BGE 112 Ia 155 | |||
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27. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. April 1986 i.S. Ursula Silberschmidt und Matthias Grauf gegen Gemeinde Ermatingen und Regierungsrat des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 2 ÜbBest. BV; Vorrang des Bundesrechts auf dem Gebiet der Raumplanung. | |
Sachverhalt | |
Ursula Silberschmidt und Matthias Grauf sind Miteigentümer der unüberbauten Parzelle GB Nr. E 536 in der "Setzi" in Ermatingen. Das mitten im Dorf gelegene Grundstück befand sich nach dem früheren Zonenplan der Gemeinde aus dem Jahre 1965 in der definitiven Bauzone für zwei- bis dreigeschossige Wohnbauten. Am 18. Januar 1984 beschloss die Gemeindeversammlung Ermatingen einen neuen Zonenplan. Danach befindet sich die Parzelle GB Nr. E 536 neu in der Reservebauzone für zweigeschossige Wohnbauten. Über diese Änderung beschwerten sich die Eigentümer des Grundstücks beim Regierungsrat des Kantons Thurgau. Dieser wies die Beschwerde mit Beschluss vom 4. Dezember 1984 ab. Ursula Silberschmidt und Matthias Grauf führen mit Eingabe vom 21. Januar 1985 staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Die Parzelle GB Nr. E 536 der Beschwerdeführer wurde in der Zonenplanrevision von der definitiven Bauzone für zwei- bis dreigeschossige Wohnbauten in die Reservebauzone für zweigeschossige Wohnbauten umgeteilt. Die Beschwerdeführer machen geltend, dass für diese Massnahme eine rechtsgültige gesetzliche Grundlage fehle. Die Vorschrift des § 21 des Baugesetzes des Kantons Thurgau vom 28. April 1977 (BauG), auf den sich die Umzonung stütze, widerspreche jener von Art. 15 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG). Sie schaffe eine Zone, die das Bundesrecht nicht kenne und mit der die Verwirklichung von Art. 19 Abs. 2 RPG verhindert werden könne. Damit bringen die Beschwerdeführer in erster Linie sinngemäss vor, die Zuteilung ihrer Parzelle zur Reservebauzone sei deshalb unzulässig, weil das als Grundlage dienende kantonale Recht wegen des Vorrangs des Bundesrechts nicht angewendet werden dürfe (Art. 2 ÜbBest. BV).
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a) Ob ein kantonaler Rechtssatz oder die ihm gegebene Auslegung mit dem Bundesrecht vereinbar ist, prüft das Bundesgericht frei (BGE 109 Ia 74 E. 3 mit Hinweis).
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b) Gemäss Art. 15 RPG umfassen Bauzonen Land, das sich für die Überbauung eignet und weitgehend überbaut ist (lit. a), oder voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt und erschlossen wird (lit. b). Für dieses Land gilt sodann die Erschliessungspflicht gemäss Art. 19 RPG und Art. 5 des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes vom 4. Oktober 1974 (WEG). Die Bauzonen müssen durch das Gemeinwesen zeitgerecht erschlossen werden. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung betont die Erschliessungspflicht (BGE 109 Ib 25 E. 4c) und leitet hieraus unter Umständen in Verbindung mit der Forderung nach sachgerechter Planung eine Einzonungspflicht ab (BGE 110 Ia 53 ff. E. 4).
