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39. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juli 1979 i.S. Z. und Mitbeteiligte gegen X. AG und Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; rechtliches Gehör. | |
Sachverhalt | |
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Wenn mehrere Personen gemeinsam klagen wollen oder gemeinsam eingeklagt werden sollen und das Handelsgericht nur für einzelne von ihnen zuständig ist, so bestimmt das Obergericht auf Antrag eines Klägers, ob das Handelsgericht oder das Bezirksgericht für sämtliche Streitgenossen zuständig ist.
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Die X. AG (in Nachlassliquidation) führt gegen die Y. AG, welche bei der X. AG als Kontrollstelle gewirkt hatte, sowie gegen vier Verwaltungsräte (Z. und Konsorten) einen Verantwortlichkeitsprozess. Für die Y. AG wäre nach § 62 GVG das Handelsgericht, für die vier Verwaltungsräte das Bezirksgericht sachlich zuständig. Gestützt auf § 65 GVG stellte die X. AG am 7. November 1978 beim Obergericht des Kantons Zürich das Gesuch, das Handelsgericht sei für sämtliche Streitgenossen als zuständig zu erklären. Das Obergericht bewilligte das Gesuch mit Beschluss vom 13. November, ohne den Beklagten Gelegenheit zu vorgängiger Stellungnahme einzuräumen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zunächst grundsätzlich von den kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben; erst wo sich dieser Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden bundesrechtlichen Minimalgarantien Platz. Während das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts grundsätzlich nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der ![]() | 6 |
a) § 65 GVG gibt der Gegenpartei keinen Anspruch auf Anhörung vor Erlass der Verfügung des Obergerichts. Ein allfälliger Gehörsanspruch kann sich jedenfalls nicht auf diese Bestimmung stützen. Dass eine abweichende Praxis besteht, behaupten die Beschwerdeführer nicht. Es ist daher einzig zu prüfen, ob durch den angefochtenen Entscheid der aus Art. 4 BV fliessende Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden ist.
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b) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung besitzen die Parteien in Zivil- und Strafsachen einen unbedingten Anspruch, vor Erlass eines Entscheides, der sie belastet oder belasten könnte, angehört zu werden (BGE 101 Ia 296 E. 1d mit Verweisungen; BGE 96 I 323 E. 2b; BGE 94 I 109). Im Verwaltungsverfahren ist dieser Anspruch dagegen nach der Praxis nicht in so umfassender Weise garantiert, sondern nur dann, wenn der Betroffene durch den Entscheid beschwert werden könnte, das öffentliche Interesse keine sofortige Entscheidung verlangt und die einmal getroffene Massnahme weder mit einem ordentlichen, die freie Überprüfung gestattenden Rechtsmittel angefochten noch von der verfügenden Behörde selbst uneingeschränkt in Wiedererwägung gezogen werden kann (BGE 99 Ia 46 E. 3b, BGE 98 Ia 8 E. 2c; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 179 ff.; REINHARDT, Das rechtliche Gehör in Verwaltungssachen, Zürich 1968, S. 69 ff.; 102 ff., 115 ff.).
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aa) Nach der unangefochten gebliebenen Auffassung des Kassationsgerichts betrifft der Entscheid des Obergerichts eine Angelegenheit der Justizverwaltung, nicht der Gerichtsbarkeit. Das Kassationsgericht erachtet die gerichtliche Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit als Parallelfall zur Festsetzung des Gerichtsstandes durch das Obergericht gemäss § 14 ZPO (ähnlich: WALDER, Der neue zürcherische Zivilprozess, Zürich 1977, S. 73 N. 144 und 99 N. 46). Seine Ausführungen über die Natur des Entscheides gemäss § 65 GVG sind indessen - wie zu zeigen sein wird - nicht entscheidend für die Frage, ob nach der bundesrechtlichen Minimalgarantie des rechtlichen Gehörs ein Anspruch der Gegenpartei auf Anhörung besteht, bevor das Obergericht die sachlich zuständige Gerichtsbehörde bestimmt.
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bb) Es fragt sich nämlich, ob es im Lichte des aus Art. 4 BV ![]() | 10 |
Im Verwaltungsverfahren hat das Bundesgericht andererseits den Anspruch auf rechtliches Gehör zunächst grundsätzlich verneint und ihn nur in einzelnen, nach und nach erweiterten Sachgebieten zugelassen (vgl. die Nachweise bei TINNER, a.a.O., S. 366 ff.). Heute ist er dem Grundsatze nach allgemein anerkannt. Die Einschränkungen, welche er nach der Praxis im Verwaltungsverfahren erfährt, werden durch das Bundesgericht vor allem mit der ungleichen Stellung der entscheidenden Behörde begründet; im Verwaltungsverfahren habe diese nicht bloss auf Grund von Parteibehauptungen und im Rahmen gestellter Begehren zu entscheiden, sondern von Amtes wegen über die richtige Anwendung des Gesetzes zu befinden (BGE 99 Ia 46 E. 3b). Diese Erwägung ist diskutabel. Einerseits hat auch der Strafrichter nach der materiellen Wahrheit zu forschen, andererseits treffen die Ausführungen über die Stellung der Verwaltungsbehörde für Verwaltungsgerichtsinstanzen nicht in gleicher Weise zu.
