BGE 106 Ia 13 | |||
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5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. Februar 1980 i.S. Vormundschaftsbehörde X. gegen Y. und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; unrichtige Rechtsmittelbelehrung, unklarer Gesetzeswortlaut. |
2. Behandlung des Falles, in welchem der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers zwar die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung erkennt, aber zusätzlich durch einen unklaren Gesetzeswortlaut irregeführt wird (E. 4). | |
Sachverhalt | |
Die Vormundschaftsbehörde X. hatte am 7. Juli 1977 vormundschaftliche Massnahmen gegenüber den vier Kindern der Eheleute Y. angeordnet. Frau Y. hatte gegen diesen Beschluss beim Regierungsstatthalter von Z. Beschwerde erhoben. Als die Eheleute Y. am 23. März 1979 geschieden wurden, stellte der Richter zwei der Kinder unter Vormundschaft, die beiden anderen unter die elterliche Gewalt der Mutter. Der Regierungsstatthalter schrieb in der Folge das Beschwerdeverfahren am 15. Mai 1979 als gegenstandslos ab. Die Rechtsmittelbelehrung lautete:
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"Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Erhalt beim Regierungsrat des Kantons Bern Beschwerde geführt werden."
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Die Vormundschaftsbehörde X. liess den Abschreibungsbeschluss beim Regierungsrat anfechten. Die Beschwerde wurde durch die von der Vormundschaftsbehörde beauftragte Anwältin am 27. Tage nach der Zustellung des Beschlusses eingereicht. In seinem Entscheid vom 24. Oktober 1979 verweigerte der Regierungsrat das Eintreten auf die Beschwerde mit der Begründung, die Anfechtungsfrist habe nach Art. 80 Abs. 3 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG) zehn Tage betragen. Auf die unrichtige Rechtsmittelbelehrung könne sich die Vormundschaftsbehörde nicht berufen, da die Anwältin bei sorgfältiger Prüfung in der Lage gewesen wäre, den Fehler zu erkennen und rechtzeitig zu handeln.
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Mit fristgerechter staatsrechtlicher Beschwerde lässt die Vormundschaftsbehörde X. beantragen, der Entscheid des Regierungsrates vom 24. Oktober 1979 sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Behandlung an den Regierungsrat zurückzuweisen.
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Die Justizdirektion des Kantons Bern beantragt namens des Regierungsrates die Abweisung der Beschwerde. Frau Y. reicht eine Stellungnahme ein, enthält sich aber eines Antrages in der Sache. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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"Gegen prozessleitende Verfügungen einer untern Verwaltungsjustizbehörde kann in folgenden Fällen bei der sachlich zuständigen obern Instanz Beschwerde geführt werden wegen:
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- Verzögerung oder Verweigerung einer gesetzlichen Rechtshilfe;
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- Bewilligung einer gesetzwidrigen Rechtshilfe;
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- ungebührlicher Behandlung der Parteien oder dritter Personen im Verfahren;
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- Formverletzung.
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Richtet sich die Beschwerde gegen den Präsidenten oder das prozessleitende Mitglied einer Kollegialbehörde, so ist diese zur Beurteilung zuständig.
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Die Beschwerdefrist beträgt zehn Tage seit Kenntnis des Sachverhalts;
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wegen Rechtsverzögerung oder Rechtsverweigerung kann jederzeit Beschwerde geführt werden."
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b) Die Vertreterin der Beschwerdeführerin legt dar, sie habe keineswegs blind auf die angegebene Rechtsmittelbelehrung vertraut, sondern sogleich den ihr bekannten Art. 80 VRPG zu Rate gezogen. Angesichts des Wortlautes dieser Bestimmung sei sie zum Schluss gelangt, die darin abschliessend aufgeführten Voraussetzungen der auf zehn Tage befristeten Prozessbeschwerde seien allesamt nicht gegeben, sondern es liege ein Fall von Rechtsverweigerung vor. Gemäss Art. 80 Abs. 3 VRPG könne wegen Rechtsverweigerung jederzeit Beschwerde geführt werden; aus dem Gesetzestext ergebe sich jedenfalls nicht zwingend, dass Abschreibungsbeschlüsse innert zehn Tagen anzufechten seien, wenn Rechtsverweigerung geltend gemacht werde. Für alle Fälle habe sie jedoch die vom Regierungsstatthalter angesetzte Frist gewahrt. Selbst wenn der Regierungsrat die Praxis zu Art. 80 VRPG inzwischen geändert haben sollte, könne dem Anwalt nicht zugemutet werden, im Rahmen der summarischen Prüfung anlässlich der Mandatsübernahme eingehende Untersuchungen über die bestehende Praxis anzustellen.
