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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
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48. Auszug aus dem Urteil vom 20.9.1978 i.S. G. und F. gegen Staatsanwaltschaft und Kassationsgericht des Kantons Thurgau | |
Regeste |
Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Parteiöffentlichkeit der Beweiserhebungen im Strafprozess. |
2. Tragweite von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK in bezug auf Zeugenaussagen, die für das Strafurteil wesentlich sind oder sein könnten. Auch die aus dieser Bestimmung fliessenden Rechte des Beschuldigten unterstehen dem Regime des kantonalen Verfahrensrechts (E. 4c). | |
Sachverhalt | |
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Aus den Erwägungen: | |
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Diese Bestimmung ist offensichtlich primär auf das Parteiverfahren nach angelsächsischem Muster zugeschnitten (vgl. dazu z.B. JUNOD, La Suisse et la Convention européenne des droits de l'homme, Diss. NE, S. 50/1 und JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 118 f.). Das zeigen bereits die verwendeten Begriffe "Entlastungs-" und "Belastungszeugen", die zur kontinentaleuropäischen Untersuchungsmaxime nicht recht passen, gibt es doch hier keine Zeugen, die zum vornherein entlasten oder belasten sollen, sondern nur solche, die zur Aufklärung des objektiven Sachverhalts herangezogen werden. Natürlich kann das nicht hindern, dass ihre Aussagen den Angeklagten dann doch ent- oder belasten und diese daher von der Verteidigung oder der Anklage ins Feld geführt werden. Eigentliche Parteizeugen gibt es aber unter dem Regime der Untersuchungsmaxime nicht.
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b) Der ins Auge gefasste Artikel dient vorerst einmal, wie auch die kantonalen Instanzen festgehalten haben, der Waffengleichheit der Parteien (vgl. z.B. SCHUBARTH, ZSR 94 I S. 509 Nr. 166; GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 109/10; auch: Die Menschenrechte in der Praxis des Europarates, Nachschlagwerk der Rechtsprechung zur EMRK (1955-1967), Nr. 111 und 112; Annuaire de la Convention européenne des droits de l'homme [Ann.] XVII S. 315 Nr. 5523/72). Insbesondere sollen die Parteien unter einheitlichen Voraussetzungen Ladung und Einvernahme von Zeugen verlangen und unter gleichen Bedingungen Fragen an sie stellen können. Die Beschwerdeführer bringen vor, diese erste Garantie der Bestimmung sei vorliegend verletzt worden. Der thurgauische Verhörrichter müsse nämlich "nicht als Unparteiischer, sondern als Vertreter der Strafverfolgungsbehörden" gewertet werden. Daher hätte auch den Angeschuldigten die unmittelbare Teilnahme bei den Zeugeneinvernahmen während der Untersuchung zugestanden werden sollen. Diese Rüge ist unbegründet. Grundsätzlich ist in Fällen wie dem vorliegenden im Kanton Thurgau das Verhörrichteramt mit der Untersuchung betraut. Es ist institutionell wie personell von der anklageerhebenden Staatsanwaltschaft getrennt. Der Untersuchungsrichter, der gemäss § 84 StPO allen belastenden und ![]() | 6 |
c) Die Beschwerdeführer folgern aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK über die Waffengleichheit hinaus, es gelte der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit für Beweise, die bei der Urteilsfindung verwertet werden, gleichgültig, ob sie vor Gericht oder im Untersuchungsstadium erhoben werden.
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Zu prüfen ist demnach, ob Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und insbesondere der dort verankerte Gedanke, den Zeugen (der Gegenpartei) Fragen stellen zu können, im kontinentaleuropäischen System nicht noch eine weitere Bedeutung hat, als nur diejenige einer Gleichstellung der Parteien. Zweifellos muss die Vorschrift im Zusammenhang mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK gesehen werden, der dem Beschuldigten in jedem Falle einen fairen Prozess sichert. Vor diesem Hintergrund drängt sich nun die Frage auf, ob die ins Auge gefasste Bestimmung das direkte Verfahren des angelsächsischen Rechtes mit den im Parteienprozess jedenfalls äusserlich verstärkten eigenen Verteidigungsmöglichkeiten nicht bis zu einem gewissen Masse in den kontinentalen Prozess übertragen will.
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Für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage ist die Auslegung des Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK durch die Menschenrechtskommission heranzuziehen. Wegleitend muss vor allem der Entscheid Ann. XVI S. 113 ff. Nr. 5049/71, insbes. S. 123, sein. Es handelte sich dort um einen Fall, wo auf dem Rechtshilfeweg ein Zeuge einvernommen worden war, der die Angeklagten belastete. Weder den Beschuldigten oder ihren Verteidigern noch der Anklagebehörde (wohl aber einem Ausschuss des urteilenden Gerichts) hatte man die Anwesenheit gestattet. Die Angeklagten, bzw. ihre Verteidiger, hatten aber die gemachten ![]() | 9 |
Der Zweck von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verlangt ausserdem, dass der Beschuldigte allgemein auch Zeugen anrufen kann. Von ihrer Einvernahme darf nur abgesehen werden, wenn sie für die Sachentscheidung nichts wesentliches beizutragen vermögen. Die Menschenrechtskommission hat sich bei der Auslegung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK allerdings stets vom Gedanken leiten lassen, dass den Strafgerichten ein beträchtlicher ![]() | 10 |
(a) dass die Vernehmung von Zeugen in der Untersuchung durch einen neutralen Untersuchungsrichter ohne Beizug des Angeschuldigten überhaupt unzulässig sei;
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(b) dass dem Untersuchungsrichter und dem Gericht nicht die Freiheit zustehe, vom Angeschuldigten angerufene Zeugen auf Grund einer antizipierten Beweiswürdigung wegen Unerheblichkeit der zu erwartenden Aussagen nicht vorzuladen;
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(c) dass dem Beschuldigten mehrmals Gelegenheit geboten werden müsse, zu verlangen, dass Zeugen in seiner Gegenwart oder ein zweites Mal ergänzend befragt werden.
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Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK zum Teil über die auf Grund von Art. 4 BV in der Praxis gewährleisteten Rechte hinausgeht: Es ist dem Beschuldigten unabhängig von der Ausgestaltung des kantonalen Prozessrechts mindestens einmal während des Verfahrens Gelegenheit zu geben, der Einvernahme von Zeugen, die ihn belasten, beizuwohnen und Ergänzungsfragen zu stellen oder aber, sofern er der Vernehmung nicht beiwohnen kann, nach Einsicht in die Aussagen schriftlich ergänzende Fragen anzubringen. Das hindert nicht, dass auch dieses prozessuale Recht unter dem Regime des kantonalen Verfahrensrechtes steht. Es kann den Kantonen nicht verwehrt sein, die Einhaltung gewisser Vorschriften bei der Ausübung dieses Rechtes zu verlangen, so etwa, dass entsprechende Anträge frist- und formgerecht gestellt werden. Es scheint auch klar, dass auf dieses Recht ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden kann und dass ein solcher Verzicht die Zeugenaussagen weder nichtig macht, noch einen Anspruch auf Wiederholung entstehen lässt.
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