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23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. März 1987 i.S. Heinz Aebi und Mitb. gegen den Grossen Rat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 85 lit. a OG; Wiedererwägungsgesuch betreffend Erwahrungsbeschluss über Abstimmungen und Wahlen. | |
Sachverhalt | |
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Am 3. September 1985 erhoben Heinz Aebi, Konrad Düblin, Alfred Jeker, Ernst Mani und Walter Schmidlin, welche im Laufental stimmberechtigt sind, Abstimmungsbeschwerde "an die Staatskanzlei z.H. des zuständigen Entscheidungsorgans". Sie beantragten: "Es sei die Laufentalabstimmung null und nichtig zu erklären, eventuell aufzuheben, und es sei über die gleiche ![]() | 2 |
Am 18. November 1985 entschied der Grosse Rat, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Zur Begründung führte er aus, die klare gesetzliche Regelung, wonach die Beschwerde spätestens drei Tage nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Abstimmung einzureichen sei, sei nicht eingehalten worden. Es könne auch nicht auf den Erwahrungsbeschluss des Grossen Rates vom 7. November 1983 zurückgekommen werden, denn hiezu fehle es an einer positiven Rechtsgrundlage; und aus Gründen der Rechtssicherheit erscheine dies auch als unhaltbar.
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Hiergegen erhoben Heinz Aebi, Konrad Düblin, Alfred Jeker, Ernst Mani und Walter Schmidlin am 28. Dezember 1985 staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht wegen Verletzung des Stimmrechts (Art. 85 lit. a OG) und wegen Verletzung von Art. 4 BV. Sie beantragen, der Entscheid des Grossen Rates des Kantons Bern vom 18. November 1985 sei aufzuheben; dieser sei anzuweisen, auf die Abstimmungsbeschwerde vom 3. September 1985 einzutreten und diese materiell zu entscheiden.
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Aus den Erwägungen: | |
1. a) Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich bloss kassatorischer Natur (BGE 112 Ia 211 f. E. 1c, 225 E. 1c, mit Hinweisen). Dies gilt auch für die Stimmrechtsbeschwerde (BGE 107 Ia 219 E. 1b mit Hinweisen). Der Erlass positiver Anordnungen kann daher in der Regel nicht verlangt werden. Eine Ausnahme ![]() | 5 |
b) Die Beschwerdeführer rügen zur Hauptsache eine Verletzung ihres politischen Stimmrechts. Sie sind unbestrittenermassen stimmberechtigte Einwohner des Amtsbezirkes Laufen. Als solche sind sie zur Stimmrechtsbeschwerde nach Art. 85 lit. a OG legitimiert (BGE 112 Ia 211 E. 1a, 224 E. 1a; BGE 111 Ia 116 E. 1a mit Hinweisen).
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Mit der Verletzung ihres Stimmrechts rügen die Beschwerdeführer auch eine solche von Art. 4 BV. Soweit im Rahmen dieser Verfassungsbestimmung zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführer sich auf den von Lehre und Rechtsprechung unmittelbar daraus abgeleiteten Anspruch auf Wiedererwägung eines Entscheides - hier also des die Abstimmung vom 11. September 1983 betreffenden Erwahrungsentscheides - berufen können und ob dieser Anspruch verletzt worden ist, betrifft dies der Sache nach eine Frage ihres Stimmrechts; es würde auf eine Verletzung ihres Stimmrechts hinauslaufen, wenn der Grosse Rat des Kantons Bern mit seinem Entscheid vom 18. November 1985 zu Unrecht nicht auf ihre als Wiedererwägungsgesuch zu verstehende Beschwerde vom 3. September 1985 eingetreten wäre. Insofern sie dies in ihrer Beschwerde geltend machen, sind sie daher auch hinsichtlich der Rüge der Verletzung von Art. 4 BV zur Stimmrechtsbeschwerde legitimiert. Nebstdem kommt der von den Beschwerdeführern zusätzlich erhobenen Rüge der Verletzung des Rechtsgleichheitsgebotes eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Ob sie - was nicht nach Art. 85 lit. a, sondern nach Art. 88 OG zu prüfen wäre - auch zu dieser Rüge legitimiert sind (vgl. hiezu BGE 111 Ia 117 E. 1b mit Hinweisen), kann unter den gegebenen Umständen offenbleiben.
