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45. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. November 1981 i.S. Bohnet, Schwery und Bodenmann gegen Grosser Rat des Kantons Wallis (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 85 lit. a OG; Grossratswahlen nach dem Proporzsystem; Restmandatsverteilung. | |
Sachverhalt | |
1 | |
- Liste 1 (CSP) 630 Parteistimmen = 25,57%
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- Liste 2 (CVP) 1189 Parteistimmen = 48,25%
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- Liste 3 (FDP) 645 Parteistimmen = 26,18%
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Bei einer Wahlzahl (Quotient) von 2464 : 3 = 822 erhielten in der ersten Verteilung:
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- Liste 1 630 : 822 = 0 Sitze
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- Liste 2 1189 : 822 = 1 Sitz
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- Liste 3 645 : 822 = 0 Sitze
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Da der zweite Sitz in der ersten Verteilung nicht einer Liste zugewiesen werden konnte, kam Art. 67 des Gesetzes über die Wahlen und Abstimmungen vom 17. Mai 1972 (WahlG) zur Anwendung. Diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut:
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"Wenn nach dieser Verteilung nicht alle Sitze zugewiesen sind, wird die Gesamtstimmenzahl jeder Liste, die bei der ersten Verteilung einen Sitz erlangt hat, durch die um eins erhöhte Zahl der ihr zugeteilten Sitze geteilt und der erste unverteilte Sitz wird jener Liste zugewiesen, die den grössten Quotienten aufwies.
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Dieses Vorgehen wird sooft wiederholt, als Sitze zu verteilen verbleiben."
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Weil nur die Liste 2 ein Vollmandat erreicht hatte, wurde ihr der zweite Sitz zugeteilt.
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Die im Bezirk Östlich Raron wohnhaften Stimmbürger Reinhard Bohnet, Urs Schwery und Peter Bodenmann fochten das Ergebnis der Wahl an, weil ihrer Auffassung nach die Regelung in Art. 67 WahlG dem Grundsatz des Proporzwahlverfahrens widerspricht. Der Grosse Rat des Kantons Wallis wies die Beschwerde am 16. März 1981 ab.
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Die drei Stimmbürger führen staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid des Grossen Rates aufzuheben und den die grösste Stimmenzahl auf sich vereinigenden Kandidaten der Liste 3 für gewählt zu erklären. Eventuell beantragen sie, den Grossen Rat anzuweisen, die Wahl in diesem Sinne vorzunehmen. Die Beschwerdeführer anerkennen, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes die Liste 3 kein Mandat erhält; sie halten jedoch Art. 67 WahlG mit dem in Art. 84 Abs. 4 KV niedergelegten Grundsatz des Proporzwahlverfahrens für unvereinbar. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich - soweit notwendig - aus den nachstehenden Erwägungen. Der Grosse Rat des Kantons Wallis schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
1. a) Die Beschwerdeführer sind stimm- und wahlberechtigte Bürger mit Wohnsitz im Bezirk Östlich Raron. Sie sind berechtigt, das Ergebnis der Wahl in diesem Bezirk mit Stimmrechtsbeschwerde ![]() | 17 |
b) Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich kassatorischer Natur. Dies gilt auch für die Stimmrechtsbeschwerde (BGE 100 Ia 253 E. 1c mit Hinweisen). Der Erlass positiver Anordnungen kann daher grundsätzlich nicht verlangt werden. Eine Ausnahme gilt nur, wenn der verfassungsmässige Zustand nicht mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheides hergestellt wird (BGE 105 Ia 28/9). Eine solche Ausnahme besteht vorliegend nicht. Wird die Beschwerde gutgeheissen, steht fest, dass das Restmandat nicht an die Liste 2 fällt. Der Grosse Rat wird in diesem Fall zu entscheiden haben, wem es zugeteilt wird. Zu dieser Frage äusserte er sich im angefochtenen Entscheid nicht. Möglich ist, dass im Falle der Gutheissung der Beschwerde eine Nachzählung durchgeführt wird, da der Stimmenunterschied zwischen den Listen 1 und 3 klein ist. Unter diesen Umständen kann es nicht Sache des Bundesgerichts sein, einen bestimmten Kandidaten als gewählt zu erklären, bzw. dem Grossen Rat die Wahl vorzuschreiben. Soweit die Beschwerdeführer daher mehr als die Aufhebung des angefochtenen Entscheides verlangen, kann darauf nicht eingetreten werden.
