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38. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. April 1988 i.S. X. AG gegen Gemeinde St. Moritz und Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 und 22ter BV; Einweisung von Grundstücken in eine Gefahrenzone; Rechtsschutz nach Art. 33 und Art. 2 Abs. 3 RPG. |
2. Art. 15 RPG bestimmt die im Rahmen der Eigentumsgarantie vorzunehmende Interessenabwägung (E. 5a); Bedeutung des planerischen Eignungsbegriffs nach dieser Vorschrift und Anwendung der entsprechenden Kriterien auf den vorliegenden Fall (E. 5b und c; E. 6). | |
Sachverhalt | |
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Am 1. November 1971 hatte die Bündner Regierung Richtlinien zur Ausarbeitung von Gefahrenzonenplänen erlassen, die heute in der Fassung vom 9. Januar 1984 vorliegen (im folgenden: Richtlinien Gefahrenzonenpläne). Darin sind unter anderem zur Begutachtung der Ausscheidung von Gefahrenzonen regionale Gefahrenkommissionen des kantonalen Forstdienstes vorgesehen, die aus einem Obmann, einem ständigen Mitglied und dem zuständigen Kreisforstingenieur bestehen, wobei die Kommission befugt ist, in besonderen Fällen im Benehmen mit und zu Lasten der Gemeinde einen ausgewiesenen Spezialisten zuzuziehen oder Expertisen ausarbeiten zu lassen (Art. 8 Richtlinien Gefahrenzonenpläne).
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Für die Gemeinde St. Moritz ist die Gefahrenkommission III zuständig. Sie kam an der Sitzung vom 16. März 1983, gestützt auf das Gutachten IGB/Bendel, zum Ergebnis, der Rutschhang "Brattas" über den ausgeschiedenen Zonen und bis zur Gemeindegrenze von Celerina (Waldgebiet) befinde sich in der (roten) Zone mit hoher Gefahr, in der keine dem Aufenthalt von Menschen und Tieren dienende Bauten zulässig sind (Art. 5 Richtlinien Gefahrenzonenpläne), weil die jährliche Geländeverschiebung 3 cm und mehr betrage, die Geländeneigung gross und das Gebiet noch nicht überbaut sei.
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"In der Gefahrenzone I dürfen keine Bauten erstellt werden, die dem Aufenthalt von Menschen und Tieren dienen können."
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Mit verfassungsrechtlicher Beschwerde an die Regierung des Kantons Graubünden wandte sich die X. AG gegen die Einweisung ihrer Parzellen in die Gefahrenzone I. Die Regierung wies die Beschwerde nach Durchführung eines Augenscheins mit Entscheid vom 16. Februar 1987 ab.
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Eine gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde der X. AG weist das Bundesgericht ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Das kantonale Recht hat bei Nutzungsplänen wie dem vorliegenden im Interesse des Rechtsschutzes, d.h. zum Schutz der betroffenen Privaten, die volle Überprüfung durch wenigstens eine Beschwerdebehörde zu gewährleisten (Art. 33 Abs. 3 lit. b RPG). Da nach dem dafür massgebenden kantonalen Recht (Art. 25 Abs. 1 RPG) im Kanton Graubünden einzig die Regierung als Beschwerdebehörde eingesetzt ist, muss grundsätzlich sie über die volle Überprüfungsbefugnis verfügen und sie - hier setzt die Beschwerdeführerin ein - dann auch tatsächlich ausüben. Daran ![]() | 10 |
c) Hinsichtlich der Beurteilung der Gefahr an sich beruft sich die Regierung auf die Arbeit der Gefahrenkommission. Auf den ersten Blick ist es verständlich, dass sich die Beschwerdeführerin dagegen wehrt. Diese Kommission ist wohl von der Regierung eingesetzt worden, hat aber ihre Meinung bereits erstinstanzlich, ![]() | 11 |
Eine gewisse Zurückhaltung rechtfertigte sich auch, weil die örtliche Abgrenzung einer Gefahrenzone im einzelnen in erster Linie ein lokales Anliegen darstellt, bei der die Verhältnisse in verschiedenen Teilen der Gemeinde miteinander zu vergleichen und Erfahrungen von bestehenden Gebäuden, früheren Bauabklärungen und -gesuchsverfahren sowie Kenntnisse über Anlage und Zustand der Infrastruktur auszuwerten sind. Dies verlangt Sachnähe und Ortskenntnis.
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Schliesslich trifft es zwar zu, dass die Gefahrenkommission primär forstlich orientiert ist. Die Abgrenzung der Gefahrenzone liess sich aber mit dem Gutachten IGB/Bendel durchaus im geforderten Rahmen überprüfen.
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Zusammenfassend ergibt sich somit, dass der Regierung keine Gehörsverweigerung vorgeworfen werden kann.