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2. Nach Art. 89 Abs. 2 des bernischen Gesetzes über die politischen Rechte vom 5. Mai 1980 (GPR) ist eine Beschwerde innert drei Tagen seit der Entdeckung der Beschwerdegründe, spätestens aber drei Tage nach der Veröffentlichung der Ergebnisse einer Abstimmung oder Wahl, beim Regierungsrat einzureichen. Es steht unbestrittenermassen fest, dass die Beschwerdeführer die letztere Frist nicht eingehalten haben. Entgegen ihrer ![]() | 8 |
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a) Wiedererwägungs- und Revisionsersuchen im Verwaltungsverfahrensrecht sind Gesuche an eine Behörde, eine rechtskräftige Verfügung aufzuheben oder abzuändern (vgl. ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Band II, S. 947; FRITZ GYGI, Verwaltungsrecht, S. 308 ff., 311 ff. und 316; FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, S. 220 und 260 ff.; PETER SALADIN, Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, S. 166). Die Terminologie in Gesetzgebung, Lehre und Praxis ist nicht einheitlich, und oftmals wird zwischen Wiedererwägung und Revision nicht unterschieden. Soweit ein Unterschied vorgenommen wird, ist das Revisionsgesuch an Fristen und Formen gebunden, das Wiedererwägungsgesuch jedoch nicht (so z.B. GRISEL, a.a.O., S. 947; BGE 109 Ib 252 E. 4a). Beiden Rechtsbehelfen ist gemeinsam, dass unter bestimmten Voraussetzungen von einer Behörde verlangt werden kann, auf ihren früher gefassten, in Rechtskraft erwachsenen Entscheid zurückzukommen (s. die bereits angeführten Zitate).
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Wo eine solche Verpflichtung weder gesetzlich vorgesehen noch von einer ständigen Verwaltungspraxis anerkannt ist, sind die aus Art. 4 BV abgeleiteten Grundsätze massgebend. Sie gehen dem kantonalen Recht vor, wenn dieses eine Verpflichtung überhaupt verneint oder einer solchen nur eine hinter den Anforderungen von Art. 4 BV zurückbleibende Tragweite verleiht (BGE 100 Ib 371 E. 3a).
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b) Das bernische Recht sieht eine Wiedererwägung oder Revision im kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetz vom 22. Oktober 1961 (VRPG) vor. Es handelt sich um das "neue Recht", welches in Art. 75 ff. VRPG geregelt ist. Danach können Parteien und Beigeladene um Abänderung oder Aufhebung eines in Rechtskraft erwachsenen Entscheides ersuchen (Art. 75 Abs. 1 VRPG), wenn
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1. sie Beweismittel, die zur Erwahrung erheblicher Tatsachen dienen, erst seit der Beurteilung der Sache entdeckt oder zur Hand gebracht haben;
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2. ihnen seit der Beurteilung der Sache neue, für die Entscheidung erhebliche Tatsachen bekannt geworden sind;
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3. durch eine strafbare Handlung auf den Entscheid in erheblicher Weise eingewirkt wurde.
