BGE 106 Ia 58 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. März 1980 i.S. Peduzzi und Mitbeteiligte gegen Gemeinde Vaz/Obervaz und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; Baubewilligungsverfahren. | |
Sachverhalt | |
Gegen ein Baugesuch der Gemeinde Vaz/Obervaz für das regionale Sportzentrum Dieschen erhoben 108 Stockwerkeigentümer der Soleval-Überbauung Einsprache, weil sie von der im Projekt mitenthaltenen Kunsteisbahn unzumutbare Lärmimmissionen befürchteten. Der Gemeindevorstand wies die Einsprache ab, versah die Baubewilligung indessen mit Auflagen, die eine Beschränkung der Immissionen auf das "Kurortsübliche" bezweckten. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies den von den Einsprechern dagegen erhobenen Rekurs mit Entscheid vom 28. November 1978 ab. Hiegegen richtet sich die vorliegende, auf Art. 4 BV gestützte staatsrechtliche Beschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
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Im vorliegenden Falle stellte das Verwaltungsgericht fest, dass die Bauordnung der Gemeinde Vaz/Obervaz keine Immissionsschutzbestimmungen enthalte, auf die sich die Beschwerdeführer berufen könnten. Auch gebe Art. 12 des kantonalen Raumplanungsgesetzes vom 20. Mai 1973 den Nachbarn keinen direkten Abwehranspruch. Diese Bestimmung halte die Gemeinden lediglich dazu an, die erforderlichen Vorschriften über den Schutz der Nachbarschaft vor übermässigen Einwirkungen von Bauten und Anlagen zu erlassen. Im Baubewilligungsverfahren könne sich der Nachbar nicht auf diese reine Kompetenznorm für die Gemeinden berufen. Der von den Beschwerdeführern erhobene Einwand, der Betrieb der geplanten Sportanlage werde mit unzumutbaren Immissionen für die Nachbarschaft verbunden sein, lasse sich daher weder auf eine ausdrückliche und unmittelbar anwendbare Vorschrift des kantonalen noch des kommunalen Rechts abstützen. Doch anerkannte das Verwaltungsgericht, dass beim Fehlen ausdrücklicher Immissionsschutzvorschriften Massnahmen zur Abwehr übermässiger Einwirkungen auf die Nachbarschaft gestützt auf die polizeiliche Generalklausel angeordnet werden könnten.
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Die Beschwerdeführer machen nicht geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht das Fehlen einer ausdrücklichen Immissionsschutzvorschrift verneint. Sie anerkennen vielmehr die Erwägungen des Verwaltungsgerichts, wonach sie sich auf die polizeiliche Generalklausel berufen könnten. Es stellt sich daher zunächst die Frage, ob die Beschwerdeführer legitimiert sind, die Verletzung der polizeilichen Generalklausel mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen.
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In Lehre und Praxis ist anerkannt, dass öffentlichrechtlicher Immissionsschutz auch aufgrund der polizeilichen Generalklausel betrieben werden kann. Diese tritt beim Fehlen ausdrücklich anwendbarer Normen an die Stelle öffentlichrechtlicher Blankettbestimmungen über den Immissionsschutz, wie sie im kantonalen Recht oft anzutreffen sind, indem dieses etwa eine dem Art. 684 ZGB entsprechende Regel als polizeirechtliche Norm ausgestaltet (RICHARD BÄUMLIN, Privatrechtlicher und öffentlichrechtlicher Immissionsschutz, in: Rechtliche Probleme des Bauens, Bern 1968, S. 107 ff., S. 122 ff.; PETER LIVER, in: Schweiz. Privatrecht, V/1, Sachenrecht, Basel 1977, S. 239; IMBODEN/RHINOW, Nr. 136, S. 1004; ERICH ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons Aargau, Kommentar, § 160, S. 460 ff.). Das Bundesgericht anerkennt, dass sich der Nachbar im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren auf derartige Immissionsschutzbestimmungen berufen kann (BGE 99 Ia 254 E. 4 und 148 E. 1; 91 I 416 ff. E. 3 c-e). Sie verschaffen dem Nachbarn eine Sphäre rechtlich geschützter Interessen, die in den Kreis der durch die Eigentumsgarantie erfassten Rechtsgüter fallen. Auch wenn der Anwohner, der sich auf sie beruft, zugleich das Interesse der Gesamtheit wahrnimmt, ändert dies nicht daran, dass er eigene rechtlich geschützte Belange vertritt (BGE 91 I 418 E. 3d).
