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13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. April 1988 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht (I. Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 5 Ziff. 4 EMRK; Anspruch auf Replik im Haftentlassungsverfahren. | |
Sachverhalt | |
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Am 12. Februar 1988 ersuchte S. um Entlassung aus der Haft. Das Obergericht holte von der Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme ein. Mit Beschluss vom 24. März 1988 wies die I. Strafkammer des Obergerichts das Haftentlassungsgesuch ab.
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Gegen diesen Entscheid reichte S. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein und beantragt dessen Aufhebung. Gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit sowie Art. 5 Ziff. 3 und Ziff. 4 EMRK rügt er zum einen die Aufrechterhaltung der Haft und die Dauer des Haftentlassungsverfahrens. Im Eventualstandpunkt macht er zum andern geltend, es verstosse gegen Art. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK, dass er zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft nicht habe Stellung nehmen können.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Eventualpunkt gut, ohne zu den andern Rügen Stellung zu nehmen.
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Aus den Erwägungen: | |
2. (...) Den Eventualantrag, die Sache sei an das Obergericht zur neuen Beurteilung zurückzuweisen, begründet der Beschwerdeführer damit, die kantonale Instanz habe seinen Anspruch auf ein kontradiktorisches Verfahren (Art. 5 Ziff. 4 EMRK) sowie denjenigen auf rechtliches Gehör (Art. 4 BV) verletzt, weil sie ihm keine Gelegenheit gegeben habe, zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Diese formelle Rüge ist vorab zu behandeln, denn sollte sie sich als begründet erweisen, so müsste ![]() | 5 |
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im erwähnten Urteil vom 21. Oktober 1986 festgestellt, die Schweiz habe Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt, weil über ein Haftentlassungsgesuch in einem Verfahren entschieden worden sei, das dem von der EMRK geforderten Mass an kontradiktorischer Ausgestaltung nicht entsprochen habe (Urteil Sanchez-Reisse, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 107, S. 19 Ziff. 51, S. 20 Ziff. 52 u. S. 23). Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der argentinische Staatsangehörige Sanchez-Reisse war im März 1981 in der Schweiz auf ein Ersuchen der Republik Argentinien hin in Auslieferungshaft genommen worden. Er wandte sich im Januar und Mai 1982 mit Haftentlassungsbegehren an das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP). Dieses leitete die Gesuche an das Bundesgericht zum Entscheid weiter. Im einen Fall nahm das BAP zum Gesuch unaufgefordert Stellung, im anderen erstattete es eine Vernehmlassung. Das Bundesgericht wies die Begehren ab, ohne dass es zuvor dem Gesuchsteller Sanchez-Reisse die Stellungnahmen des BAP zur Replik unterbreitet hatte. Der Europäische Gerichtshof erachtete ein solches Vorgehen als mit Art. 5 Ziff. 4 EMRK unvereinbar. Er führte aus, aufgrund dieser Vorschrift habe Sanchez-Reisse einen Anspruch ![]() | 7 |
Wie der Beschwerdeführer zutreffend ausführt, ergibt sich aus diesen Erwägungen des Europäischen Gerichtshofes, dass die EMRK dem Angeschuldigten im Verfahren betreffend Prüfung eines Gesuches um Entlassung aus der Untersuchungs-, Sicherheits- oder Auslieferungshaft ein weitergehendes Replikrecht einräumt, als ihm aufgrund von Art. 4 BV gewährt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu dieser Verfassungsbestimmung besteht ein Anspruch auf Replik nur dann, wenn die Strafverfolgungsbehörde in ihrer Vernehmlassung neue erhebliche Gesichtspunkte geltend macht, zu denen der Angeschuldigte noch keine Stellung nehmen konnte (BGE 111 Ia 3 mit Hinweisen). Demgegenüber muss ihm aufgrund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK nach dem erwähnten Urteil des Europäischen Gerichtshofes Gelegenheit gegeben werden, zu jeder Vernehmlassung zu replizieren, unbekümmert darum, ob die Behörde neue Tatsachen vorbrachte oder nicht (vgl. dazu die abweichenden Meinungen der beiden in der Minderheit gebliebenen Richter, Frau Bindschedler-Robert und Herr Pinheiro Farinha, Urteil Sanchez-Reisse, S. 24-26). Wenn aus dieser Vorschrift ein solcher allgemein geltender Anspruch auf Replik im Haftprüfungsverfahren abgeleitet wird, könnte das zu einer Verzögerung des Verfahrens führen und somit dem in der gleichen Vorschrift garantierten Anspruch auf einen möglichst raschen Entscheid widersprechen (vgl. das Votum der Richterin Frau Bindschedler-Robert, Urteil Sanchez-Reisse, S. 24 f.). Der Europäische Gerichtshof war sich hierüber im klaren. Er hat das in Kauf genommen und im dargelegten Sinn entschieden.
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