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28. Auszug aus dem Urteil vom 14. Juli 1976 i.S. Schiesser gegen Bezirksanwaltschaft Winterthur und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. | |
Regeste |
Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Untersuchungshaft | |
Sachverhalt | |
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Gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft erhebt Schiesser staatsrechtliche Beschwerde, u.a. wegen Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Dabei wird geltend gemacht, die zürcherische Bezirksanwaltschaft sei keine richterliche Behörde im Sinne dieser Bestimmung.
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Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen.
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a) Die Auslegung dieser Bestimmung ist in der Doktrin umstritten (vgl. TRECHSEL, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 251 f.). Die Europäische Menschenrechtskommission hat in einem Fall die Frage offen gelassen, ob der niederländische "officier van justitie", der staatsanwaltschaftliche Funktionen ausübt, ein richterliches Organ im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ist (Beschwerdeentscheid der Kommission Nr. 2894/66 i.S. X c. Niederlande vom 6.10.1966, Rec. de décisions 21 S. 53; TRECHSEL, a.a.O. S. 252). Einigkeit scheint immerhin darüber zu bestehen, dass das zuständige Organ zu unparteilicher Entscheidung berufen, an keine Weisungen gebunden und nur dem Gesetz verpflichtet sein darf (TRECHSEL, a.a.O., S. 252 f.; SCHUBARTH, Die Art. 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische Strafprozessrecht, ZSR NF Bd. 94 1975 S. 486 N. 83b; BISCHOFBERGER, Die Verfahrensgarantien der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 5 und 6) in ihrer Einwirkung auf das schweizerische Strafprozessrecht, Diss. Zürich 1972, S. 220).
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Diese Auslegung deckt sich mit dem Wortsinn von "Richter" bzw. "richterlich" ganz allgemein im Verfahrensrecht. Massgebend für die Charakterisierung einer Tätigkeit als richterliche ist in erster Linie die Unabhängigkeit der in dieser Eigenschaft handelnden Organe, und zwar gegenüber den andern Staatsgewalten, anderen Trägern von Funktionen der Rechtspflege und Stellen und Gruppen des öffentlichen Lebens (HAUSER, Grundzüge des Strafprozessrechts, St. Gallen 1974, S. 23 f.; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. Aufl. S. 30 ff.; GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, ![]() | 6 |
Der Wortlaut von Art. 5 Ziff. 3 EMRK bringt nun allerdings zum Ausdruck, dass es die Richterqualität und die richterliche Unabhängigkeit nicht im Sinne des rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzips (EICHENBERGER, a.a.O., S. 64 ff.) versteht, d.h. im Sinne organisatorisch und personell getrennter Organe zur Ausübung der staatlichen Tätigkeiten. Die Bestimmung nennt als zur Vernehmung des Angeschuldigten zuständige Instanz ausdrücklich nicht nur den "Richter", der aufgrund seines beruflichen Status und seiner von der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt unabhängigen Stellung zur richterlichen Entscheidung berufen ist, sondern auch den "magistrat" (officer), der "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigt" ist. - Dies kann nur so verstanden werden, dass auch ihrer Stellung nach administrative Organe mit der Konvention vereinbar sind, soweit sie richterliche Funktionen ausüben, d.h. in dieser Eigenschaft unabhängig entscheiden. Nach Art. 5 Ziff. 3 EMRK ist also nicht in erster Linie die organisatorische Stellung, sondern die auszuübende Funktion ausschlaggebend. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass die Ausübung verschiedener, d.h. untersuchungsrichterlicher neben anderen Funktionen der Strafrechtspflege oder administrativer Aufgaben in Personalunion durch die genannte Bestimmung grundsätzlich nicht ausgeschlossen wird. Unabdingbar ist allerdings, dass die organisatorische Stellung oder die Ausübung einer Mehrzahl von Funktionen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als Untersuchungsrichter nicht rechtlich oder faktisch in einem solchen Mass beeinträchtigen, dass von einer richterlichen Tätigkeit nicht mehr gesprochen werden kann.
