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9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. März 1988 i.S. F. gegen Kanton Thurgau und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 85 lit. a OG; Anfechtung einer Abstimmung; Untersuchungspflicht der Behörden. | |
Sachverhalt | |
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F. hat gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Stimmrechts eingereicht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es auf sie eintreten kann.
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Aus den Erwägungen: | |
3. Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische Stimmrecht gibt dem Bürger einen Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 113 Ia 45 E. 2b mit Hinweisen). Nach dem thurgauischen Gesetz über Wahlen und Abstimmungen kann jeder Stimmberechtigte die Durchführung und die Ergebnisse von Abstimmungen durch Rekurs anfechten (§ 52 Abs. 1 WAG). Gemäss § 52 Abs. 3 WAG ist die angefochtene Abstimmung ungültig zu erklären und deren Wiederholung anzuordnen, wenn die geltenden Vorschriften verletzt worden sind und deshalb die Richtigkeit des Ergebnisses angezweifelt werden muss, so dass nicht feststeht, ob das ermittelte Resultat dem Willen der Mehrheit der stimmenden ![]() | 3 |
Der Beschwerdeführer hatte mit einem Rekurs gestützt auf § 52 Abs. 1 WAG beim Departement des Innern und der Volkswirtschaft und hernach mit einer Beschwerde beim Verwaltungsgericht vorgebracht, das Ergebnis der Abstimmung vom 28. Juni 1987 über die neue Kantonsverfassung, die mit 13 178 Ja- gegen 13 109 Nein-Stimmen angenommen worden war, sei durch verschiedene Rechtsverletzungen und Verfahrensmängel verfälscht worden. Das Verwaltungsgericht ging in seinem Entscheid nicht näher auf die erhobenen Vorwürfe ein. Es war der Ansicht, bezüglich bestimmter Mängel habe der Beschwerdeführer sein Recht zur Anfechtung des Abstimmungsergebnisses verwirkt. Andere Mängel wiederum erachtete es als von vornherein unerheblich für den Ausgang der Abstimmung, und im übrigen bezeichnete es die Vorwürfe als zu allgemein gehalten und nicht hinreichend substantiiert.
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Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht, das Verwaltungsgericht habe es in "willkürlicher Art und Weise unterlassen, die vom Beschwerdeführer gerügten Verfahrensmängel und Unregelmässigkeiten zu prüfen und den Sachverhalt entsprechend den Beweisanträgen abzuklären".
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Diese Vorwürfe betreffen die Vorbereitung der Abstimmung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts müssen Mängel bei ![]() | 7 |
b) Der Argumentation des Verwaltungsgerichts kann nicht gefolgt werden. Das Gericht hat nicht abgeklärt, ob der Beschwerdeführer die Mängel schon vor der Abstimmung kannte oder ob er von ihnen - entsprechend seiner Behauptung - erst nach dem Urnengang Kenntnis erhielt. Es war der Meinung, unbekümmert darum, habe er sein Recht, das Ergebnis der Abstimmung wegen Verletzung von § 13 WAG anzufechten, auf jeden Fall deshalb verwirkt, weil die von der Nichtzustellung des Abstimmungsmaterials direkt betroffenen Stimmbürger ihrer Rügepflicht nicht nachgekommen seien. Diese Ansicht geht fehl. Für die Beurteilung der Frage, ob das Anfechtungsrecht verwirkt war, kam es nicht auf das Verhalten der direkt betroffenen Stimmbürger an, sondern einzig darauf, ob der Beschwerdeführer bereits vor der Abstimmung von den Unregelmässigkeiten Kenntnis hatte. Nur wenn dies zuträfe und ihm nach den Umständen ein sofortiges Handeln im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zuzumuten gewesen wäre (vgl. BGE 110 Ia 178 ff.), hätte das Verwaltungsgericht mit Recht ![]() | 8 |
Demnach ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht mit unrichtiger Begründung annahm, der Beschwerdeführer habe sein Recht verwirkt, das Abstimmungsergebnis wegen Mängeln bei der Vorbereitung des Urnenganges anzufechten. Dabei hat es - wie erwähnt - die entscheidende Frage nicht abgeklärt, ob der Beschwerdeführer schon vor der Abstimmung von den Mängeln Kenntnis hatte. Es ist insoweit seiner Untersuchungspflicht nicht nachgekommen. Bereits deswegen muss der angefochtene Entscheid aufgehoben werden.