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b) Die Wahl in den Grossen Rat erfolgt bezirksweise (Art. 84 Abs. 4 KV). Die heutige Bezirkseinteilung ist weitgehend geschichtlich bedingt. Die Walliser Bezirke entsprechen den früheren "Zenden" (ausser Östlich Raron). Die Einteilung in Wahlkreise ![]() | 22 |
c) Kein Verstoss gegen Art. 84 Abs. 4 KV ist ferner darin zu erblicken, dass der Gesetzgeber Vorkehren gegen die nachteiligen Folgen des Verhältniswahlverfahrens trifft; insbesondere darf er im Wahlgesetz Massnahmen gegen die Zersplitterung der politischen Kräfte treffen. Solchen Einschränkungen sind indessen Grenzen gesetzt. Sie sind unzulässig, wenn die getroffene Lösung das Wesen des proportionalen Wahlverfahrens verändert und damit im Widerspruch zur kantonalen Verfassungsvorschrift geraten (BGE 103 Ia 562/3 E. 3c mit Hinweis; BENNO SCHMID, Die Listenverbindung im schweizerischen Proportionalwahlrecht, Diss. Zürich 1961, 32 ff.).
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Eine erste erschränkende Massnahme stellt ein Quorum für die Beteiligung der Listen an der Mandatsverteilung dar, wie es der Kanton Wallis in Art. 65 Abs. 1 WahlG kennt (10% des Parteistimmentotals). Die mit dem Proporzgrundsatz vereinbare Höhe eine Quorums bildete Gegenstand verschiedener früherer Urteile des Bundesgerichtes, namentlich BGE 103 Ia 603 ff. In diesem Entscheid (E. 6c) erachtete das Bundesgericht das im Kanton Wallis geltende Quorum von 10% der Parteistimmen als an der oberen Grenze des Zulässigen liegend.
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Auch die Grösse der Wahlkreise wirkt gegebenenfalls als beschränkende Massnahme gegen die Zersplitterung der politischen Kräfte; denn in kleinen Wahlkreisen macht die Wahlzahl, die für die Zuteilung eines Vollmandates notwendig ist, einen höheren Prozentsatz der Gesamtstimmenzahl aus als in einem bevölkerungsstarken Wahlkreis. In den bevölkerungsstarken Wahlkreisen mit zahlreichen Mandaten erreicht unter Umständen eine Liste die Wahlzahl, obwohl sie nicht auf 10% der Wählerstimmen kommt; in den kleineren Wahlkreisen erreicht sie dagegen oft mehr als 10% der Wählerstimmen, kommt aber nicht auf die ![]() | 25 |
Auf den ganzen Kanton Wallis bezogen, ist die Bedeutung dieses Ausschlusses zwar eher gering. Anlässlich der Grossratswahlen 1981 wäre ohne die fragliche Bestimmung in Art. 67 WahlG einzig in den beiden Bezirken Östlich Raron und Leuk je ein Restmandat einer anderen Liste zugefallen. Doch umfasst der Kanton Wallis immerhin sieben Bezirke, in denen der Ausschluss aktuell werden könnte, weil der Quotient (Wahlzahl) - d.h. die Gesamtstimmenzahl geteilt durch die Zahl der Mandate plus 1 - mehr als 10% der Gesamtstimmenzahl ausmacht, nämlich einen Bezirk mit 2 Mandaten (Östlich Raron, für ein Vollmandat benötigte Wahlzahl 33,3% der Gesamtstimmenzahl), einen Bezirk mit drei Mandaten (Goms, 25%), einen Bezirk mit vier Mandaten (Westlich Raron, 20%), drei Bezirke mit sechs Mandaten (Hérens, Entremont und Saint-Maurice, 14,3%) und einen Bezirk mit sieben Mandaten (Leuk, 12,5%). In allen diesen sieben Bezirken wird die Bevorteilung der grossen Parteien, die durch die kleinen Wahlkreise und die Restmandatsverteilung nach dem grössten Quotienten ohnehin schon ausgeprägt ist (Reformbericht S. 27, 28 und 40/1; B. SCHMID, a.a.O., S. 32), durch den Ausschluss der kleineren Parteien von der Restmandatsverteilung noch wesentlich verstärkt.