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Gesamthaft ist die Tendenz der Rechtsprechung offensichtlich, die einzelnen Verfahrensarten hinsichtlich des Anspruches auf rechtliches Gehör einander anzunähern. Es rechtfertigt sich daher heute nicht mehr, für die Umschreibung des aus Art. 4 BV folgenden Minimalanspruches strikte zwischen Zivil- und Strafverfahren einerseits, verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten andererseits zu unterscheiden.
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Ob ein Bürger vor Erlass einer bestimmten Anordnung angehört werden muss, ist demnach, soweit keine besonderen gesetzlichen Regeln bestehen, im Einzelfall oder für bestimmte Fallgruppen in Abwägung der oben entwickelten Gesichtspunkte zu entscheiden (vgl. TINNER, a.a.O., S. 377 ff.).
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3. Der angefochtene Entscheid, mit dem das Handelsgericht für den Verantwortlichkeitsprozess als zuständig erklärt wurde, ist eine grundlegende prozessleitende Verfügung. Gegen diesen Entscheid ist nach zürcherischem Recht kein Rechtsmittel ![]() | 15 |
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a) Die Gerichtsorganisation steht in der Zuständigkeit der Kantone (Art. 64 Abs. 3 und 64bis Abs. 3 BV). Diese sind von Bundes wegen nicht dazu verpflichtet, den gerichtlichen Instanzenzug in einer bestimmten Weise zu konzipieren, insbesondere eine bestimmte Anzahl von funktionell einander über- und untergeordneten Gerichtsbehörden zu schaffen (vgl. STRÄULI/MESSMER, a.a.O., N. 1 und 2 zu § 17 ZPO; BURCKHARDT, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, 3. Auflage, Bern 1931, zu Art. 58, S. 533). So haben verschiedene Kantone (z.B. Zürich, Bern, St. Gallen) für handelsrechtliche Streitigkeiten Handelsgerichte geschaffen, in welchen der Beizug wirtschaftlich sachverständiger Personen eine rasche und fachkundige Beurteilung solcher Fälle gewährleisten soll. Dem Nachteil des Verlustes einer Instanz stehen somit gewichtige Vorteile gegenüber. Dies ist namentlich bei Streitigkeiten wie der hier in Frage stehenden aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsklage der Fall. Die verschiedenen gesetzlich vorgesehenen Verfahrensarten können daher grundsätzlich als gleichwertig gelten.
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b) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Er besteht, wenn seine Voraussetzungen gegeben sind, unabhängig davon, ob die ergangene Verfügung in der Sache als haltbar erscheint oder nicht (BGE 103 Ia 140 mit Verweisungen).
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Zweifellos besteht gerade für Prozesse von der Art der zwischen den Parteien hängigen Verantwortlichkeitsklage ein erhebliches Interesse an Erledigung in ein und demselben Verfahren.
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§ 65 GVG ist dem § 14 ZPO nachgebildet, welcher einen analogen Entscheid des Obergerichts über den Gerichtsstand vorsieht, wenn mehrere Personen beklagt werden, für die nicht dasselbe ordentliche Gericht örtlich zuständig wäre. Auch dort ist keine Vernehmlassung vorgeschrieben und nach der Praxis offenbar auch nicht üblich (STRÄULI/MESSMER, N. 4 zu § 14 ZPO). Ob diese Praxis zu § 14 ZPO vor Art. 4 BV standhält, kann hier offen bleiben. Dagegen fragt sich, ob sie vorbehaltlos auf den Entscheid über die sachliche Zuständigkeit gemäss § 65 GVG übertragen werden kann, denn anders als bei § 14 ZPO hat dieser Entscheid Unterschiede im Instanzenzug zur Folge.
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Aus den Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts (§§ 61 ff. GVG) ergibt sich, dass natürliche Personen, welche nicht als Firma im schweizerischen oder in einem ausländischen Handelsregister eingetragen sind oder an ihrem ausländischen Wohnort als selbständige Kaufleute gelten, ohne ihre Zustimmung nur dann, wenn es vom Gesetz zwingend vorgesehen ist (§ 61 GVG), als Beklagte vor Handelsgericht belangt werden können (§§ 62 und 63 GVG). Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet § 65 GVG. Im Gegensatz zu § 61 GVG ist hier die Zuständigkeit des Handelsgerichts aber nicht in generell-abstrakter Weise zwingend angeordnet, sondern das Obergericht hat im Einzelfall nach freiem Ermessen darüber zu entscheiden. Der Entscheid richtet sich nach den Ausführungen des Kassationsgerichts nach Zweckmässigkeitskriterien.
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Der Verlust einer Instanz mit freier Beweiswürdigung führt zu einer wesentlichen Straffung des Verfahrens. Nicht die Durchsetzung des materiellen Rechts an sich ist erschwert, wohl aber wird die Dauer des Prozesses verkürzt, und die Anforderungen an die Sorgfalt der Parteien werden erhöht. Einer Partei mag die Konzentration des Verfahrens auf eine Instanz mit Tatsachenkognition als Vorteil erscheinen, während einer anderen, beispielsweise einer prozessungewohnten Person, die Möglichkeit der Berufung an eine weitere Tatsacheninstanz willkommen wäre. Vorteile und Nachteile der beiden ![]() | 23 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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