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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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41. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. November 1985 i.S. X. gegen Kantonsgericht Appenzell I.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 85 Ziff. 7 und Art. 113 BV. Überprüfung kantonaler Verfassungsbestimmungen durch das Bundesgericht? |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Öffentlichkeit der Hauptverhandlung im Strafverfahren. |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist auf ein erstinstanzliches Strafverfahren grundsätzlich anwendbar (E. 6). |
Der Ausschluss der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung im Strafverfahren ohne gewichtigen Grund ist mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK unvereinbar (E. 7). | |
Sachverhalt | |
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In der Sache selbst fällte das Gericht kein Urteil; es erachtete den Fall als nicht spruchreif und wies die Sache zur Ergänzung der Untersuchung an die anklagende Behörde zurück.
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X. führt mit Eingabe vom 14. März 1985 staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Er rügt eine Verletzung von Art. 4 BV sowie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und beantragt, den Beschluss des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh. vom 13. Februar 1985 aufzuheben.
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Aus den Erwägungen: | |
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Der angefochtene Beschluss stützt sich ausschliesslich auf Art. 43 Abs. 1 der Verfassung für den Eidgenössischen Stand Appenzell I.Rh. vom 24. Wintermonat 1872 (Fassung vom 24. April 1949; KV). Der Beschwerdeführer rügt diese Verfassungsnorm als unvereinbar mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und mit Art. 4 BV. Das Kantonsgericht wendet ein, dass das Bundesgericht zur Überprüfung kantonaler Verfassungsnormen nicht zuständig sei.
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a) In seiner bisherigen Rechtsprechung hat sich das Bundesgericht für unzuständig erklärt, kantonale Verfassungsbestimmungen ![]() | 6 |
Diese Rechtsprechung ist in der Lehre zum kleineren Teil auf Zustimmung, mehrheitlich aber auf Ablehnung gestossen (vgl. die Zusammenstellung in BGE 104 Ia 220 E. 1b; auf der Seite der Kritiker kommt ANDREAS AUER hinzu, La juridiction constitutionnelle en Suisse, Basel und Frankfurt 1983, Nrn. 267 ff., S. 150 ff.; deutsche Übersetzung von NANNI ROJAS, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, Nrn. 267 ff., S. 156 ff., Basel und Frankfurt 1984. Kritisiert haben diese Rechtsprechung auch JÖRG PAUL MÜLLER, Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1978, in: ZBJV 1980, S. 292, und WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 63 ff., der in Anmerkung 172 u.a. zusätzlich auf folgende Kritiker verweist: HANS HUBER, Die staats- und verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung im Jahre 1963, ZBJV 1964, S. 421/422; MAX IMBODEN, Normkontrolle und Norminterpretation, in: Staat und Recht, Basel und Stuttgart 1971, S. 241/242. Eine umfassende Literaturübersicht findet sich schliesslich bei FRIDOLIN SCHIESSER, Die akzessorische Prüfung, Diss. Zürich 1983, Zürich 1984, S. 303, Anm. 17, der sich der allgemeinen Kritik anschliesst: S. 299 ff.).
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b) Ob die erwähnte Rechtsprechung aufgrund dieser nahezu einhelligen und sachlich gewichtigen Kritik generell zu überprüfen ist, braucht für die Beurteilung des vorliegenden Falls nicht entschieden zu werden. Wie zu zeigen sein wird, geht es hier um ein Teilproblem, das unabhängig von der Beantwortung der allgemeinen Frage gelöst werden kann.
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Die genannte Praxis beruht im wesentlichen auf der Überlegung, dass es dem Bundesgericht nicht zustehe, dieselben Fragen der Bundesrechtswidrigkeit einer kantonalen Verfassungsnorm zu beurteilen, über die sich schon die Bundesversammlung im Gewährleistungsverfahren ausgesprochen hat ![]() | 9 |
4. Die 30tägige Frist zur Anfechtung der umstrittenen Verfassungsvorschrift mit staatsrechtlicher Beschwerde ist längst abgelaufen ![]() | 10 |
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Entgegen der Auffassung des Kantonsgerichts ist Art. 6 Ziff. 1 EMRK nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane sowie jener des Bundesgerichts auf ein erstinstanzliches Strafverfahren wie das hier in Frage stehende grundsätzlich anwendbar (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22. Februar 1984 i.S. Sutter, in: Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, Volume 74, § 28, S. 13, mit Hinweisen, deutsche Übersetzung in: EuGRZ 1985, S. 232; BGE 108 Ia 92 E. 2c mit Hinweis). Auch die herrschende Lehre nimmt die unmittelbare Anwendbarkeit ![]() | 13 |
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"1. Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden, jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während des gesamten Verfahrens oder eines Teiles desselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang."
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a) Wie dargelegt, ist Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf ein erstinstanzliches Strafverfahren wie das vorliegende grundsätzlich anwendbar. Der in dieser Bestimmung enthaltene Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung bezieht sich ferner auf die Publikums- und nicht bloss auf die Parteiöffentlichkeit. Die Schweiz hat in bezug auf den in Art. 6 Ziff. 1 EMRK niedergelegten Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung einen Vorbehalt angebracht. Dieser bezieht sich indessen auf das Verfahren vor Verwaltungsbehörden sowie auf die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung ![]() | 16 |
b) Der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Er soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und allen übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung gewährleisten. Der Öffentlichkeit soll darüber hinaus ermöglicht werden, Kenntnis davon zu erhalten, wie das Recht verwaltet und wie die Rechtspflege ausgeführt wird. Durch die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung wird es der Allgemeinheit ermöglicht, den Strafprozess unmittelbar zu verfolgen. Die rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit im Strafprozess verbietet einen Ausschluss der Öffentlichkeit dort, wo nicht überwiegende Gründe der staatlichen Sicherheit, öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit oder schützenswerte Interessen Privater das vordringlich gebieten. In diesem Sinn sieht auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK Ausnahmen vom Grundsatz der Öffentlichkeit vor (BGE 108 Ia 92 E. 3a mit Hinweisen).
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c) Die Vorschrift von Art. 43 Abs. 1 KV schliesst die Öffentlichkeit in Strafverfahren vor den appenzell-innerrhodischen Gerichten nicht nur dann von den Verhandlungen aus, wenn überwiegende Gründe das gebieten; sie lässt die Öffentlichkeit generell nicht zu.
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Das Bundesgericht hat nicht zu prüfen, ob diese Vorschrift als solche konventionswidrig ist. Es stellt sich einzig die Frage, ob ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst. Wie ausgeführt, wäre dem nicht so, wenn in der vom Kantonsgericht zu beurteilenden Strafsache einer der erwähnten Gründe vorgelegen hätte, die den Ausschluss der Öffentlichkeit zu rechtfertigen vermögen. Das wäre etwa dann der Fall, wenn es um ein Sittlichkeitsdelikt ginge und der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit oder der Schutz der Persönlichkeitssphäre des Opfers den Ausschluss der Öffentlichkeit geboten hätten. Solche besonderen Gründe werden aber vom Kantonsgericht nicht geltend gemacht und sind nicht zu erkennen. In der Anwendung auf den konkreten Fall erweist sich die Verfassungsregel des Art. 43 Abs. 1 KV somit als konventionswidrig. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen, und der angefochtene Beschluss ist aufzuheben. Auf die Rüge der Verletzung des Art. 4 BV ist nicht mehr einzugehen.
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