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Das thurgauische Baugesetz verpflichtet die Gemeinden unter anderem, ein Baureglement mit zugehörigem Zonenplan zu erlassen (§ 11 Abs. 1 BauG). Im Zonenplan ist das Baugebiet nach der mutmasslichen Entwicklung auszuscheiden, und es sind die Landschafts-, Forst- und Schutzgebiete sowie das übrige Gebiet festzulegen (§ 15 BauG). Das Baugebiet besteht aus definitiven Bauzonen und Reservebauzonen; es darf insgesamt nur Land umfassen, das bereits weitgehend überbaut ist oder innert 10 bis 15 Jahren für eine Überbauung benötigt wird und innert dieser Frist erschlossen werden kann (§ 16 BauG). Die definitiven Bauzonen stehen gemäss § 17 BauG der Überbauung offen; es besteht ein Anspruch auf Erteilung der Baubewilligung (Abs. 1). Die Gemeinden sind verpflichtet, die definitiven Bauzonen zu erschliessen (Abs. 2). Demgegenüber werden Reservebauzonen nach § 21 BauG entsprechend der baulichen Entwicklung und dem Baulandbedarf einer späteren Überbauung zugeführt; es besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Baubewilligung (Abs. 1). Die Umwandlung in definitive Bauzonen kann etappenweise durch die zuständige Gemeindebehörde beschlossen werden; der Beschluss ist dem fakultativen Referendum gemäss § 7 Abs. 2 BauG zu unterstellen (Abs. 2). Beschlüsse über die Umteilung von Reservebauzonen in definitive Bauzonen müssen gemäss § 38 BauG während dreissig Tagen öffentlich aufgelegt werden (Abs. 1). Sind nur einzelne kleine Grundstücke betroffen, kann die Auflage durch die schriftliche Mitteilung an die betroffenen Grundeigentümer ersetzt werden (Abs. 2). Die Auflage ist öffentlich bekannt zu machen und den betroffenen Grundeigentümern, die in der Gemeinde keinen Wohnsitz oder Sitz haben, schriftlich mitzuteilen, soweit Namen und Adressen bekannt sind (§ 39 BauG). Gemäss § 40 BauG kann während der Auflagefrist jedermann, der ein rechtliches Interesse nachweist, bei der zuständigen Gemeindebehörde Einsprache erheben (Abs. 1). Bewirkt die Gutheissung von Einsprachen erhebliche Änderungen des aufgelegten Plans, so ist das Auflageverfahren von gewissen Ausnahmen abgesehen zu wiederholen (Abs. 4). Nach durchgeführtem Auflageverfahren und nach einer allenfalls erforderlichen Gemeindeabstimmung, die gemäss § 7 Abs. 2 BauG mangels tieferen Quorums gemäss Gemeindeorganisationsreglement von 1/10 der Stimmberechtigten verlangt werden kann, sind die Pläne mit den zugehörigen Vorschriften dem Regierungsrat zur Genehmigung zu unterbreiten; diese wird erteilt, wenn die Pläne den gesetzlichen Vorschriften und der übergeordneten Planung entsprechen und nicht als unzweckmässig erscheinen (§ 41 BauG). Gemäss § 13 Abs. 2 des Baureglements der Gemeinde Ermatingen vom 18. Januar 1984 (BauR) kann die Umwandlung einer Reservebauzone in die entsprechende, im Zonenplan vermerkte definitive Bauzone bei Bedarf etappenweise auf Antrag des Gemeinderates durch die Gemeindeversammlung beschlossen werden. Die Umwandlung obliegt in Ermatingen somit dem obligatorischen Referendum. Sie geschieht nach Art. 13 Abs. 3 BauR nach Vorbereitung der Baureife durch einen Quartierplan beziehungsweise durch den Bau der Erschliessungsanlagen. Diese Vorschrift ist eine Folge des Anspruchs auf Erteilung der Baubewilligung, den das thurgauische Recht den Grundeigentümern in den definitiven Bauzonen gewährt (§ 17 Abs. 1 Satz 2 BauG).
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c) Nach der dargestellten Regelung des thurgauischen Baurechts bedingt die Umwandlung einer Reservebauzone in die definitive Bauzone ein eigentliches Ein- beziehungsweise Umzonungsverfahren. Diese Voraussetzung besteht, obwohl gemäss § 16 BauG die Reservebauzonen zusammen mit den definitiven Bauzonen das Baugebiet bilden, das mit der Bauzone im Sinne von Art. 15 RPG praktisch übereinstimmt: Es umfasst - wie erwähnt - das bereits weitgehend überbaute oder innert 10 bis 15 Jahren für die Überbauung benötigte Land, das innert dieser Frist erschlossen werden kann. Die Kantone und Gemeinden sind verpflichtet, ihr Recht und ihre Nutzungspläne so auszugestalten, dass die Bauzonen den Grundsätzen von Art. 15 RPG entsprechen. Umfassen aber die Bauzonen in Übereinstimmung mit dieser Vorschrift des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes nur das Land, das weitgehend überbaut ist oder voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt und erschlossen wird, so ist es mit Art. 15 RPG unvereinbar, diese Zonen so zu unterteilen, dass ein Teil davon erst nach Durchführung eines weiteren Ein- beziehungsweise Umzonungsverfahrens der bestimmungsgemässen Nutzung zugeführt werden kann. Das Bauzonenland ist in seiner Gesamtheit für die bauliche Nutzung bereit zu halten, und es dürfen ihrer Verwirklichung nicht Hindernisse in den Weg gestellt werden, die mit einer Neueinzonung vergleichbar sind oder einer solchen nahekommen.
