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44. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2. November 1983 i.S. Goetschy gegen Polizeigerichtspräsident und Appellationsgericht (Ausschuss) des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
§ 229 StPO/BS, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK, Anspruch auf Verbeiständung im Strafverfahren. | |
Sachverhalt | |
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Gegen dieses Urteil hat Erwin Goetschy staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK eingereicht.
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Aus den Erwägungen: | |
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Im einen Bundesgerichtsentscheid (BGE 105 Ia 288 ff.) ging es jedoch nicht um ein Strafverfahren, sondern um einen Forderungsstreit vor Arbeitsgericht. In Streitsachen dieser Art ist der Ausschluss berufsmässiger Parteivertreter grundsätzlich zulässig, weil ein einfaches, rasches und billiges Verfahren im Interesse beider Prozessparteien liegt, was in einer Strafsache, in welcher der Angeschuldigte oft - wie z.B. hier - nur dem Staat gegenübersteht, nicht gesagt werden kann. Im übrigen ist das Beispiel auch deshalb schlecht gewählt, weil das Bundesgericht jene Beschwerde aus hier nicht interessierenden Gründen gutgeheissen hat. Im anderen Urteil (BGE 106 Ia 179 ff.) handelte es sich zwar um eine Strafsache; streitig war jedoch, in welchen Fällen dem Angeschuldigten ein amtlicher Verteidiger beigegeben werden muss. Das ist aber, wie in der Beschwerde zutreffend ausgeführt wird, eine Frage, die mit derjenigen des Ausschlusses eines freigewählten und privat honorierten Rechtsbeistandes nichts gemeinsam hat.
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b) Das Bundesgericht hatte indessen auch schon über die Tragweite des Rechts des Angeschuldigten, sich frühzeitig durch einen Vertreter verbeiständen zu lassen, entschieden und dabei ausgeführt, das Recht, sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers eigener Wahl zu erhalten, sei durch Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK nur alternativ gewährleistet (BGE 102 Ia 200). Unter Zitierung dieses einen anderen Kanton betreffenden Entscheides hat es sodann in einem nicht veröffentlichten Urteil (vom 18. Oktober 1978 in Sachen Y. und I. gegen Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt) die Auffassung bestätigt, dass nach der Praxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte der Angeklagte nicht frei wählen könne, ob er sich selber verteidigen oder durch einen Anwalt verbeiständen lassen wolle; diese Frage werde vielmehr durch die Gesetzgebung der einzelnen Staaten geregelt, welche ![]() | 6 |
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"Jeder Angeklagte hat mindestens (englischer Text) insbesondere (französischer Text) die folgenden Rechte:
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...
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c) sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten und, falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist."
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Der Entscheid über die sich hier stellende Frage, ob jeder Angeschuldigte sich in jeder Strafsache durch einen Verteidiger verbeiständen lassen dürfe, hängt von der Auslegung dieser Bestimmung ab: es geht darum, ob sich der letzte Satzteil ("... wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist") auf den ganzen Abs., d.h. auf das Recht zum Beizug eines Anwaltes überhaupt, beziehe, oder nur auf den letzten Satzteil, der vom Recht auf einen amtlichen Verteidiger, d.h. von der notwendigen Verteidigung, handelt. Der Wortlaut der Bestimmung spricht bei unbefangenem Durchlesen für die zweite Variante: der letzte Satzteil scheint in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erfordernis der Mittellosigkeit zu stehen, sich also allein auf die notwendige Verteidigung zu beziehen. Die französische Fassung
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"Tout accusé a droit notamment à:
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...
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c) se défendre lui-même ou avoir l'assistance d'un défenseur de son choix et, s'il n'a pas les moyens de rémunérer un défenseur, pouvoir être assisté gratuitement par un avocat d'office, lorsque les intérêts de la justice l'exigent", legt die nämliche Auslegung nahe.