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5. a) Die Einweisung in die Gefahrenzone I belegt die Liegenschaften der Beschwerdeführerin mit einer öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkung. Eine solche ist mit der Eigentumsgarantie nur vereinbar, wenn sie unter anderem auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt (Art. 22ter BV; BGE 111 Ia 96 E. 2). Die Beschwerdeführerin stellt die gesetzliche Grundlage nicht zur Diskussion, ![]() | 15 |
Die Regierung hat ihren Entscheid im wesentlichen auf Art. 15 RPG sowie die entsprechenden kantonalen Bestimmungen (Art. 29 Abs. 1 lit. f des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973, KRG) abgestützt. Der Sache nach hat sie dem fraglichen Gebiet die Eignung für die Überbauung, die gemäss Art. 15 RPG Grundvoraussetzung für die Einweisung von Land in eine Bauzone ist, abgesprochen (in diesem Sinne auch die Vernehmlassung der Regierung und diejenige der Gemeinde an das Bundesgericht). Insoweit wird das öffentliche Interesse als Eingriffsvoraussetzung für Eigentumsbeschränkungen durch die raumplanungsgesetzlichen Bestimmungen des Bundes konkretisiert (vgl. BGE 107 Ib 335 E. 2b), und zwar in einer für das Bundesgericht verbindlichen Weise (Art. 113 Abs. 3 BV). Dies bedeutet, dass auch bei der Interessenabwägung Art. 15 RPG als Norm nicht mehr in Frage gestellt werden darf, in dem z.B. geltend gemacht wird, sie entspreche keinem überwiegenden Interesse. Zudem muss auch eine umfassende Interessenabwägung den spezifischen und in diesem Sinne zwingenden Normgehalt von Art. 15 RPG beachten (BGE 113 Ia 448 E. 4a mit Hinweisen). Fehlt es an der Eignung im Sinne der genannten Vorschrift, so steht fest, dass ein genügendes öffentliches Interesse für die Einweisung in die Gefahrenzone I vorhanden ist.
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Ob eine Eigentumsbeschränkung im öffentlichen Interesse liegt und ob dieses das entgegenstehende private Interesse überwiegt, prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei. Es auferlegt sich jedoch Zurückhaltung, soweit die Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht, und soweit sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen (BGE 113 Ia 33 E. 2; 110 Ia 172 E. 7b/aa mit Hinweis). Dies gilt insbesondere bei der Überprüfung von Zonengrenzen (BGE 107 Ia 38 E. 3c mit Hinweisen).
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b) Der planerische Eignungsbegriff gemäss Art. 15 RPG hat der Natur der Sache nach eine zweifache Bedeutung (vgl. dazu eingehend BGE 113 Ia 448 ff. E. 4b): Einmal ist damit ein Minimalerfordernis gemeint, das erfüllt sein muss, damit überhaupt eine Bauzonierung in Frage kommt. So ist Land, das sich technisch überhaupt nicht überbauen lässt, nie als "geeignet" im Sinne von Art. 15 RPG anzusehen. Jenseits dieser Schwelle lässt sich indessen die ![]() | 18 |
Diese Relativierung ist möglich, weil es sich bei den Bauzonenkriterien um generelle, planungsbezogene Anforderungen und nicht um Voraussetzungen für individuelle Bauvorhaben handelt. Sie beziehen sich auf ganze als Zonen auszuscheidende Gebiete, nicht auf einzelne Parzellen. Ihre Perspektive ist mehr allgemein, übergeordnet, mit der Folge, dass den besonderen Interessen jedes einzelnen der betroffenen Grundeigentümer nur in beschränktem Umfang Rechnung getragen werden kann (BGE 89 I 198 /199 E. 3).
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c) Grundvoraussetzung für die Einweisung von Land in eine Bauzone ist seine Eignung (Art. 15 RPG; Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Raumplanung vom 27. Februar 1978, BBl 1978 I 1023; BGE 113 Ia 450 E. 4c). Land ist geeignet, wenn die Eigenschaften des betreffenden Gebiets den Anforderungen genügen, die aus der Sicht der dafür vorgesehenen Nutzung zu stellen sind. Es geht somit einerseits um die Beschaffenheit des Bodens sowie die tatsächliche Situation (Topographie, Exposition, Klima usw.), also die natürlichen Gegebenheiten (Art. 1 Abs. 1 Satz 3 RPG). Andererseits sind für die in Frage stehende Nutzung die Ziele und Grundsätze des massgebenden Rechts zu beachten. Dazu gehören insbesondere diejenigen des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes (vorab Art. 1 Abs. 2 lit. b, Art. 3 Abs. 3 lit. a und b RPG). Nicht zuletzt ist auch bei Zonen für privates Bauen den Bedürfnissen der öffentlichen Infrastruktur Rechnung zu tragen.
