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32. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juli 1979 i.S. Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke gegen Kernkraftwerk Kaiseraugst AG, Bezirksgericht Rheinfelden und Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 und 58 BV; Ausstand eines Gerichts in seiner Gesamtheit. |
2. Aus Art. 58 Abs. 1 BV ergibt sich, dass der Ausstand eines Gerichts in seiner Gesamtheit nur aus erheblichen Gründen bewilligt werden soll (E. 6a und b). |
3. Abwägung im konkreten Fall (E. 6c). | |
Sachverhalt | |
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Am 5. Juni 1975 reichte das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke beim Bezirksgericht Rheinfelden Klage gegen die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG ein mit dem Antrag, es sei der Beklagten der Bau des Kernkraftwerkes Kaiseraugst zu verbieten; eventualiter sei der Bau nur mit solchen Auflagen zu gestatten, die Leben und Gesundheit der Bevölkerung und deren Nachkommen hinreichend sicherstellen. Die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG beantragte, die Klage abzuweisen.
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Das Bezirksgericht führte den Schriftenwechsel durch und beschloss schliesslich am 15. November 1978, in allen mit dem Kernkraftwerk Kaiseraugst zusammenhängenden Straf- und Zivilprozessen in seiner Gesamtheit in den Ausstand zu treten. Es begründete diesen Beschluss mit dem Austrittsgrund des früheren Handelns in derselben Streitsache (§ 17 lit. g ZPO und § 41 Ziff. 3 StPO).
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Das Obergericht des Kantons Aargau (I. Zivilabteilung) behandelte Disp. 2 dieses Beschlusses als den erwähnten Zivilprozess betreffendes Ausstandsbegehren und stellte es den Parteien zur Vernehmlassung zu. Das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke beantragte, das Gesuch abzulehnen; die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG erklärte, sie habe gegen das Begehren nichts einzuwenden.
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Mit Beschluss vom 23. Februar 1979 bewilligte die I. Zivilabteilung des Obergerichtes das Ausstandsbegehren des Bezirksgerichts Rheinfelden und beauftragte das Bezirksgericht Bremgarten mit der Behandlung und Beurteilung des Zivilprozesses. Zur Begründung wurde ausgeführt, zwar sei der vom Bezirksgericht Rheinfelden genannte Ausstandsgrund von § 17 ![]() | 5 |
Das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, diesen Entscheid aufzuheben. Es stützt sich auf die Art. 4 und 58 BV, ferner auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK und auf Art. 55 der aargauischen Kantonsverfassung. Auf die Begründung der Beschwerde wird im übrigen im Zusammenhang mit den rechtlichen Erwägungen einzutreten sein, soweit dies erforderlich ist. Die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Die I. Zivilabteilung des Obergerichtes hat eine kurze Vernehmlassung eingereicht, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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Die Handhabung kantonaler Gesetzes- oder Verordnungsbestimmungen prüft das Bundesgericht, sofern nicht ein besonders schwerer Eingriff in ein verfassungsmässiges Recht vorliegt, nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Frei prüft es dagegen, ob die als willkürfrei erkannte Auslegung des kantonalen ![]() | 9 |
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b) Weiter ist zu untersuchen, ob das Obergericht die Art. 17 ff. ZPO willkürlich ausgelegt hat, indem es den Ausstandsgrund der "Besorgnis der Befangenheit" (§ 18 Abs. 2 und 4 ZPO) als gegeben erachtet hat.
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Nach § 18 Abs. 2 ZPO besteht Besorgnis der Befangenheit, wenn Gründe vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Das Gesetz verlangt also nicht, das bereits eine konkrete Befangenheit vorliegt, sondern legt Gewicht darauf, jedes Handeln eines auch nur nach den Umständen als befangen erscheinenden Richters im vorneherein auszuschliessen.
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Wann Besorgnis der Befangenheit vorliegt, lässt sich nach der Natur dieses Begriffs nicht in allgemeiner Form ausdrücken. Zwar kann die blosse Behauptung der Befangenheit für sich allein nicht genügen, sondern sie muss durch objektive Umstände gestützt sein. Da es sich bei der Befangenheit um einen inneren Zustand handelt, können an ihren Nachweis aber keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden (GEISER, Über den Ausstand des Richters im schweizerischen Zivilprozessrecht, Winterthur 1957, S. 66).
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Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Kampf um das Kernkraftwerk Kaiseraugst im Bezirk Rheinfelden mit besonderer Intensität geführt wird. Es ist daher durchaus denkbar, dass sich die im Bezirk wohnhaften Richter in einer dieses Kernkraftwerk betreffenden Streitsache nicht mehr völlig frei fühlen. Das Obergericht ist unter diesen Umständen nicht in Willkür verfallen, wenn es der im Ausstandsbegehren sinngemäss zum Ausdruck kommenden Erklärung sämtlicher Mitglieder des Bezirksgerichts Rheinfelden, sie fühlten sich ausserstande, den ![]() | 14 |
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Lehre und Praxis haben den Art. 58 Abs. 1 BV vor allem nach zwei Richtungen hin entwickelt, was im folgenden näher zu betrachten ist:
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a) Einerseits will Art. 58 Abs. 1 BV eine durch Rechtssatz bestimmte Gerichtsordnung garantieren. Es soll nicht durch die Auswahl von ad hoc und ad personam berufenen Richtern die Entscheidung selbst beeinflusst werden (MÜLLER, Die Garantie des verfassungsmässigen Richters in der Bundesverfassung, ZBJV 1970, 249 ff., 253; BEYELER, Das Recht auf den verfassungsmässigen Richter als Problem der Gesetzgebung, Zürich 1978, S. 24 ff.; ähnlich: GRAVEN, La garantie du juge naturel et l'exclusion des tribunaux d'exception, in: Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht, Zürich 1948, S. 209 ff., 219 f.). Dieser Grundsatz war historisch vor allem gegen Einwirkungen von aussen, namentlich gegen jede Form von Kabinettsjustiz gerichtet. In der Lehre wird heute indessen die Auffassung vertreten, die Garantie erfasse auch den Anspruch, dass niemand zufolge von Entscheiden innerhalb der Gerichtsorganisation vor einem willkürlich berufenen Richter Recht nehmen müsse (MÜLLER, a.a.O., S. 253; BEYELER, a.a.O., S. 24 ff., 48 f., 104 ff. und die dort angeführten Verweisungen auf die ausländische Literatur).