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c) Wird angenommen, der Beschwerdeführer habe die Mängel vor der Abstimmung nicht gekannt und daher sein Anfechtungsrecht nicht verwirkt, so war er berechtigt zu rügen, das Abstimmungsergebnis sei dadurch verfälscht worden, dass in Verletzung der Vorschrift von § 13 WAG verschiedene Stimmbürger mangels Zustellung der Abstimmungsunterlagen ihr Stimmrecht nicht hätten ausüben können. Dabei machte er insbesondere geltend, einer ganzen Gruppe von Stimmberechtigten, nämlich Jungbürgern, sei das Abstimmungsmaterial nicht zugestellt worden. Träfen diese Mängel tatsächlich zu, so wäre es nicht von vornherein ![]() | 10 |
5. a) Der Beschwerdeführer rügte vor Verwaltungsgericht weitere Unregelmässigkeiten (Fehler bei der Stimmabgabe und bei der Auszählung der Stimmen; uneinheitliche Praxis der Gemeinden bei der Beurteilung der Gültigkeit der Stimmzettel; unzulässige Beeinflussung der Willensbildung der Stimmbürger durch ![]() | 11 |
Die Voraussetzung, unter der das Verwaltungsgericht gemäss ständiger Praxis neue Tatsachen berücksichtigt, war hier klarerweise gegeben, ging es doch im Verfahren vor der kantonalen Instanz darum zu prüfen, ob das Ergebnis der Abstimmung über die neue Kantonsverfassung dem freien Willen der Stimmbürger entspreche, und an der Abklärung dieser Frage bestand ein erhebliches öffentliches Interesse. Was die Eventualbegründung des Verwaltungsgerichts anbelangt, so ist darauf in den nachfolgenden Erwägungen einzugehen.
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b) Wie dargelegt wurde, könnten in Anbetracht des knappen Abstimmungsresultats bereits jene Mängel, welche die Zustellung der Stimmzettel betreffen, einen Einfluss auf das Ergebnis der Abstimmung gehabt haben. Bei dieser Sachlage ging es nicht an, auf gewisse andere vom Beschwerdeführer behauptete Unregelmässigkeiten mit der Begründung nicht einzugehen, sie könnten von vornherein keine Auswirkungen auf das Abstimmungsergebnis haben. Vielmehr verhielt es sich unter den erwähnten Umständen auch hinsichtlich der weiteren Rügen des Beschwerdeführers so, dass das Gericht diese näher untersuchen musste, sofern er mit seinen Vorbringen auf konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Auszählung oder für ein gesetzwidriges Verhalten der für die Durchführung der Abstimmung zuständigen Organe hinzuweisen vermochte. Dies traf jedenfalls in bezug auf folgende Behauptungen zu:
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- In der Ortsgemeinde Bettwiesen habe der Gemeindeweibel für einen Stimmbürger den Stimmzettel ausgefüllt und abgegeben, was gegen die Vorschrift von § 21 WAG verstosse (Ziff. 5 der Beschwerde an das Verwaltungsgericht, im folgenden abgekürzt Beschwerde/VG);
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- in der Munizipalgemeinde Affeltrangen habe ein Stimmbürger zugegebenermassen einen ungültigen Stimmzettel eingelegt, doch weise auch das Abstimmungsprotokoll dieser Gemeinde keine ungültigen Stimmen aus (Ziff. 6.3. Beschwerde/VG);
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- in den Bezirken Diessenhofen und Münchwilen seien gemäss Abstimmungsprotokoll keine ungültigen Stimmen abgegeben worden, doch sei "dies nicht richtig" (Ziff. 6.3. Beschwerde/VG);
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- in der Munizipalgemeinde Birwinken sei ein Stimmzettel als überzählig "im Papierkorb gelandet" (Ziff. 6.4. Beschwerde/VG);
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- in der Ortsgemeinde Dottnach, Munizipalgemeinde Hugelshofen, habe ein Stimmbürger zwei Stimmzettel (den zweiten für seinen ortsabwesenden Sohn) in die Urne gelegt (Ziff. 3 der Beschwerdeergänzung),
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- und ein Gemeinderat von P. habe erklärt, der Gemeindeammann dieser Gemeinde sei froh, "dass keine Nachzählung erfolge, denn in P. sei das gemeldete Abstimmungsergebnis auch nicht korrekt" (Ziff. 2 der Beschwerdeergänzung).
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Das Verwaltungsgericht hätte - hier wiederum nur unter der Annahme, dass das Anfechtungsrecht betreffend die Rüge der Verletzung des § 13 WAG nicht verwirkt war - aufgrund der vom Beschwerdeführer angebotenen Beweise abklären müssen, ob diese Vorbringen, mit welchen auf konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Auszählung der Stimmen und für ein gesetzwidriges Verhalten der für die Durchführung der Abstimmung zuständigen Organe hingewiesen wurde, zuträfen. Indem es das unterliess, ist es auch in diesen Punkten seiner Untersuchungspflicht nicht nachgekommen.
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