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Es stellt sich die Frage, ob das "neue Recht" gemäss Art. 75 ff. VRPG auch für Wahl- und Abstimmungsverfahren zur Anwendung gelangen kann. Dem steht vorerst entgegen, dass das Gesetz über die politischen Rechte vom 5. Mai 1980 die Abstimmungs- und Wahlverfahren abschliessend regelt. Zwar sieht Art. 95 Abs. 1 GPR vor, dass in den Beschwerdeverfahren, in denen der Regierungsrat endgültig entscheidet, im übrigen die Vorschriften des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege gelten. Ob damit auch die Bestimmungen über das "neue Recht" zur Anwendung gelangen können, kann hier jedoch offengelassen werden, da für die Anfechtung der Ergebnisse einer kantonalen Abstimmung oder Wahl der Grosse Rat auf Antrag des Regierungsrates zu entscheiden hat (Art. 93 Abs. 2 GPR) und Art. 95 Abs. 1 GPR somit keine Anwendung findet; der Grosse Rat ist keine Verwaltungsjustizbehörde im Sinne von Art. 1 VRPG, so dass dieses Gesetz für ein vor ihm hängiges Verfahren nicht unmittelbar anwendbar ist. Letztlich liesse sich allerdings noch fragen, ob die Bestimmungen des "neuen Rechts" gemäss Art. 75 ff. VRPG in einem Fall wie ![]() | 18 |
c) Die Behörde hat auf ein Wiedererwägungsgesuch hin zunächst zu prüfen, ob die Voraussetzungen, unter denen sie zur Wiedererwägung verpflichtet ist, erfüllt sind. Ist dies der Fall, so hat sie, nötigenfalls nach Ergänzung der Akten, einen neuen Sachentscheid zu treffen, gegen den normalerweise die gewöhnlichen Rechtsmittel offenstehen. Findet sie jedoch, dass die verlangten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, so darf sie die materielle Prüfung des Gesuches ablehnen, ohne dass ihr Entscheid eine neue Frist zur Beschwerde in der Sache selbst in Gang setzt; der Gesuchsteller kann dann mit Beschwerde bloss geltend machen, die ![]() | 19 |
d) Hinsichtlich der Frist, innert der ein Wiedererwägungsgesuch gestellt werden kann, ist der vom Regierungsrat in seiner Vernehmlassung vom 5. März 1986 bekundeten Auffassung insoweit beizupflichten, als nicht jede noch so weit zurückliegende Abstimmung bei Entdeckung von eventuell wesentlichen Formfehlern noch angefochten werden kann; auch der Möglichkeit der Wiedererwägung müssen aus Gründen der Rechtssicherheit zeitliche Grenzen gesetzt sein. Wenn es um schwerwiegende, verborgen gehaltene Mängel geht, kann es sich dabei aber nur um langfristige Grenzen handeln und nicht um eine blosse Dreitagesfrist, wie sie in Art. 89 Abs. 2 GPR vorgesehen ist. Im öffentlichen Recht sind Verjährungs- oder Verwirkungsfristen oft nicht geregelt, so dass sie durch Richterrecht geschaffen werden müssen (s. BGE 112 Ia 262 ff. E. 5 mit Hinweisen). Erwähnt seien in diesem Zusammenhang etwa die fünfjährige Verjährungsfrist bei Ansprüchen aus dem Nationalstrassenbau (BGE 105 Ib 14), die zehnjährige Verjährungsfrist bei Ansprüchen aus materieller Enteignung bei Fehlen kantonalrechtlicher Bestimmungen (BGE 111 Ib 272 und BGE 108 Ib 340) und die dreissigjährige Verwirkungsfrist für den Abbruch rechtswidrig erstellter Bauten (BGE 107 Ia 124). In einem Stimmrechtsfall der vorliegenden Art könnte unter Umständen auch eine analoge Anwendung von Art. 60 OR in Frage kommen, was eine absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren seit der Abstimmung und eine relative Verjährungsfrist von einem Jahr ab Kenntnisnahme der beanstandeten Intervention bedeuten würde. Welche derartige absolute und relative Verjährungs- bzw. welche Verwirkungsfrist in der vorliegenden Sache tatsächlich gelten soll, kann allerdings offenbleiben. Nachdem das Wiedererwägungsgesuch bereits knapp zwei Jahre nach der fraglichen Abstimmung und an dem der Bekanntgabe der beanstandeten Intervention folgenden Tag eingereicht wurde, ist hier eine solche Frist noch keinesfalls abgelaufen.