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b) Allerdings verbürgt die regelhafte Umschreibung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit der Gerichtsbehörden für sich allein noch nicht die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Zur formellen Zuständigkeitsordnung treten vielmehr Bestimmungen hinzu, die verhindern sollen, ![]() | 18 |
c) Zwar gehören auch die Bestimmungen über den Ausstand zu den Zuständigkeitsvorschriften. Wird aber zufolge Ausstandes oder Ablehnung ein Richter oder ein ganzes Gericht in einem bestimmten Fall von seiner Amtspflicht entbunden, so hat dies zur Folge, dass nicht der primär für diesen Streit vorgesehene, sondern ein gesetzlich nur subsidiär zuständiger oder sogar ein durch Einzelverfügung bestellter Richter in dieser Sache entscheiden muss. Der Anspruch auf einen unparteiischen Richter steht daher mit dem Anspruch auf den (primär) gesetzlich vorgesehenen Richter in einem gewissen Spannungsverhältnis, dem bei der Konkretisierung des Art. 58 Abs. 1 BV Rechnung zu tragen ist.
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b) Im Gegensatz zur Mehrheit der schweizerischen Kantone sieht § 21 der aargauischen ZPO vor, dass der Ausstand nicht bloss einzelnen Gerichtspersonen, sondern auch einem Gericht in seiner Gesamtheit bewilligt werden kann. Ähnliche Regeln finden sich beispielsweise in Art. 42 Abs. 3 der waadtländischen und in § 69 Abs. 1 der thurgauischen Zivilprozessordnung. Ausserdem wird dieses Vorgehen in einzelnen weiteren Kantonen (z.B. Wallis) praktiziert, ohne dass eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dafür bestünde. Andere Kantone treffen Vorsorge für den Fall, dass wegen Ablehnung einer Mehrzahl der Richter eines Gerichts dieses nicht mehr vollzählig amten ![]() | 22 |
Die Kantone sind kraft ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeit für das Gerichtswesen befugt, solche Regeln zu erlassen. Diese verstossen als solche nicht gegen Art. 58 Abs. 1 BV. Ihre Anwendung im Einzelfall kann jedoch diese Bestimmung verletzen, wenn sie ohne triftige Gründe erfolgt. Insbesondere wird sie in der Regel strenger sein müssen, als dies bei der Bewilligung des Ausstandes einzelner Gerichtspersonen der Fall ist, da eine solche Zuteilung einer Streitsache an ein anderes als das primär zuständige Gericht die Garantie des Art. 58 Abs. 1 BV stärker tangiert als der Ausstand eines einzelnen Gerichtsmitgliedes. Wie es sich damit im vorliegenden Fall verhält, wird im folgenden zu untersuchen sein. Das Bundesgericht ist - wie erwähnt - bei der Prüfung dieser Fragen grundsätzlich frei, übt aber bei der Würdigung der besonderen örtlichen, sachlichen und persönlichen Verhältnisse des Einzelfalles Zurückhaltung (BGE 101 Ia 256 f. E. 3c, 481 E. 5c).
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c) Dem Bezirksgericht Rheinfelden wurde der Ausstand bewilligt, weil der geplante Bau eines Kernkraftwerks in Kaiseraugst zu grossen Spannungen und heftigen Streitigkeiten zwischen Kernkraftgegnern und der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG geführt hatte, welche nach den Feststellungen des Obergerichts einen erheblichen Teil der Bevölkerung in ihren Bann gezogen haben. Das Obergericht hält es unter diesen Umständen ![]() ![]() | 24 |
Das Obergericht hat aber zu Recht den Ausstand nur für den vorliegenden Zivilprozess bewilligt. Sollten später weitere mit dem Kernkraftwerk zusammenhängende Verfahren anhängig werden, so muss die Frage des Ausstandes, falls sie aufgeworfen wird, erneut und für jeden Fall gesondert geprüft werden. Es ist nicht auszuschliessen, dass sich dannzumal die Situation beruhigt hat oder dass die Mitglieder des Gerichts in der Zwischenzeit eine gewisse Distanz zu den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit gewonnen haben. Von Richtern muss verlangt werden, dass sie sich nach Kräften bemühen, ihre solchen Anfechtungen ausgesetzte innere Freiheit wieder zu erlangen.
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7. Die Beschwerdeführer berufen sich ausserdem auf Art. 55 KV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Sie tun aber nicht dar, dass Art. 55 KV eine grössere Tragweite zukommt als Art. 58 Abs. 1 BV. Ebensowenig ist ersichtlich, inwieweit Art. 6 Ziff. 1 EMRK weitergehende Garantien innewohnen sollten als diejenigen, welche aus Art. 58 Abs. 1 BV folgen. Soweit die Beschwerdeführer endlich die Unparteilichkeit des Bezirksgerichts Bremgarten in Zweifel ziehen, fehlt es an einer konkreten Begründung, so dass hierauf nicht näher einzugehen ist (Art. 90 Abs. 1 OG).
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