertrag die Bestimmungen der eidgenössischen Erwerbsersatzordnung nicht abändern kann, doch im vorliegenden Fall geht es nicht um diese Ordnung, sondern um die vertraglichen Lohnausfallentschädigungen, die von der Bundesgesetzgebung unabhängig sind. Der Arbeitnehmer muss mindestens die Beträge erhalten, die sich auf Grund der bundesrechtlichen Regelung und der dort vorgesehenen Berechnungsgrundlage ergeben, doch kann der Gesamtarbeitsvertrag dem Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber (oder allenfalls gegenüber der gemäss Gesamtarbeitsvertrag mit der Zahlung beauftragten Ausgleichskasse) ausser dem Anspruch auf diese Beträge einen Lohnanspruch einräumen, dessen Berechnungsgrundlage nicht notwendigerweise die gleiche ist wie bei der bundesrechtlichen Erwerbsausfallentschädigung. Das öffentliche Recht des Bundes verpflichtet die am Gesamtarbeitsvertrag beteiligten Parteien nicht, bei der Bestimmung der gesamtarbeitsvertraglich vorgesehenen Entschädigung für Militärdienst die gleichen Berechnungsgrundlagen anzuwenden wie sie die Bundesgesetzgebung in Sachen der Sozialversicherung vorschreibt. Freilich können die Begriffe der Bundesgesetzgebung in Sozialversicherungssachen für die Auslegung der gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen beigezogen werden, jedoch darf der Richter nicht von Amtes wegen die dem Bundesrecht entnommenen Berechnungsregeln auf die gesamtarbeitsvertragliche Ordnung anwenden, wie das der Appellationshof gemacht hat. Die Argumentation des Appellationshofs beruht demnach auf keiner gesetzlichen Grundlage und verletzt die Vertragsfreiheit (Art. 19 OR) sowie die Bestimmungen über die Gesamtarbeitsverträge (Art. 356 ff. OR). Sie lässt sich mit sachlichen Gründen nicht vertreten und verstösst somit gegen Art. 4 BV.
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4. Damit ist indes nicht gesagt, dass auch das Ergebnis, zu welchem der Appellationshof im angefochtenen Entscheid gelangt ist, notwendigerweise unhaltbar wäre. Die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages sind unklar und bedürfen der Auslegung, vor allem muss abgeklärt werden, ob unter den in Art. 9.3 RV erwähnten Zulagen einzig die Entschädigungen für Überstunden und analoge Entschädigungen zu verstehen sind oder auch diejenigen Zulagen, die den Arbeitnehmern als Entschädigungen für Ferien, Feiertage und den Anteil am 13. Monatslohn entrichtet werden. Bei der Auslegung des Art. 9.3 RV ist es für den Richter entgegen der Ansicht der Beklagten nicht entscheidend, wie die Vertragsparteien die Bestimmung auslegen könnten, dies insbesondere im vorliegenden Fall, wo die Beklagte selbst anerkennt und auch aus der Zeugeneinvernahme vor erster Instanz hervorging, dass die Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung des Art. 9.3 RV nicht gleicher Meinung sind. Der Richter kann Bestimmungen des öffentlichen Rechts oder anderer Gesamtarbeitsverträge hilfsweise beiziehen, darf aber nicht annehmen, der Gesamtarbeitsvertrag müsse notwendigerweise die sich aus dem öffentlichen Recht oder anderen Verträgen ergebenden Lösungen übernehmen. Die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages haben dagegen mit den zwingenden Vorschriften des Bundeszivilrechts übereinzustimmen (namentlich mit Art. 329b und 329d OR). Es steht dem Bundesgericht im Rahmen einer Willkürbeschwerde nicht zu, selber die Auslegung des umstrittenen Art. 9.3 RV vorzunehmen, sondern der Appellationshof wird darüber neu zu befinden haben.
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