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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
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55. Auszug aus dem Urteil vom 3. November 1976 i.S. Burger gegen Staatsanwaltschaft und Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Stadt | |
Regeste |
Verlängerung der Untersuchungshaft; persönliche Freiheit; Art. 5 Ziff. 3 und Art. 6 Ziff. 2 EMRK. |
2. Unverzügliche Vorführung eines festgenommenen oder inhaftierten Angeschuldigten vor einen Richter oder einen Beamten mit richterlichen Funktionen gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Bedeutung dieser Garantie; Anforderungen an einen "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten" (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Wie das Bundesgericht in BGE 101 Ia 69 (E. 2c) ausgeführt hat, übernimmt und entwickelt die EMRK Bestimmungen weiter, die zahlreiche Staatsverfassungen im Rahmen der Freiheitsrechte gewährleisten oder die die Vertragsstaaten als ungeschriebene Verfassungsrechte anerkennen. Das bedeute, dass die von der Konvention geschützten Rechte in Verbindung mit den entsprechenden Individualrechten unseres geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsrechts zu bestimmen seien. Die Frage, ob die Weiterführung der Untersuchungshaft gegenüber dem Beschwerdeführer gerechtfertigt ist, ist daher im folgenden grundsätzlich nach der im ungeschriebenen Verfassungsrecht des Bundes garantierten persönlichen Freiheit zu beurteilen, für deren Konkretisierung die angerufenen Garantien der EMRK einzubeziehen sind, wobei im besonderen auch die Rechtsprechung der Konventionsorgane zu berücksichtigen ist (vgl. auch BGE 102 Ia 283 E. 2b).
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a) In BGE 95 I 242 hat das Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Freiheit festgehalten, für die Annahme von Fluchtgefahr genüge es nicht, wenn die Flucht objektiv möglich sei. Die Möglichkeit, dass ein verhafteter Angeschuldigter sich durch Flucht der Strafverfolgung entziehe, bestehe an sich in jedem Strafverfahren. Es brauche daher eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene sich durch Flucht dem Vollzug der Strafe entziehen werde. Dabei müsse die Schwere der Fluchtgefahr in jedem einzelnen ![]() ![]() | 5 |
b) ...
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c) ...
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a) Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers könnte eine allfällige Gutheissung der Beschwerde in diesem Punkt auf keinen Fall dazu führen, dass der Beschwerdeführer aus der Untersuchungshaft entlassen werden müsste, da - wie ausgeführt - ein Haftgrund nach wie vor besteht. Eine allfällige Gutheissung könnte höchstens zur Folge haben, dass die Anhörung durch ein den Anforderungen des Art. 5 Ziff. 3 EMRK genügendes Organ nachgeholt werden müsste.
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b) Gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK muss jede nach Ziff. 1 lit. c dieser Vorschrift festgenommene oder in Haft gehaltene Person "unverzüglich einem Richter oder einem andern, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden" ("doit être aussitôt traduite devant un juge ou un autre magistrat habilité par la loi à exercer des fonctions judiciaires ..."/"shall be brought promptly before a judge or other officer authorised by law to exercise judicial power").
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Im Kanton Basel-Stadt amtet die Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen als Untersuchungsbehörde in der strafrechtlichen Voruntersuchung (vgl. § 55 Abs. 1 des baselstädtischen Gerichtsorganisationsgesetzes - GOG - und § 22 ff. StPO). In BGE 102 Ia 183 E. 3b (i. S. Schiesser) ist das Bundesgericht zum Ergebnis gekommen, dass die Bezirksanwaltschaft des Kantons Zürich als Untersuchungsbehörde eine richterliche Funktion im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ausübe. Das Bundesgericht stützte sich dabei vor allem darauf, dass die Untersuchung nicht einseitig auf das Ziel der Anklageerhebung ausgerichtet sei, sondern die Möglichkeit der Entlastung des Angeschuldigten gleichwertig in sich schliesse, womit sich die Tätigkeit der Bezirksanwaltschaft im Verfahrensstadium der ![]() | 11 |
Wie die Zürcher Bezirksanwaltschaft hat auch die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt nicht nur die Funktion des öffentlichen Anklägers inne, sondern es kommen ihr ebenfalls untersuchungsrichterliche Funktionen zu. Gemäss § 55 Abs. 1 GOG umfasst das Amt der Staatsanwälte die Untersuchung im gesetzlichen Ermittlungsverfahren sowie die Vertretung der öffentlichen Anklage vor Gericht. Ferner bleibt beim Verfahren auf öffentliche Klage gemäss § 22 ff. StPO die Staatsanwaltschaft nach Massgabe von § 125 StPO bis zur Einreichung der Anklage und mit Ausnahme des gerichtlichen Überweisungsverfahrens zur Verfügung über den Angeschuldigten zuständig (§ 22 lit. a StPO). Die Basler Staatsanwälte sind somit insofern im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK "gesetzlich" zur Ausübung (untersuchungs)richterlicher Funktionen ermächtigt ("habilité par la loi"/"authorised by law"). Im Unterschied zum erwähnten Urteil i.S. Schiesser besteht indessen im vorliegenden Fall keine durchgängige personelle Trennung zwischen dem Staatsanwalt, der die Untersuchung leitet und demjenigen, der zum gegebenen Zeitpunkt allenfalls die Anklage erhebt. Die Frage, ob die Basler Staatsanwaltschaft im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK als ein "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" angesehen werden kann, lässt sich demnach nicht bloss mit der Verweisung auf das Urteil i.S. Schiesser beantworten, sondern bedarf einer zusätzlichen Überprüfung. Es drängt sich auf, hierfür die Tragweite der angerufenen Bestimmung erneut zu untersuchen.
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Art. 5 Ziff. 3 EMRK stellt gewisse Mindestanforderungen an die zur Anhörung zuständige Behörde, wobei - wie das Bundesgericht bereits im Urteil i.S. Schiesser ausgeführt hat (E. 3a) - vor allem verhindert werden soll, dass die Anhörung in die Hände untergeordneter, weisungsabhängiger Beamter im besonderen der gerichtlichen Polizei fällt. Bei der in Art. 5 Ziff. 3 EMRK geforderten unverzüglichen Vorführung ![]() | 13 |
Aus dem Zweck dieser Vorführung sowie dem grundsätzlichen Anliegen nach Schutz der Person vor willkürlicher oder irrtümlicher Festnahme und Haft, welches dem Art. 5 EMRK insgesamt zugrunde liegt, ergeben sich einige weitere zwingende Forderungen. Es ist danach unerlässlich, dass die Anhörung nicht durch die Polizei erfolgt; ebenso zwingend ist, dass die für die Anhörung zuständige Behörde rechtlich und faktisch von der Regierung weisungsunabhängig ist und dass sie in bezug auf das durchzuführende Strafverfahren die nötige Fachkunde und Sachkompetenz besitzt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so dürfte das in der Regel genügen dafür, dass die mit Art. 5 Ziff. 3 EMRK erstrebte Garantie für eine rechtsstaatlich unbedenkliche Durchführung dieser ersten Anhörung vorhanden ist und die betreffende Behörde als Organ mit "richterlichen Funktionen" (genauer = "judicial power"/"fonctions judiciaires") im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK angesehen werden kann.
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