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3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. Januar 1986 i.S. M. gegen Regierungsrat des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Pflichten des Vormundes (Art. 405 ff. ZGB); unentgeltliche Rechtspflege (Art. 4 BV). | |
Sachverhalt | |
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Die Ehefrau von M. reichte am 15. Mai 1985 beim Bezirksgericht St. Gallen die Ehescheidungsklage ein. Zur Führung dieses Prozesses wurde ihr durch das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen am 22. Mai 1985 die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und damit auch ein Rechtsanwalt als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt.
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Am 4. Juni 1985 ersuchte auch der Ehemann beim Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen um unentgeltliche Rechtspflege. Während ihm diese im Sinne der Befreiung von den Verfahrenskosten bewilligt wurde, lehnte das Justiz- und Polizeidepartement die unentgeltliche Rechtsverbeiständung mit der Begründung ab, M. sei bevormundet und sein Vormund verfüge über die nötigen rechtlichen Kenntnisse, um ihn im Scheidungsverfahren zu vertreten.
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Ein Wiedererwägungsgesuch wurde durch Verfügung des Justiz- und Polizeidepartements vom 17. Juli 1985 abgewiesen, was den Vormund zum Rekurs an den Regierungsrat des Kantons St. Gallen veranlasste. Dieser Rekurs des durch den Vormund vertretenen M. wurde vom Regierungsrat am 24. September 1985 abgewiesen.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Im vorliegenden Fall stellt sich allein die Frage, ob die verlangte Rechtsverbeiständung entbehrlich sei, weil der Vormund des Beschwerdeführers eine rechtskundige Person ist. Der Regierungsrat des Kantons St. Gallen hat dies bejaht. Er hat im angefochtenen Beschluss ausgeführt, die Frage der Kinderzuteilung entfalle im Scheidungsprozess der Eheleute M. und die güterrechtliche Auseinandersetzung biete mangels nennenswerten ehelichen Vermögens keine ungewöhnlichen Schwierigkeiten. Da sich M. der Scheidung widersetze, stehe die Frage im Vordergrund, ob die Ehe dermassen zerrüttet sei, dass den Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden könne. Der Scheidungsgrund der tiefen Zerrüttung gehöre zum Grundwissen jedes ausgebildeten Juristen; die Abklärung der Frage, ob eine solche vorliege, biete keine besonderen Probleme. Sodann hat der Regierungsrat festgestellt, dass die Lizentiatsprüfungen des Vormundes lediglich 4 1/2 Jahre zurückliegen, weshalb angenommen werden könne, dass ihm das Rechtsproblem der Zerrüttung geläufig sei. Andernfalls würde es ihm leichtfallen, sich innert Kürze in das sich stellende Thema einzulesen. Zusammen mit dem Wissen des Vormundes, welches er seinem Mündel zur Verfügung zu stellen habe, sei in Betracht zu ziehen, dass das Verfahren - das heisst, die im Ehescheidungsprozess geltende Offizialmaxime - den Parteien weitgehend entgegenkomme. Die zeitliche Belastung, die der Prozess mit sich bringe, sei dem Vormund zuzumuten. Wenngleich der ![]() | 7 |
b) Die Frage, ob ein Vormund oder Beistand zum unentgeltlichen Rechtsbeistand bestellt werden solle, hat sich bisher nur in Vaterschafts- und Ehelichkeitsanfechtungsprozessen gestellt, wobei die Rechtsprechung schwankend war (vgl. BGE 110 Ia 89). Immerhin wurde in BGE 99 Ia 430 ff. ganz allgemein ausgeführt, der verfassungsmässige Armenrechtsanspruch müsse der bevormundeten oder verbeiständeten Partei offenstehen wie jedem anderen Rechtsuchenden; massgebend könne einzig sein, ob sie selbst bedürftig sei oder nicht. Demgegenüber lehnte es das Bundesgericht in BGE 100 Ia 115 ff. ab, in einem als aussichtslos betrachteten Vaterschaftsprozess und dem damit verbundenen Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde den Beistand des Kindes, der praktizierender Anwalt war, zum unentgeltlichen Rechtsbeistand zu ernennen. Nach der Auffassung des Bundesgerichts verfügte der Beistand über die nötigen Rechtskenntnisse, um die Interessen des Kindes zu wahren, und war die Anwaltsentschädigung für das Verfahren vor Bundesgericht Bestandteil der Kosten der Beistandschaft.