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c) Der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid und die Justizdirektion in der Vernehmlassung vertreten im wesentlichen übereinstimmend die Auffassung, eine falsche Rechtsmittelbelehrung dürfe einer Partei zwar grundsätzlich nicht zum Schaden gereichen. Eine Ausnahme gelte indessen dann, wenn es der betreffenden Partei oder deren Anwalt mit der nötigen Sorgfalt möglich gewesen wäre, den Fehler zu erkennen. Dies treffe hier zu. Die Justizdirektion weist darauf hin, dass Art. 80 VRPG zu knapp formuliert sei und ohne Ergänzung durch die Praxis nicht verstanden werden könne. Lehre und Praxis hätten diese Bestimmung mittlerweile aber unmissverständlich konkretisiert (MBVR 1975, S. 317 ff.; BVR 1976, S. 88; BÜRGI, die Prozessbeschwerde, BVR 1978, S. 323 ff., insbesondere 331 ff.), so dass klargestellt sei, dass gegen Abschreibungsbeschlüsse die Prozessbeschwerde auch dann innert zehn Tagen einzureichen sei, wenn damit Rechtsverweigerung geltend gemacht werde.
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3. a) Es besteht eine reiche bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, unter welchen Umständen sich eine Partei auf eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung verlassen darf. Im Urteil BGE 78 I 297 f. findet sich eine erste Zusammenfassung. Unter Hinweis auf frühere Entscheide (BGE 77 I 274, BGE 76 I 190) wird zunächst der Grundsatz aufgestellt, dass einer Partei, welche sich auf eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung verliess und verlassen durfte, daraus kein Nachteil erwachsen darf. Es wird aber betont, dass nur derjenige diesen Vertrauensschutz anrufen darf, der keinen Grund hatte, an der Rechtsmittelbelehrung zu zweifeln oder - sofern die Belehrung missverständlich war - durch sie in einen Irrtum versetzt wurde. Aufgrund dieser Erwägungen wurde die Beschwerde einer Partei abgewiesen, deren Anwalt eine falsche Rechtsmittelfrist durch eine Angestellte ohne jede Kontrolle in die Agenda hatte übertragen lassen und sich erst am letzten Tag der so eingetragenen unrichtigen Frist mit dem Fall befasst hatte. Dem Anwalt wurde zur Last gelegt, den angefochtenen Entscheid überhaupt nicht geprüft zu haben; andernfalls hätte er unmittelbar aus dem Gesetz ersehen müssen, dass die Rechtsmittelfrist kürzer sei, als angegeben wurde.
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Im Urteil BGE 96 II 72 f. wurde die Rechtsprechung zu dieser Frage präzisiert. Das Bundesgericht führte aus, auf eine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung dürfe sich die Partei nur dann nicht verlassen, wenn sie die Voraussetzungen des in Frage stehenden Rechtsmittels tatsächlich gekannt habe, so dass sie durch die falsche Belehrung nicht irregeführt worden sei, oder wenn die Unrichtigkeit für sie Ohne weiteres klar erkennbar gewesen sei. Es trat demgemäss auf eine verspätete Beschwerde ein, da es annahm, auf den ersten Blick, d.h. allein aufgrund des Gesetzestextes, seien gewisse Zweifel an der anwendbaren Frist möglich gewesen. Diese Zweifel hätten sich zwar durch Konsultation veröffentlichter Entscheide und von Hinweisen in der Tages- und Fachpresse beseitigen lassen; doch lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Anwalt des Beschwerdeführers diese Veröffentlichungen vor Fristablauf tatsächlich gelesen habe. Es könne ihm deshalb kein Vorwurf gemacht werden, dass er die vom Gericht erteilte Rechtsmittelbelehrung nicht anhand der ihm zugänglichen Publikationen auf ihre Richtigkeit hin überprüft habe. Ähnlich äussern sich dem Sinne nach BGE 96 III 99 f. und BGE 98 Ia 608. BGE 98 V 278 f. führt schliesslich aus, es sei jeweils nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu prüfen, ob die betroffene Partei durch den gerügten Eröffnungsmangel tatsächlich irregeführt und dadurch benachteiligt worden sei. Richtschnur sei der auch in diesem prozessualen Bereich geltende Grundsatz von Treu und Glauben, an welchem die Berufung auf Formmängel ihre Grenze finde. Im gegebenen Falle wurde einer Ausgleichskasse die Berufung auf eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung in einem Rekursentscheid verwehrt, weil sie ihrer Funktion entsprechend die Rechtsmittelfristen von Amtes wegen kennen müsse.
