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43. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13. November 1986 i.S. Politische Gemeinde Sent gegen X. und Mitbeteiligte und Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Gemeindeautonomie; Aufhebung von Privatgräbern. |
2. Ist die kantonale Behörde von Gesetzes wegen verpflichtet, den Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln, so verletzt sie die Gemeindeautonomie, wenn sie eine Bestimmung eines Gemeindereglementes aufhebt, ohne die rechtserheblichen Verhältnisse abzuklären (E. 5c). | |
Sachverhalt | |
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Vierunddreissig Personen, die sich als an Privatgräbern in Sent berechtigt betrachten, erhoben bei der Regierung des Kantons Graubünden eine verfassungsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Friedhofreglement der Gemeinde Sent vom 10./11. Dezember 1984 sei aufzuheben, soweit damit Privatgrabrechte eingeschränkt oder aufgehoben würden. Nach Anhörung der Gemeinde zur Sache selbst entschied die Regierung des Kantons Graubünden am 21. April 1986 wie folgt:
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"1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Satz '...Id existan be fossas publicas...' in Art. 8 des 'Reglamaint da sepultüra e da sunteri dal cumün da Sent' vom 10. Dezember 1984 aufgehoben.
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2. Die Gemeinde Sent wird verpflichtet, die Aufhebung des Satzes '...Id existan be fossas publicas...' in Art. 8 des Reglementes vom 10. Dezember 1984 im amtlichen Publikationsorgan der Gemeinde Sent unter Mitteilung an das Sanitätsdepartement zu veröffentlichen.
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(3. und 4. Kosten- und Entschädigungsfolgen)."
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Die Begründung dieses Entscheides geht im wesentlichen dahin, die Beschwerdeführer hätten sich als Konzessionäre an den Privatgräbern ihrer Familien wohlerworbene Rechte verschafft. Der solche Rechte begründende Akt sei unwiderruflich, soweit er nicht selbst oder eine schon bei der Begründung des Rechtes geltende allgemeine Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen den Widerruf zulasse. Im übrigen habe die Gemeinde Sent nicht geltend gemacht, die Aufhebung der Grabkonzession liege im öffentlichen Interesse oder der Entzug lasse sich unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit rechtfertigen. Schliesslich sei für den Entzug der Konzessionen auch keine Entschädigung vorgesehen. Ob auch kulturhistorische Gründe gegen die Aufhebung der Privatgräber ![]() | 7 |
Die Gemeinde Sent führt gegen diesen Beschluss staatsrechtliche Beschwerde. Sie rügt eine Verletzung der Gemeindeautonomie und beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Gemeinde Sent im Sinne der Erwägungen gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Die Tragweite des angefochtenen Entscheides ist nicht leicht zu bestimmen. Er enthält Wendungen, die dafür sprechen, die Regierung betrachte die umstrittenen Sondernutzungskonzessionen überhaupt als unwiderruflich, weil sie selbst keinen entsprechenden Vorbehalt enthalten und auch im Zeitpunkt ihrer Begründung keine geltende allgemeine Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen ihren Widerruf zugelassen habe. Andere Stellen könnten demgegenüber so ausgelegt werden, dass die Regierung einen Entzug der Konzessionen bei Nachweis eines überwiegenden öffentlichen Interesses, Einhaltung des Prinzips der Verhältnismässigkeit und Zusicherung einer Entschädigung für zulässig betrachten würde. Die erste Auffassung wäre klarerweise bundesrechtswidrig. Eine Sondernutzungskonzession begründet zwar nach herrschender Lehre ein wohlerworbenes Recht, welches unter dem ![]() | 11 |
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b) Kann ein durch Sondernutzungskonzession erworbenes Recht nicht weiter gehen als das Eigentum, so muss es - abgesehen vom Erlöschen durch Fristablauf - auch unter denselben Voraussetzungen eingeschränkt oder aufgehoben werden können wie dieses (vgl. ZBl 86/1985, S. 502 und aus der dort angeführten Literatur vor allem WALTER KÄMPFER, Zur Gesetzesbeständigkeit "wohlerworbener Rechte", in: Mélanges Henri Zwahlen, Lausanne 1977, S. 355). Eingriffe in solche Rechte sind somit in analoger Anwendung der zu Art. 22ter BV entwickelten Grundsätze zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und dafür volle Entschädigung geleistet wird, soweit der Eingriff einer Enteignung gleichkommt (BGE 111 Ia 96 E. 2; BGE 110 Ia 33 E. 4; BGE 106 Ia 168 E. 1b). Ob dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer weiteren selbständigen Eingriffsvoraussetzung zukommt oder ob diesem nicht notwendigerweise bei der Abwägung der öffentlichen Interessen am Eingriff gegenüber den privaten an dessen Unterlassung Rechnung zu tragen sei, ist eine Frage von bloss formeller Tragweite, die hier offenbleiben kann.