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Vor dem Grossen Rat wurde dieses sogenannte "natürliche Quorum" mit dem Kampf gegen die Parteienzersplitterung begründet (vgl. die seinerzeitige Begründung vor dem Grossen Rat ![]() | 27 |
d) Die Wähler, die am 25. Januar 1920 der bezirksweisen Proporzwahl in den Grossen Rat und am 21. Dezember 1952 der Neufassung des Art. 84 KV zugestimmt haben, durften davon ausgehen, dass das Gesetz, das die Anwendungsart des proportionalen Wahlverfahrens zu bestimmen hat, so gefasst werde, dass es Minderheitsgruppen, die keine Splittergruppierungen sind, eine faire Chance geben werde, sich an der Mandatsverteilung zu beteiligen. Dieses Vertrauen in eine sinngemässe Anwendung des angenommenen Verfassungstextes verdient Schutz. Wenn schon die Wahl in kleinen Wahlkreisen die grösseren Parteien begünstigt, muss zumindest die Restmandatsverteilung so geordnet werden, dass sie bedeutenden Minderheiten eine faire Chance lässt, ein Restmandat zu erobern. Die Bürger, die der Verfassungsbestimmung zustimmten, mussten nicht damit rechnen, dass der Grosse Rat gestützt auf die Verfassungsbestimmung ein Gesetz annehmen und dem Volk vorlegen werde, das in seiner Anwendung in den kleineren Bezirken gerade keine Mandatsverteilung gewährleistet, die der effektiven Parteistärke möglichst nahekommt. Wohl ist das Wahlgesetz 1972 von der Mehrheit des Volkes angenommen worden, doch steht die Verfassung, die vom Bunde gewährleistet wurde, über dem Gesetz. Wenn in einem konkreten Falle die wortgetreue Anwendung des Gesetzes zu einem Ergebnis führt, das mit dem gewährleisteten Verfassungsgrundsatz nicht in Einklang steht, muss das Wahlergebnis als verfassungswidrig aufgehoben werden; es gehört zu den Pflichten des Bundesgerichts, gegebenenfalls den verfassungsmässigen Rechten der Minderheiten auch gegenüber einem von der Mehrheit des Volkes angenommenen Gesetz zum Durchbruch zu verhelfen.
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e) Der Ausschluss von der Restmandatsverteilung trifft im Bezirk Östlich Raron nach Art. 67 Abs. 1 WahlG jede Partei, die nicht mehr als 33,3% aller Parteistimmen erzielt. Er kann zur Folge haben, dass eine Partei mit nur 33,4% der Parteistimmen beide Sitze des Bezirkes erhält, sofern keine andere Partei ebenfalls ![]() | 29 |
f) Das Bundesgericht hielt in BGE 103 Ia 563 ff. den Ausschluss einer Liste von der Restmandatsverteilung für zulässig, welche weniger als ein Sechstel der Parteistimmen für die Wahl des fünfköpfigen Gemeinderates Grächen (VS) erzielt hatte. Die Wahl in einen Gemeinderat unterscheidet sich aber grundsätzlich von derjenigen in den Grossen Rat, und dies nicht nur aus den von den Beschwerdeführern genannten Gründen. Vor allem sind bei der Grossratswahl im einzelnen Wahlkreis nur ein Bruchteil aller Ratsmitglieder zu wählen. Eine Minderheit in einem Wahlkreis braucht nicht eine im ganzen Kanton unbedeutende Kraft zu sein. Einzelne Restmandate in kleinen Wahlkreisen sind daher für die proportionale Vertretung der Parteien im Grossen Rat von Bedeutung (Urteil i.S. Geissbühler in JdT 110/1962 I S. 271 ff., E. 4a). Soweit das Bundesgericht im Urteil i.S. Mauris betreffend die Grossratswahlen im Bezirk Hérens den Ausschluss von der Restmandatsverteilung, der damals nicht als verfassungswidrig angefochten war, unter Hinweis auf BGE 103 Ia 563 ff. als verfassungsmässig bezeichnete, kann an jener Auffassung zumindest in der dort verwendeten allgemeinen Form nicht festgehalten werden.
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Die Gutheissung der Beschwerde im vorliegenden Falle, wo die nicht berücksichtigten Minderheiten mehr als ein Viertel der Wähler ausmachten, heisst nicht, dass das sogenannte natürliche Quorum ![]() | 31 |
g) Das verfassungswidrige Ergebnis der Anwendung von Art. 67 WahlG im vorliegenden Falle muss zur Aufhebung des Beschlusses des Grossen Rates betreffend die Verteilung der Sitze im Bezirke Östlich Raron führen; es wird Sache des Grossen Rates sein, die Verteilung der Sitze im Bezirk Östlich Raron im Lichte der Erwägungen dieses Urteiles neu vorzunehmen, ohne die strittige Vorschrift des Art. 67 WahlG anzuwenden.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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