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Übernimmt nun wegen Fehlens einer anwendbaren öffentlichrechtlichen Immissionsschutzbestimmung die polizeiliche Generalklausel die Abwehr einer unmittelbar drohenden übermässigen Einwirkung, so verhält es sich gleich: Der Nachbar, der sich auf sie beruft, nimmt nicht nur das Interesse der Gesamtheit wahr, an der er Anteil hat, sondern er macht auch eigene rechtlich geschützte Interessen geltend. Sein Anspruch auf Abwehr übermässiger, die polizeiliche Generalklausel verletzender Immissionen fällt in gleicher Weise in den Kreis der durch die Eigentumsgarantie erfassten Rechtsgüter, wie dies für Ansprüche zutrifft, die aus einer öffentlichrechtlichen Blankettbestimmung über den Immissionsschutz hergeleitet werden. Eine innere Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung fehlt.
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Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist daher grundsätzlich einzutreten. Erfüllt ist auch die Voraussetzung, dass sich die Beschwerdeführer im Schutzbereich der Massnahmen befinden, die aufgrund der polizeilichen Generalklausel allenfalls anzuwenden sind. Der Augenschein hat bestätigt, dass die Beschwerdeführer durch die behaupteten widerrechtlichen Auswirkungen der Sportanlagen betroffen werden können, wenngleich das Ausmass der Betroffenheit je nach der Lage der einzelnen Wohnungen unterschiedlich ist.
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2. Die Auslegung und Anwendung kantonalen Gesetzesrechtes prüft das Bundesgericht im allgemeinen nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 101 Ia 449 E. 4b). Die Anwendung kantonalen Verfassungsrechts überprüft es hingegen grundsätzlich frei (BGE 99 Ia 297 E. 2). Die polizeiliche Generalklausel zählt zu den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen (BGE 103 Ia 312 E. 3a; BGE 92 I 31 E. 5), ist aber subsidiärer Natur (BGE 100 Ia 146). Zudem tritt sie im vorliegenden Falle an die Stelle einer gesetzlichen Blankettbestimmung des kantonalen öffentlichen Rechts über den Immissionsschutz. Eine freie Überprüfung ihrer Anwendung durch die kantonalen Instanzen wäre unter diesen Umständen um so weniger gerechtfertigt, als die im vorliegenden Fall in Frage stehenden Immissionsschutzmassnahmen jedenfalls ohne Willkür auch unmittelbar auf Art. 12 des kantonalen Raumplanungsgesetzes hätten gestützt werden können. Es entspricht dem Zweck dieser Vorschrift, wenn die Gemeinden bis zum Erlass der erforderlichen generellen Vorschriften über den Schutz der Nachbarschaft vor übermässigen Einwirkungen, die von Bauten und Anlagen ausgehen, im Einzelfall die nötigen Anordnungen verfügen. Die Kognition des Bundesgerichts ist daher wie bei der Überprüfung der Anwendung öffentlichrechtlicher Immissionsschutzvorschriften des kantonalen Rechts auf Willkür zu beschränken. Die Beschwerdeführer werfen denn auch dem Verwaltungsgericht sowohl bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhaltes als auch bei der Anwendung der polizeilichen Generalklausel Willkür vor.
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Das Bundesgericht hat somit nur zu prüfen, ob sich die Sachverhaltsfeststellung und -würdigung sowie die Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts mit sachlichen Gründen vertreten lässt. Willkür liegt nicht schon dann vor, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar oder sogar besser erschiene. Das Bundesgericht greift wegen Verletzung von Art. 4 BV vielmehr erst dann ein, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist (BGE 99 Ia 346 E. 1 mit Verweisungen).
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