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Am Brattashang kann höchstens eine Wohnnutzung in Frage kommen. Zum Wohnen gehört vorrangig die Sicherheit der Bewohner, der Bauten und der Infrastrukturanlagen gegenüber Erschütterung, Beschädigung, Einsturz usw. Nach dem kantonalen Raumplanungsgesetz sind unter anderem Gebiete in Gefahrenzonen ![]() | 21 |
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(Im folgenden werden die Ausführungen der Experten im Gutachten IGB/Bendel und an der Instruktionsverhandlung vor Bundesgericht bezüglich der Rutschgefahr wiedergegeben.)
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Aufgrund dieser überzeugenden Darlegungen der Experten ist davon auszugehen, dass das Risiko im Gebiet der beschwerdeführerischen Liegenschaften sehr gross ist. Ob es - absolut - so gross ist, dass allein deswegen das Bauen verboten werden muss, ist nicht Experten-, sondern Rechtsfrage. Eine Gefahr für Leib und Leben ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Nicht ganz geklärt ist, ob die Gefahr so intensiv ist, dass in jedem Fall eine vernichtende Wirkung für Sachwerte zu befürchten ist. Dies hat übrigens die Regierung weder im angefochtenen Entscheid noch im bundesgerichtlichen Verfahren dargetan. Die im Gutachten enthaltene Analyse der Gebäudeschäden spricht aber jedenfalls für eine klar erhöhte Gefahr. Ob das Gebiet "Brattas-Fullun" unter diesen Umständen die Minimalanforderungen an die Eignung von Land für die Überbauung von vornherein, absolut, nicht erfüllt, kann letztlich offengelassen werden. Jedenfalls darf die Gefahr als so gross beurteilt werden, dass dagegen die rein wirtschaftlich-gewerblichen Ausnützungsinteressen der Beschwerdeführerin nicht aufkommen können.
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b) Die Beschwerdeführerin wirft der Gemeinde vor, sie sei nicht konsequent vorgegangen, weil der bereits überbaute Teil des Brattashanges lediglich mit einer Gefahrenzone II überlagert worden ![]() | 25 |
Im mittleren Teil des Brattashanges gilt das Recht der Gefahrenzone II in der Tat bis etwa zur Linie der jährlichen Verschiebungen von 5 cm hinauf, und das Gebiet liegt zum Teil in der Zone grosser Geländeneigung. Dort darf mit den nötigen Sicherheitsvorkehren auf eigene Verantwortung aufgrund eines neutralen Gutachtens gebaut werden (Art. 27 Abs. 3 und 4 BauG). Die Gemeinde stützt sich dabei wieder auf die Stellungnahme der Gefahrenkommission III. Diese vertrat, wie bereits erwähnt, die Auffassung, es müsse berücksichtigt werden, ob ein Gebiet bereits überbaut sei. Diese Differenzierung ist nach dem Gesagten (E. 5b) wesentlich und lässt die ungleiche planerische Behandlung als gerechtfertigt erscheinen (BGE 107 Ib 339 E. 4a mit Hinweis). Abgesehen davon ist das Risiko im mittleren Teil des Brattashanges geringer als im Gebiet "Fullun", wo die Rutschgefahr nach den überzeugenden Erläuterungen der Fachleute - abgesehen von der ebenfalls in die Gefahrenzone I eingewiesenen Nordostecke des Brattashanges - eben am grössten ist.
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c) Zu prüfen bleibt schliesslich, ob das aus der Einweisung in die Gefahrenzone folgende Bauverbot deshalb unverhältnismässig (vgl. zum Verhältnismässigkeitsprinzip BGE 113 Ia 134 E. 7b mit Hinweisen) ist, weil sich die Probleme auch mit Hangsicherungsmassnahmen lösen liessen, wie die Beschwerdeführerin geltend macht. Es liegt auf der Hand, dass mit Beschränkungen der Überbauungsfreiheit nicht zugewartet zu werden braucht, bis sich Hangsicherungen (nachträglich) als ungeeignet erwiesen haben, bspw. indem sie gerissen sind, oder bis Schäden an der Infrastruktur tatsächlich entstanden sind. Die Aussichten, der Rutschgefahr bei den Parzellen der Beschwerdeführerin mit Sicherungsmassnahmen begegnen zu können, beurteilen die Gutachter als schlecht. Nach ihren einleuchtenden Ausführungen an der bundesgerichtlichen Verhandlung liegt der Fels für eine Verankerung der Gebäude zu tief und ist auch ein "Mitschwimmenlassen" derselben nicht oder jedenfalls kaum möglich. Dass sich die zugrundeliegende Begutachtung auf den ganzen Brattashang und nicht speziell auf die Parzellen Nrn. 151 und 152 bezog, ist nicht von Bedeutung, da die Fachleute dargelegt haben, dass eine zusätzliche, spezielle Expertise aller Voraussicht nach keine weiteren Schlüsse zuliesse.
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