BGE 106 Ia 73 | |||
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17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2. Juli 1980 i.S. Kulix AG gegen Ortsverwaltung Arbon und Regierungsrat des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; Anspruch auf rechtliches Gehör. | |
Sachverhalt | |
Die Beschwerdeführerin erhielt am 27. Oktober 1977 als Eigentümerin der beiden in der Wohnzone W 3 von Arbon gelegenen Mehrfamilienhäuser Schöntalstrasse 6 und Olivenstrasse 1 die Baubewilligung für verschiedene Sanierungsarbeiten. Am 4. April 1979 beanstandete die Ortsverwaltung Arbon, dass beim Um- und Ausbau auch die Estrichräume im zweiten Dachgeschoss zusätzlich ausgebaut wurden. Auf Aufforderung hin reichte die Beschwerdeführerin Nachtragsbaugesuche ein. Mit Entscheid vom 21. Mai 1979 lehnte die Ortsverwaltung den Ausbau des zweiten Dachgeschosses ab und Ordnete die Entfernung der schon ausgeführten Ausbauarbeiten bis zum 31. August 1979 an. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene Beschwerde am 17. Dezember 1979 ab. Hiegegen richtet sich die vorliegende, insbesondere auf Art. 4 BV gestützte staatsrechtliche Beschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Die Beschwerdeführerin rügt in verschiedener Hinsicht eine Verletzung des aus Art. 4 BV folgenden Anspruchs auf rechtliches Gehör. Da dieser Anspruch formeller Natur ist, d.h. seine Verletzung ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führt (BGE 105 Ia 51 und 198 E. 4b, BGE 100 Ia 10 E. 3d, BGE 96 I 188 E. 2b, mit Verweisungen), sind die entsprechenden Rügen vorweg zu prüfen.
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Der Umfang des Anspruches auf rechtliches Gehör bestimmt sich in erster Linie nach den kantonalen Verfahrensvorschriften. Wo sich jedoch der kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz. Im vorliegenden Fall behauptet die Beschwerdeführerin nicht, das Vorgehen des Regierungsrates verletze irgendwelche kantonalen Verfahrensvorschriften. Es ist daher einzig, und zwar mit freier Kognition, zu prüfen, ob unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Regeln missachtet wurden (BGE 105 Ia 194 E. 2, 103 Ia 138 E. 2a, mit Verweisungen).
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a) Die Beschwerdeführerin rügt in erster Linie, im Beschwerdeverfahren vor Regierungsrat sei zwar ein Augenschein durchgeführt worden, der sowohl für die Feststellung des heutigen als auch - soweit eine bauliche Änderung nicht erfolgt sei - des früheren baulichen Zustandes ein geeignetes Beweismittel dargestellt habe. Doch habe es der Regierungsrat unterlassen, ein Augenscheinsprotokoll zu erstellen und im Entscheid auf die Ergebnisse des Augenscheines zurückzukommen. Die Beschwerdeführerin habe am Augenschein insbesondere festgehalten, dass im Gebäude Olivenstrasse 1 eine Treppe mit Standort innerhalb des unteren ins obere Dachgeschoss führte, dass Spuren auf das Vorhandensein eines Ofens im oberen Dachgeschoss hindeuteten und dass im Gebäude Schöntalstrasse 6 die im Dachgeschoss neu errichteten Mauern tragend seien. Der Regierungsrat wendet ein, der Augenschein habe nur ein geeignetes Mittel zur Feststellung des heutigen, nicht aber des früheren Zustandes der beiden Dachgeschosse gebildet.
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Zwar hat der bundesrechtliche Gehörsanspruch im Verwaltungsverfahren im allgemeinen nicht den gleichen Umfang wie im Zivil- und Strafprozess. Doch unterscheidet das Bundesgericht in seiner jüngsten Rechtsprechung für die Umschreibung der aus Art. 4 BV folgenden Minimalansprüche nicht mehr strikt zwischen verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten einerseits und Zivil- und Strafprozessen anderseits, sondern stellt vielmehr auf die konkrete Interessenlage ab (BGE 105 Ia 195 E. 2b, mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall fällt ins Gewicht, dass die Ergebnisse des Augenscheins für die Beschwerdeführerin eine erhebliche Beschwer mit sich bringen konnten, dass gegen den Entscheid des Regierungsrates kein ordentliches Rechtsmittel mehr gegeben war und dass am Augenschein kein Mitglied der entscheidenden Behörde, sondern nur Organe des mit der Instruktion beauftragten Baudepartementes mitgewirkt hatten. Unter diesen Umständen war es zwingend erforderlich, die wesentlichen Ergebnisse des Augenscheins in einem Protokoll oder Aktenvermerk festzuhalten (vgl. dazu ROLF TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83/1964 II S. 346 ff.) Oder zumindest - soweit sie für die Entscheidung erheblich sind - im Entscheid klar zum Ausdruck zu bringen (BGE 104 Ia 212 E. 5g und 322 E. 3a, mit Verweisungen). Auch das zuletzt genannte Mindesterfordernis ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
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Entgegen der Auffassung des Regierungsrates diente der Augenschein nicht nur der Feststellung des aktuellen, sondern offensichtlich auch des früheren Bau- bzw. Nutzungszustandes, wird doch der Augenschein im angefochtenen Entscheid gerade im Zusammenhang mit der für die Beurteilung der Sache wesentlichen Nutzung vor den Umbauarbeiten erwähnt. Hievon hängt der Entscheid der Frage ab, ob sich durch die baulichen Änderungen die ohnehin schon zu grosse Ausnutzung noch erhöhte. Dafür bildeten aber das Vorhandensein und der genaue Standort einer festen Treppe vom ersten ins zweite Dachgeschoss und die Frage des früheren Vorhandenseins eines Ofens im oberen Dachgeschoss für die Beweiswürdigung nicht zu vernachlässigende Indizien. An aktenkundigen Feststellungen dieser wesentlichen Umstände fehlt es aber.
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