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b) Aus der vorstehenden Darstellung der Rechtsprechung ergibt sich, dass grundsätzlich niemandem, der sich auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat und verlassen durfte, daraus ein Nachteil erwachsen darf. Ebenso steht fest, dass derjenige, der die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung kennt, sich nicht darauf berufen kann, denn in diesem Fall verstiesse sein Verhalten offensichtlich gegen Treu und Glauben. Dazwischen liegt ein Grenzgebiet, in welchem die jeweilige Lösung nicht ein für allemal der Rechtsprechung entnommen werden kann, sondern durch Abwägung im Einzelfall zu gewinnen ist, wobei wiederum der Grundsatz von Treu und Glauben die Leitlinie bildet. Zu dieser Kategorie gehören namentlich diejenigen Fälle, in denen der Adressat der mit einer falschen Rechtsmittelbelehrung versehenen Verfügung in einen Irrtum versetzt wird, diesen jedoch bei grösserer Aufmerksamkeit hätte vermeiden können. In dieser Situation tritt zum Fehler der Behörde ein solcher der betroffenen Partei (oder ein ihr zuzurechnender Fehler ihres Anwaltes) hinzu. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen wird ein solcher Fehler in der Regel dann zu einem Nichteintretensentscheid führen, wenn er so schwer wiegt, dass die Fehlleistung der Partei, nämlich die verspätete Eingabe, nicht mehr als natürliche und begreifliche Folge der irrtümlichen Rechtsmittelbelehrung angesehen werden kann. Dies führt dazu, dass nur grobe Fehler der von der Verfügung betroffenen Partei oder ihres Vertreters geeignet sind, eine falsche Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen. In der Regel wird dies praktisch bedeuten, dass sich der Private dann nicht auf das durch diese Rechtsmittelbelehrung erweckte Vertrauen berufen kann, wenn er oder sein Anwalt deren Unrichtigkeit durch Konsultierung des massgebenden Gesetzestextes allein erkennen konnte, dass aber der Vertrauensschutz dort Platz greift, wo neben diesem Text auch Literatur oder Rechtsprechung nachgeschlagen werden muss, um den Fehler mit Sicherheit feststellen zu können. Diese Überlegung entspricht neuzeitlichem, verstärkte Anforderungen an die Pflichten des Staates gegenüber dem Bürger stellendem Rechtsempfinden (vgl. SALADIN, Das Verfassungsprinzip der Fairness, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, Basel 1975, S. 41 ff., 56 ff.; IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Auflage, Basel 1976, Nr. 86 B II und III).
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Die Justizdirektion tut nun überzeugend dar, dass bei eingehenderer Prüfung der Frage für einen Anwalt angesichts der klaren Lehre und Praxis kein Zweifel mehr hätte fortbestehen können, dass die Prozessbeschwerde gegen Abschreibungsbeschlüsse auch dann innert zehn Tagen einzureichen ist, wenn mit ihr Rechtsverweigerung geltend gemacht wird. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Beschwerde abzuweisen ist. Die vorstehend unter Ziffer 3 dargelegte Praxis zu den Folgen falscher Rechtsmittelbelehrung und die ihr zu entnehmenden Leitlinien lassen sich sinngemäss auch auf Fälle der hier zu beurteilenden Art übertragen. Danach können nur solche Fehler zu Ungunsten einer Partei ausschlagen, welche nach den Umständen und nach den Rechtskenntnissen der Partei oder ihres Vertreters als grob anzusehen sind. Dies lässt sich im vorliegenden Fall nicht sagen. Regierungsrat und Justizdirektion anerkennen selber, dass der Wortlaut des Art. 80 VRPG unklar ist. Die richtige Schlussfolgerung aus dem Gesetzestext musste sich nicht auf den ersten Blick aufdrängen. Dafür, dass die Anwältin der Beschwerdeführerin die einschlägigen Entscheide gekannt habe, findet sich in den Akten kein Anhaltspunkt. Hätten demnach zur eindeutigen Klarstellung der Rechtslage Judikatur und Literatur nachgeschlagen werden müssen, so erscheint der Fehler auch bei einer Anwältin nicht als derart grob, dass es sich gerechtfertigt hätte, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Dieses Ergebnis trägt namentlich auch dem Gesichtspunkt Rechnung, dass der Anwalt, bei dessen Kanzlei im allgemeinen eine ganze Reihe von Fällen anhängig ist, diese notwendigerweise in einer gewissen Reihenfolge bearbeiten muss, wobei es durchaus sachgemäss ist, sich im Normalfall nach dem Ablauf der Rechtsmittelfrist zu richten. Bei einer derartigen Arbeitsorganisation kann dem Anwalt nicht zugemutet werden, neu eingehende Fälle, bei denen die Ergreifung eines Rechtsmittels in Frage steht, anlässlich ihres Einganges einer die summarische Durchsicht übersteigenden Prüfung zu unterziehen.
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