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e) Die Beschwerdeführer haben unter Hinweis auf die Veröffentlichung des Untersuchungsberichts der BUK substantiiert dargetan, erst aufgrund dieser Veröffentlichung erfahren zu haben, dass von seiten der Regierung Fr. 333'281.-- an das Propagandakomitee "Aktion bernisches Laufental" bezahlt worden seien. Sie halten ![]() | 21 |
Von dem im kantonalen Verfahren mehrfach erwähnten Bundesgerichtsurteil i.S. L. Theiler gegen den Grossen Rat des Kantons Bern vom 21. Juni 1985 unterscheidet sich der hier zu beurteilende Fall einmal darin, dass es damals nicht um eine Wiedererwägung, sondern um die Beschwerdefrist als solche ging. Zum andern erfordern Entscheide der vorliegenden Art immer eine Gewichtung. Im Rahmen der aus Art. 4 BV abgeleiteten Grundsätze, wie sie oben (lit. a) dargelegt worden sind, kann selbstverständlich keine Rede davon sein, dass jede geringfügige neue Erkenntnis über einen Formfehler bei der Abstimmung einen Wiedererwägungsanspruch verleiht. Vielmehr muss es sich um gravierende Mängel handeln, die ihrer Bedeutung nach mit den eigentlichen Revisionsgründen des Verwaltungsverfahrens- und auch des Zivil- oder Strafprozessrechtes auf eine Ebene zu stellen sind. Eine Gewichtung vorzunehmen, ist in Fällen dieser Art nicht zu umgehen; sie fällt dem Bundesgericht auch in vielen Fällen anderer Natur zu, vor allem bei jeder Interessenabwägung und bei der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit. Diese Gewichtung muss hier klar zugunsten der Erheblichkeit der neu entdeckten Tatsachen ausfallen. Es genügt, die aus kantonalen Mitteln ohne Wissen des Parlamentes und des Volkes aufgewendete Summe durch die Zahl der Stimmberechtigten des Laufentals zu dividieren, um zu erkennen, wie erheblich diese Einflussnahme war. Demnach ist festzustellen, dass der Grosse Rat des Kantons Bern wegen der Erheblichkeit der neu entdeckten Tatsachen auf das von den Beschwerdeführern am 3. September 1985 gestellte Wiedererwägungsgesuch hätte eintreten müssen.
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Damit ist allerdings noch nichts über die Frage der Erlaubtheit oder Unerlaubtheit der Einflussnahme gesagt. Diese Frage, also die Frage der materiellen Begründetheit des Gesuchs, bildet nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, sondern wird von der für die Wiedererwägung zuständigen Behörde zu beurteilen sein. Die im angefochtenen Entscheid (in Ziff. 2.5. der Erwägungen) enthaltene kurze Stellungnahme des Grossen Rates zur Frage der Erheblichkeit der Einflussnahme auf die Abstimmung vermag ![]() | 23 |
f) Somit ist die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne der vorstehenden Erwägungen gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann, und der Entscheid des Grossen Rates des Kantons Bern vom 18. November 1985 ist aufzuheben.
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Es drängt sich auf, die das Abstimmungs- und Wahlbeschwerdeverfahren betreffende Bestimmung des Art. 93 GPR im Falle einer auf diesem Gebiet vorzunehmenden Wiedererwägung analog anzuwenden, wie dies der Grosse Rat getan hat. Entsprechend ist nach Art. 93 Abs. 2 GPR er selbst die zur materiellen Beurteilung des Wiedererwägungsgesuchs zuständige Behörde. Der Regierungsrat kommt nur als antragstellende Behörde in Betracht, wobei hier offenbleiben kann, ob ihn eine Antragspflicht trifft oder ob er bei einer besonderen Konstellation wie der vorliegenden vom Grossen Rat auch von der Instruktion der Sache entbunden werden kann.
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