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c) Im angefochtenen Entscheid wird erklärt, die Gemeinde Sent habe das Vorliegen eines öffentlichen Interesses und die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit nicht dargetan. Es trifft zu, dass die Vernehmlassung der Gemeinde im kantonalen Beschwerdeverfahren vom 6. März 1986 in dieser Hinsicht Lücken ![]() | 14 |
Die Gemeinde Sent macht auch geltend, die Frage der Privatgräber sei zwischen ihr und dem Sanitätsdepartement diskutiert worden. Sowohl die Regierung wie die privaten Beschwerdegegner bestreiten dies mit Hinweis auf die Akten. Welche Sicht der Dinge den Tatsachen entspricht, lässt sich aufgrund der dem Bundesgericht vorliegenden Unterlagen nicht klar entscheiden. Dies ist aber auch nicht notwendig, denn selbst wenn die Aufhebung der Privatgräber im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nicht besprochen wurde, so hätte dies die Regierung als Rechtsmittelinstanz nicht davon entbunden, den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären und eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. dazu BGE 110 Ia 86 E. 4b).
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Es scheint allerdings, dass die Regierung weniger diesen Punkt beanstanden will als vielmehr das Fehlen gemeinderechtlicher Grundlagen für die Entschädigung der Berechtigten an den aufgehobenen Privatgräbern. Auch dieser Einwand ist jedoch unbegründet. Geht man davon aus, dass die Konzessionäre eine mit dinglich Berechtigten vergleichbare Stellung einnehmen, so darf allerdings die Konzession grundsätzlich nur gegen Entschädigung aufgehoben werden. Über die Frage, ob ein bewertbarer Schaden entstehe, wenn ja, für welche Personen und in welcher Höhe, ist indessen nicht in diesem Verfahren zu entscheiden. Die Argumentation der Regierung verkennt, dass die Entschädigung nicht Voraussetzung, sondern Folge des Eingriffs in Rechte dinglicher oder verwandter Natur darstellt. Die Verhältnisse lassen sich mit denjenigen bei Erlass eines neuen Zonenplanes vergleichen, durch den ein bisher überbaubares und einer Bauzone zugeteiltes Grundstück in eine nicht mehr überbaubare Zone eingewiesen wird. Zwar kann es in diesen Fällen immer nur um materielle und nicht um formelle Enteignung gehen; indessen muss auch vorliegend gelten, dass die Zulässigkeit des Eingriffs zunächst nach den übrigen angeführten Gesichtspunkten zu prüfen ist und die Frage der Enteignungsentschädigung anschliessend in einem besonderen Verfahren durch die hiefür zuständigen Behörden zu beurteilen bleibt (vgl. dazu BGE 98 Ia 595 E. 5; BGE 97 I 626 E. 5). Anders wäre es höchstens, wenn das neue Reglement Entschädigungen von vornherein für alle Fälle ausschlösse; allein dies ist nicht der Fall, und die Gemeinde bemerkt in der staatsrechtlichen Beschwerde sogar ausdrücklich, sie betrachte es als selbstverständlich, dass sowohl genutzte wie nicht genutzte Grabrechte nur gegen Entschädigung abgelöst würden. Schliesslich ist zu diesem Punkt beizufügen, dass eine generelle Regelung der Entschädigungsfrage schon im Reglement wegen ![]() | 17 |
6. Aus allen diesen Gründen erscheint der Entscheid der Regierung des Kantons Graubünden als unzulässiger Eingriff in den Autonomiebereich der Gemeinde Sent und ist aufzuheben. Mit den von beiden Parteien vorgetragenen materiellen Argumenten hat sich das Bundesgericht nicht zu befassen. Es wird vielmehr Sache der Regierung sein, nach Vornahme der notwendigen Erhebungen und allenfalls nach Durchführung eines Augenscheins erneut darüber zu befinden, ob der vorgesehene Eingriff in wohlerworbene Rechte der privaten Beschwerdegegner im öffentlichen Interesse liege und verhältnismässig sei.
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