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Diese Auffassung wird gestützt durch die Auslegung von Art. 5 Ziff. 3 im Verhältnis zu Art. 6 EMRK. Gemäss Art. 6 Ziff. 1 hat jedermann Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist vom zum Entscheid zuständigen "unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht" (independent and impartial tribunal established by law/tribunal indépendant et impartial, établi par la loi) angehört zu werden. Es wird allgemein anerkannt, dass unter einem "Gericht" (tribunal) im Sinne der zit. Bestimmung eine selbständige, ![]() | 8 |
Ebenso unterscheidet sich die Formulierung in Art. 5 Ziff. 3 EMRK von der Umschreibung der zur Haftprüfung gemäss Art. 5 Ziff. 4 der Konvention zuständigen Behörde, nämlich "tribunal" nach dem französischen Originaltext, "court" nach dem englischen Originaltext, in deutscher Übersetzung "Gericht". Es kann offen bleiben, ob die Anforderungen an das Verfahren in Art. 5 Ziff. 4 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK die gleichen sind; sicher ist jedenfalls, dass die zitierten Bestimmungen - im Unterschied zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK - insoweit übereinstimmen, als die zuständige Behörde ein richterliches, ![]() | 9 |
b) Die zürcherische Bezirksanwaltschaft ist Ermittlungs- und Untersuchungsbehörde unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft (zürch. Gerichtsverfassungsgesetz GVG vom 29. Januar 1911, § 94 Ziff. 1; HAUSER/HAUSER, Kommentar zum GVG, § 94 Anm. 1 I Ziff. 1, 2; § 105 Anm. 1 I Ziff. 2, III) sowie Anklagebehörde beim Einzelrichter in Strafsachen und beim Bezirksgericht (§ 93 Ziff. 1 GVG; HAUSER/HAUSER, a.a.O., § 93 Anm. 2); sie hat schliesslich Strafbefehlskompetenz gemäss § 317 ff. der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO) vom 4 Mai 1919. Im vorliegenden Fall ist die Bezirksanwaltschaft Winterthur ausschliesslich als Untersuchungsbehörde tätig geworden. Es stellt sich die Frage, ob die genannte Behörde in dieser Eigenschaft eine richterliche Funktion im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ausgeübt hat.
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Als Untersuchungsbehörde hat die Bezirksanwaltschaft gemäss § 31 StPO den belastenden und entlastenden Tatsachen mit gleicher Sorgfalt nachzuforschen, und nach Abschluss der Untersuchung in völliger Unbefangenheit und Unparteilichkeit zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Anklageerhebung gegeben sind. Die Untersuchung ist keineswegs einseitig auf das Ziel der Anklageerhebung ausgerichtet, sondern schliesst die Möglichkeit der Entlastung des Angeschuldigten gleichwertig in sich. Damit charakterisiert sich die Tätigkeit der Bezirksanwaltschaft im Verfahrensstadium der Untersuchung als untersuchungsrichterliche im eigentlichen Sinne des Wortes. Dies wird dann besonders deutlich, wenn die Funktionen der Untersuchungs- und Anklagebehörde auch personell getrennt sind, d.h. wenn - wie im vorliegenden Fall - die allfällige Anklage mit grosser Wahrscheinlichkeit durch die Staatsanwaltschaft vor Geschworenengericht vertreten wird (§ 37 StPO).
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Unmassgebend ist, dass die Bezirksanwaltschaft der Verwaltungshierarchie inkorporiert, somit nach ihrer organisatorischen ![]() | 12 |
Auch die Tatsache, dass die Bezirksanwaltschaft während der Untersuchung - sowohl allgemeinen hinsichtlich der Art und Weise ihrer Tätigkeit wie mit Bezug auf den einzelnen Straffall (Einleitung, Führung und Einstellung der Untersuchung) - der Weisungskompetenz der Staatsanwaltschaft unterstellt ist (§ 105 GVG, § 27, 39 StPO; HAUSER/HAUSER, a.a.O., S. 259 f.; HUBER, Die Stellung des Beschuldigten - insbesondere seine Rechte - in der Strafuntersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Kantons Zürich, Diss. Zürich 1974, S. 14 Anm. 64), steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Entscheidend ist, dass auch die Staatsanwaltschaft als Aufsichtsinstanz im Verfahrensstadium der Untersuchung eine untersuchungsrichterliche Funktion erfüllt und erst mit der allfälligen Überweisung der Strafsache an die Urteilsbehörde die Rolle des Anklägers mit Parteistellung im Beurteilungsverfahren annimmt. Für die Untersuchung gilt, was bereits für die Bezirksanwaltschaft als Untersuchungsbehörde gesagt worden ist: Die Staatsanwaltschaft als untersuchungsrichterliche Aufsichtsbehörde ist wie die eigentliche Untersuchungsbehörde zur Unparteilichkeit und zur Objektivität verpflichtet. § 31 StPO gilt seinem Wortlaut gemäss für jede untersuchungsrichterliche Tätigkeit, somit auch für die Staatsanwaltschaft im Verfahrensstadium der Untersuchung, ob sie nun als eigentliche Untersuchungsbehörde (§ 27 2. Satz StPO) oder als untersuchungsrichterliche Aufsichtsinstanz (§ 27 1. Satz StPO) handelt. Ziel der Untersuchung ist die Erforschung der materiellen Wahrheit, ob sie nun belastend (Anklage) oder entlastend (Einstellung) für den Angeschuldigten wirkt. Somit ist die zürcherische Bezirksanwaltschaft in ihrer untersuchungsrichterlichen Tätigkeit zwar weisungsgebunden, demnach von einer andern Behörde abhängig, die aber ihrerseits ![]() | 13 |
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