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Indessen hat die Europäische Kommission für Menschenrechte Entscheide gefällt, die - wenn auch das hier erwähnte Auslegungsproblem nirgends in klarer Form behandelt wird - den Eindruck aufkommen lassen mussten, die Kommission beziehe die Wendung "wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist" auf den gesamten Abs. c des Art. 6 Ziff. 3 EMRK, lasse also Einschränkungen des Rechtes auf Beizug eines Anwaltes im ![]() | 15 |
b) Diese Rechtsprechung ist in der Lehre auf sozusagen einhellige Kritik gestossen (vgl. WOLFGANG PEUKERT, Die Garantie des "fair trial" in der Strassburger Rechtsprechung, in: EuGRZ 1980 S. 265/266, MARTIN SCHUBARTH, Die Art. 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische Strafprozessrecht, in: ZSR 94/1975 I S. 507; TRIFTERER/BINNER, Kommentar und Kritik zur Einschränkbarkeit der Menschenrechte und zur Anwendung strafprozessualer Verfahrensgarantien, in: EuGRZ 1977 S. 143; STEFAN TRECHSEL, Die Verteidigungsrechte in der Praxis der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZStrR 96/1979, S. 355-357, ROLAND WINIGER, Das solothurnische Strafprozess- und Gerichtsorganisationsrecht im Lichte der EMRK, in: Festschrift 500 Jahre Solothurn im Bund, S. 443/444). Die Einwände dieser Autoren haben zweifellos Gewicht. Vor allem fällt auf, dass der Anspruch auf notwendige Verteidigung - der zweifellos auch nach der strengsten Auslegung der EMRK nicht in jedem Straffall gegeben ist - und derjenige auf Verteidigung überhaupt in ungenügender Weise voneinander abgegrenzt worden sind, so dass der Eindruck entstehen konnte, dort, wo der Angeklagte nicht verteidigt sein müsse, dürfe ihm auch das Recht, sich freiwillig verteidigen zu lassen, abgesprochen werden. Eine solche Auslegung der umstrittenen Bestimmung von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK ![]() | 16 |
c) Der Gerichtshof hat in diesem Entscheid folgendes ausgeführt:
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"Art. 6 Abs. 3 garantiert dem Angeklagten drei Rechte: Sich selbst zu verteidigen, den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten und, unter bestimmten Bedingungen, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten.
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Um die entsprechenden Satzteile miteinander zu verbinden, verwendet die englische Fassung jedesmal die Konjunktion "oder" (or); die französische Fassung hingegen den entsprechenden Ausdruck - "ou" - nur zwischen den Satzteilen, die das erste und das zweite Recht beinhalten; danach verwendet die französische Fassung die kumulative Konjunktion "et" (und).
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Die Travaux Préparatoires erklären diesen sprachlichen Unterschied kaum.
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Aus ihnen geht hervor, dass anlässlich einer letzten Prüfung des Konventionsentwurfs am Vorabend der Unterzeichnung ein Expertenausschuss "einige Korrekturen bezüglich der Form oder der Übersetzung" angebracht hat, darunter auch die Ersetzung von "and" (und) durch "or" (oder) in der englischen Fassung von Art. 6 Abs. 3 c (Recueil des Travaux Préparatoires, Bd. IV, S. 1010).
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Angesichts des Ziels und Zwecks der vorliegenden Bestimmung, die einen effektiven Schutz der Verteidigungsrechte gewährleisten soll (Urteil Artico, oben zitiert, Serie A Nr. 37, S. 16, Ziff. 33 - EuGRZ 1980, 644; siehe auch, mutatis mutandis, die Urteile Adolf vom 26. März 1982, Serie A Nr. 49, S. 15, Ziff. 30 - EuGRZ 1982, 301 und Sunday Times vom 26. April 1979, Serie A Nr. 30, S. 30, Ziff. 48 - EuGRZ 1979, 387), liefert im vorliegenden Fall der französische Text eine zuverlässigere Orientierung; in diesem Punkt stimmt der Gerichtshof mit der Kommission überein.
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Folglich muss ein "Angeklagter", der sich nicht selber verteidigen möchte, die Möglichkeit haben, auf den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zurückzugreifen; wenn er nicht über die Mittel verfügt, einen Verteidiger zu bezahlen, so erkennt die Konvention ihm das Recht zu, unentgeltlichen Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist (Deutsche Übersetzung des Urteils i.S. Pakelli gegen Bundesrepublik Deutschland vom 25. April 1983, Publications ![]() | 23 |
Mit diesem Urteil ist klargestellt, dass sich die einschränkende Wendung "wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist" nur auf die Frage der unentgeltlichen Verteidigung bezieht und nicht auf das Recht, sich im Strafverfahren verbeiständen zu lassen, als solches. Die Kommissionsentscheide sind dadurch überholt, soweit sie den Eindruck erweckten, auf einer anderen Auslegung des Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK zu beruhen. Der Entscheid des Gerichtshofes ist zu berücksichtigen, obschon er erst nach dem angefochtenen kantonalen Urteil ergangen ist; denn das Bundesgericht hat in Fällen der vorliegenden Art das Recht von Amtes wegen anzuwenden. Von der Lösung des Gerichtshofes abzuweichen besteht um so weniger Anlass, als sie, wie dargelegt, durchaus auf der Linie der neueren Literatur zu der streitigen Frage liegt. Offen bleiben kann bei dieser Sachlage, ob auch unter dem Gesichtswinkel des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 4 BV Anlass bestanden hätte, die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtes neu zu überdenken.
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6. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass § 229 StPO/BS mit Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK insoweit nicht vereinbar ist, als er das Recht des Angeschuldigten, sich im Verfahren auf Verzeigung, d.h. vor dem Polizeirichter, durch einen Anwalt verbeiständen zu lassen, von einschränkenden Voraussetzungen abhängig macht. Demgemäss ist die vorliegende Beschwerde gutzuheissen, soweit auf sie eingetreten werden kann.
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