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In dem zuletzt publizierten Entscheid zu einer vergleichbaren Frage (BGE 110 Ia 87 ff., insbesondere S. 90) hat das Bundesgericht ausgeführt, es komme unter dem Gesichtspunkt des unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Armenrechtsanspruchs allein darauf an, dass einer bedürftigen Partei der Zugang zum Gericht nicht infolge ihrer Bedürftigkeit verwehrt oder erschwert werde. Dieser durch die Verfassung garantierte Minimalanspruch umfasse indessen nicht auch das Recht, von Verfahrens- oder Vertretungskosten überhaupt befreit zu werden. Eine Partei, die über einen geeigneten rechtskundigen Vertreter verfüge, der zu ihrer Vertretung im Prozess nicht nur in der Lage, sondern ohne Vorschiessung der Kosten auch bereit oder verpflichtet sei, könne daher nicht unter Berufung auf Art. 4 BV die Ernennung eines Armenanwalts verlangen.
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Es kann deshalb nur darauf ankommen, ob der unbestritten bedürftige Beschwerdeführer in dem auf ihn zugekommenen Scheidungsprozess - der nicht als für ihn zum vornherein aussichtslos bezeichnet werden kann - sich gehörig zur Wehr zu setzen vermag. Unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit mit der durch einen Rechtsanwalt vertretenen Ehefrau ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nur während gut fünf Jahren die Schule besucht hat. Ungeachtet der Ausbildung und beruflichen Qualifikation des Vormundes fällt entscheidend ins Gewicht, wie leicht die sich stellenden prozess- und materiellrechtlichen Fragen zu beantworten sind. Der Umstand, dass im Ehescheidungsverfahren für die wichtigsten Fragen die Offizialmaxime gilt, darf dabei nicht überbewertet werden. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass der Beschwerdeführer rechtskundig vertreten ist, das heisst, dass sein Vertreter im Ehescheidungsprozess über die hiefür - und nicht bezüglich anderer Rechtsprobleme - erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten in der Weise verfügt, dass die von einem Rechtsanwalt vertretene Gegenpartei sich nicht vorweg in einer günstigeren Lage befindet (BGE 110 Ia 28).
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b) Entgegen der Auffassung des Regierungsrates kann der Beschwerdeführer seinen von der Verfassung gewährleisteten Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung nicht schon deswegen einbüssen, weil sein Vormund Jurist mit Hochschulabschluss ist. Es lässt sich nicht behaupten, der Beschwerdeführer sei rechtskundig und ausreichend vor Gericht unterstützt aufgrund des Umstandes, dass sein Vormund eine juristische Ausbildung genossen hat; insbesondere ist dadurch nicht a priori Waffengleichheit mit der durch einen Rechtsanwalt vertretenen Gegenpartei hergestellt. Wie der Beschwerdeführer zutreffend darlegt, setzt eine sachkundige Vertretung im Scheidungsprozess nicht nur theoretische Kenntnisse des materiellen Scheidungsrechts voraus, die sich mit entsprechendem Zeitaufwand allenfalls aneignen liessen (wobei es sich freilich fragt, ob das, wie der Regierungsrat ohne weiteres annimmt, noch zum Aufgabenbereich eines aus anderem Grunde bestellten Vormundes gehöre). Vonnöten ist vielmehr auch eine minimale praktische Erfahrung im Umgang mit zivilprozessualen Problemen, über welche man nicht schon deshalb verfügt, weil man ein juristisches Studium abgeschlossen hat. Der Vormund erklärt selber, dass er in seiner bisherigen Tätigkeit nie mit Fragen des Familien- und insbesondere des Scheidungsrechts befasst war. Es spricht für das Verantwortungsbewusstsein des Vormundes gegenüber dem Mündel, dass er sich ausserstande fühlt, dessen persönliche Interessen in einem so wichtigen Verfahren, wie es der Scheidungsprozess für die Betroffenen ist, fachkundig wahrzunehmen.
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d) Soweit entsprechend der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers das Amt des Vormundes Privaten übertragen wird, darf man selbst von einem Vormund mit qualifizierter Ausbildung nicht erwarten, dass er über die Wahrung der persönlichen und vermögensrechtlichen Interessen des Mündels hinaus - mit der an sich eine Prozessführung verbunden sein mag (Kommentar EGGER, N. 28 zu Art. 407 ZGB) - geradezu als dessen Rechtsanwalt tätig wird, ohne dass er diesen Beruf praktiziert. Qualifizierte Berufsleute würden von der Übernahme einer Vormundschaft abgehalten, wenn man sie unter Berufung auf ihre Ausbildung zwänge, Aufgaben in grossem Umfang zu erfüllen, die zwar den Interessen des Mündels dienen, aber doch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vormundschaft stehen und bei deren Übernahme nicht vorausgesehen werden konnten. Dem Bevormundeten steht wie jedem Rechtsuchenden der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu, sofern die Voraussetzungen hiefür erfüllt sind. Dieser Anspruch darf nicht deswegen beeinträchtigt werden, weil dem Mündel zufällig ein als Jurist ausgebildeter Vormund zur Seite steht, der aber nicht über die Kenntnisse und die Erfahrung eines patentierten Rechtsanwaltes verfügt.
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