BGE 110 Ia 140 | |||
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30. Auszug aus dem Beschluss der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Juli 1984 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 88 OG. |
2. Umstände, unter denen auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses verzichtet wird (E. 2b). | |
Sachverhalt | |
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Auszug aus den Erwägungen: | |
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Das Bundesgericht hat in seiner früheren Rechtsprechung ein Interesse an der materiellen Behandlung von Haftbeschwerden auch dann anerkannt, wenn die Untersuchungshaft durch Freilassung oder rechtskräftiges Urteil beendet worden war (BGE 98 Ia 100; nicht veröffentlichtes Urteil i.S. F. Sch. vom 19. Dezember 1979, zitiert bei ROBERT LEVI, Schwerpunkte der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Fragen der Untersuchungshaft seit dem Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Mélanges André Grisel, Neuchâtel 1983, S. 346 f.). Es nahm an, der Betroffene sei an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der erstandenen Haft deshalb nach wie vor interessiert, weil er daraus allenfalls Schadenersatz- oder Genugtuungsansprüche ableiten könne und es unsicher sei, ob der mit der Klage befasste Richter die Verfassungsmässigkeit der Haft vorfrageweise überprüfe (vgl. BGE 47 I 143, BGE 109 Ia 171, LEVI, a.a.O., S. 347, mit weitern Hinweisen).
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Im Jahre 1980 ging das Bundesgericht zu einer zurückhaltenderen Beurteilung des Interesses an Beschwerden über bereits beendete Haft über (vgl. die Darstellung bei LEVI, a.a.O., S. 347 f.). In einem den Kanton Basel-Stadt betreffenden Fall führte es aus, aufgrund des kantonalen Rechts stehe die rechtskräftige Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches durch die kantonalen Behörden der materiellen Beurteilung eines späteren Entschädigungsbegehrens nicht entgegen, und es verneinte daher ein Interesse an der Prüfung der Verfassungsmässigkeit der erstandenen Haft (nicht veröffentlichter Beschluss i.S. B. N. vom 25. Juni 1980). In einem späteren Verfahren legte das Bundesgericht dar, dass viele Kantonsverfassungen und die Strafprozessordnungen praktisch sämtlicher Kantone Bestimmungen enthielten über den Entschädigungsanspruch sowohl widerrechtlich verhafteter als auch solcher Personen, welche zwar entsprechend den gesetzlichen Vorschriften in Haft gesetzt wurden, die sich aber in der Folge als unschuldig erweisen und die Haft auch nicht durch vorwerfbares Verhalten veranlasst haben (vgl. BGE 107 Ia 166 f.). Daraus zog es den Schluss, in allen diesen Fällen komme es nicht in Frage, dass die Haftentschädigung mit der Begründung verweigert werden könnte, ein Gesuch um Haftentlassung sei rechtskräftig abgewiesen worden. Es fügte bei, ein derartiger Ausschluss verstiesse auch klarerweise gegen Art. 5 Ziff. 5 EMRK. Schliesslich stünde gegen die letztinstanzlichen Entscheide über Haftentschädigungen die staatsrechtliche Beschwerde offen. Bei dieser Sachlage entfalle das aktuelle praktische Interesse an der materiellen Behandlung der Haftbeschwerde (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. F. H. vom 17. März 1982). In gleicher Weise hat das Bundesgericht in weitern Beschwerdefällen entschieden.
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An dieser - bis heute nicht publizierten - Praxis ist festzuhalten. Das kantonale Verfassungs- und Gesetzesrecht garantiert weitgehende Ansprüche für rechtswidrige sowie für nicht durch vorwerfbares Verhalten verursachte, sich in der Folge aber als ungerechtfertigt erweisende Untersuchungshaft. Das Bundesgericht hatte bisher nie Fälle zu behandeln, in denen Schadenersatzbegehren mangels vorheriger Feststellung der Unrechtmässigkeit abgewiesen worden wären. Es ginge unter dem Gesichtswinkel des ungeschriebenen verfassungsmässigen Rechts der persönlichen Freiheit nicht an, Schadenersatzansprüche davon abhängig zu machen, dass bereits vorher die Unrechtmässigkeit der Haft festgestellt worden ist. Darüber hinaus garantiert Art. 5 Ziff. 5 EMRK jedem, der entgegen den Bestimmungen von Ziff. 1 bis Ziff. 4 von Festnahme oder Haft betroffen ist, einen Anspruch auf Schadenersatz. Der Betroffene kann seine Ansprüche direkt auf die Vorschrift der Europäischen Menschenrechtskonvention abstützen (Urteil i.S. Eggs vom 15. Oktober 1982, in: SJIR 39/1983 S. 290; nicht veröffentlichtes Urteil i.S. L. B. vom 23. Juni 1982; STEFAN TRECHSEL, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 266, 371 und 375; PETER BISCHOFBERGER, Die Verfahrensgarantien der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [Art. 5 und 6] in ihrer Einwirkung auf das schweizerische Strafprozessrecht, Zürich 1972, S. 235 f.). Kann demnach im Hinblick auf die Geltendmachung von Schadenersatz- oder Genugtuungsansprüchen nicht verlangt werden, dass die Verfassungswidrigkeit einer erstandenen Haft vorgängig letztinstanzlich festgestellt wird, so entfällt auch das Interesse des Beschwerdeführers an der verfassungsgerichtlichen Prüfung der bereits beendeten Untersuchungshaft. Bei dieser Sachlage besteht auch im vorliegenden Fall kein aktuelles praktisches Interesse an der materiellen Behandlung der Beschwerde.