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d) Im vorliegenden Fall führen diese Erwägungen zum Ergebnis, dass die Reservebauzone gemäss § 21 in Verbindung mit § 16 BauG als bundesrechtswidrig zu betrachten ist, weil sie Bauzonenland im Sinne von Art. 15 RPG enthält, das aber zu seiner bestimmungsgemässen Nutzung in unzulässiger Weise noch einer eigentlichen Um- beziehungsweise Einzonung bedarf, um sie in die definitive Bauzone umzuwandeln. Diese Regelung, die in der Praxis ausserdem derart restriktiv gehandhabt wird, dass nur erschlossenes Land in eine definitive Bauzone eingewiesen wird, gewährleistet kein ausreichendes Bodenangebot und lähmt den Baulandmarkt. Das widerspricht nicht nur Art. 15 lit. b RPG, sondern auch dem Sinn der bundesrechtlichen Erschliessungspflicht gemäss Art. 19 RPG und Art. 5 WEG.
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e) Die Feststellung der Bundesrechtswidrigkeit führt im vorliegenden Fall nicht zur Aufhebung der Regelung von § 21 in Verbindung mit § 16 BauG, da die Frist zu ihrer Anfechtung längst abgelaufen ist (Art. 89 OG). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts kann jedoch die Verfassungswidrigkeit einer kantonalen Vorschrift auch noch bei der Anfechtung eines gestützt darauf ergangenen Anwendungsakts geltend gemacht werden. Erweist sich der Vorwurf als begründet, so führt das freilich nicht zur formellen Aufhebung der Vorschrift; die vorfrageweise Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit im konkreten Anwendungsfall hat nur zur Folge, dass die Vorschrift insoweit auf die Beschwerdeführer nicht angewendet und der gestützt auf sie ergangene Entscheid aufgehoben wird (BGE 111 Ia 243 E. 4; BGE 104 Ia 87 E. 5 mit Hinweisen).
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f) Es wird Sache des thurgauischen Gesetzgebers sein, das Baugesetz an die Grundsätze von Art. 15 und 19 RPG sowie Art. 5 und 6 WEG anzupassen. Dabei ist es ihm nicht verwehrt, innerhalb der Bauzonen eine Erschliessungsetappierung vorzusehen, um die systematische und rationelle Erschliessung der Bauzone sicherzustellen. So wäre etwa eine Regelung denkbar, wonach die Gemeinde zunächst nur in der ersten Etappe die Erschliessung unter Erhebung von Erschliessungsabgaben ausführen oder zulassen würde. Das Bundesrecht stellt es den Kantonen beziehungsweise Gemeinden frei, auch in Gebieten, die späteren Erschliessungsetappen zugewiesen sind, die Möglichkeit einer vorzeitigen Erschliessung vorzusehen. Soweit es mit dem Grundsatz der geordneten Siedlungsentwicklung vereinbar ist, könnte den Eigentümern von Land in diesen Gebieten beispielsweise das Recht eingeräumt werden, die Erschliessungsanlagen nach den von der Gemeinde genehmigten Plänen zu bauen (Art. 19 Abs. 3 RPG; vgl. auch BGE 104 Ia 140 E. 4a); nötigenfalls hätte das in Verbindung mit einer Landumlegung zu geschehen (Art. 20 RPG; Art. 8 WEG). Bundesrechtlich wäre es auch nicht ausgeschlossen, ausserhalb der auf den voraussichtlichen Bedarf von 15 Jahren bemessenen Bauzonen sogenannte Bauentwicklungszonen zu bezeichnen (Art. 18 Abs. 2 RPG; EJPD/BRP, Erläuterungen zum Bundesgesetz über die Raumplanung, Bern 1981, Art. 18 N. 14, S. 237; vgl. auch BGE 108 Ia 36 E. 3a).
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g) Entgegen der Auffassung des Regierungsrates stellt die als bundesrechtswidrig zu bezeichnende Reservebauzone kein Instrument der Erschliessungsetappierung dar. Die Reservebauzone erscheint eher als zweite Baugebietsetappe; als solche dürfte sie aber nach dem Gesagten nicht Teil der Bauzone im Sinne von Art. 15 RPG sein.
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