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b) Das Bundesgericht verzichtet ausnahmsweise auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses, wenn der gerügte Eingriff sich jederzeit wiederholen könnte und eine rechtzeitige verfassungsgerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre, so dass diese Voraussetzung eine Kontrolle der Verfassungsmässigkeit faktisch verhindern würde (BGE 109 Ia 170 E. 3b, 107 Ia 139, BGE 104 Ia 229, 488, mit Hinweisen). Das Bundesgericht prüft demnach Beschwerden materiell trotz Wegfalls des aktuellen praktischen Interesses, wenn sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen können (BGE 108 Ia 42 E. 1a) und an deren Beantwortung wegen der grundsätzlichen Bedeutung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht (BGE 104 Ia 230 E. 1b, BGE 97 I 841 E. 1) und sofern diese im Einzelfall kaum je rechtzeitig verfassungsgerichtlich geprüft werden könnten. Diese Voraussetzungen erachtete das Bundesgericht etwa bei Beschwerden im Zusammenhang mit politischen und andern Veranstaltungen sowie mit Demonstrationen als gegeben (BGE 108 Ia 42 E. 1a, BGE 100 Ia 394 E. 1b, vgl. auch BGE 107 Ia 59, 64, 226).
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In bezug auf Beschwerden aus dem Bereiche von Haft trat das Bundesgericht auf Beschwerden von Personen ein, die im Anschluss an eine Demonstration für einige Stunden festgenommen und während dieser Zeit erkennungsdienstlich behandelt worden waren (BGE 107 Ia 139). Ebenso prüfte es eine Beschwerde, in der die Zuständigkeit eines ausserordentlichen Untersuchungsrichters zur Anordnung von Haft für die Dauer von 14 Tagen bestritten worden war (BGE 107 Ia 253). Schliesslich trat es auf eine Beschwerde ein, die sich gegen die kurzfristige Einlieferung eines Jugendlichen in ein Gefängnis aus vorwiegend fürsorgerischen Motiven wandte (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. D. G. vom 31. März 1982; vgl. LEVI, a.a.O., S. 348 f.).
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An diesen Voraussetzungen fehlt es indessen bei der Mehrzahl staatsrechtlicher Beschwerden, mit denen die Verfassungs- und Konventionswidrigkeit der Anordnung oder Erstreckung einer inzwischen dahingefallenen Untersuchungshaft gerügt wird. Die damit aufgeworfenen Verfassungsfragen können sich in der Regel nicht mehr unter gleichen oder ähnlichen Umständen stellen. Vielmehr ist im Einzelfall das Vorliegen der Haftgründe zu prüfen, und es sind dabei die konkreten Umstände wie etwa die Verdachtsgründe, die Flucht- oder Kollusionsgefahr, der Stand des Verfahrens, die persönlichen Verhältnisse, die bisherige Dauer der Haft u.a.m. zu berücksichtigen. Es stellen sich dabei keine Fragen, deren Beantwortung wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt. Das Bundesgericht ist auch durchaus in der Lage, derartige Beschwerden rechtzeitig zu behandeln. Es besteht daher kein Grund, solche Beschwerden trotz des Fehlens eines aktuellen praktischen Bedürfnisses materiell zu behandeln.
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So verhält es sich auch bei der vorliegenden Beschwerde. Der Beschwerdeführer bestreitet in erster Linie das Vorliegen von Kollusionsgefahr und beanstandet die Dauer der Untersuchungshaft. Diese Beschwerdegründe rechtfertigen es nicht, die durch Freilassung bereits beendete Untersuchungshaft auf ihre Verfassungs- und Konventionsmässigkeit hin zu überprüfen. Die Beschwerde ist daher als gegenstandslos geworden vom Geschäftsverzeichnis abzuschreiben.
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