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4. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. Januar 1989 i.S. Roland Mathys gegen Rothornbahn und Scallotas AG, Gemeinde Vaz/Obervaz und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Willkür. |
Art. 4 BV, Recht auf Vertrauensschutz - Rechtsmittelfrist. |
Stellt eine Behörde ihren Entscheid, der eine vorbehaltlose Rechtsmittelbelehrung enthält, noch innerhalb der ordentlichen Rechtsmittelfrist, welche durch einen ersten erfolglosen Zustellungsversuch ausgelöst worden ist, zu, so kann sich aufgrund des verfassungsmässigen Rechts auf Vertrauensschutz die Rechtsmittelfrist verlängern, sofern alle notwendigen Bedingungen dazu erfüllt sind (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Roland Mathys rekurrierte am 24. September 1987 gegen den Einspracheentscheid der Gemeinde Vaz/Obervaz beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses trat mit Urteil vom 23. Februar 1988 auf das Rechtsmittel nicht ein, im wesentlichen mit der Begründung, der Praxis entsprechend sei davon auszugehen, dass die (fingierte) Zustellung am 22. August 1987 erfolgt sei. Die zwanzigtägige Rekursfrist habe somit am 11. September 1987 geendet, weshalb der Rekurs verspätet sei; an diesem Ergebnis ändere auch die Anrufung des Vertrauensprinzips nichts, denn es fehle bereits an der ersten Voraussetzung für ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung, nämlich an einer konkreten, vorbehaltlosen Auskunft einer Behörde.
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Roland Mathys erhob am 15. März 1988 "Beschwerde" gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 23. Februar 1988.
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Das Bundesgericht behandelt die Eingabe als staatsrechtliche Beschwerde und heisst sie gut aus folgenden
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a) Nach Art. 90 Abs. 1 OG muss eine staatsrechtliche Beschwerde ausser der Bezeichnung des angefochtenen Entscheides die Anträge enthalten (lit. a) sowie die wesentlichen Tatsachen und eine kurzgefasste Darlegung darüber, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind (lit. b).
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b) Roland Mathys richtet seine Beschwerde ausdrücklich gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 23. Februar 1988, mit welchem das Gericht im ordentlichen Verfahren entschied, es werde auf seinen Rekurs vom 24. September 1987 nicht eingetreten, weil (1) die mit dem ersten erfolglosen Zustellungsversuch begonnene Rekursfrist nicht eingehalten worden sei, dass (2) die später tatsächlich erfolgte Zustellung keinen neuen Fristenlauf ausgelöst habe, und dass (3) die Behauptung des Rekurrenten, er habe eine falsche behördliche Auskunft erhalten, sich nicht habe bestätigen lassen. Zwar stellt der Beschwerdeführer keinen ausdrücklichen Antrag auf Aufhebung dieses kantonalen Urteils; in seiner Bitte, ihm zu helfen, damit im Kanton Graubünden auf seinen Rekurs eingetreten werden müsse, kann jedoch sinngemäss ein solches Begehren gesehen werden (vgl. BGE 52 I 224 E. 1). Seine Begründung ist zwar knapp, doch lässt sich aus ihr dennoch entnehmen, warum der angefochtene Entscheid gegen die Verfassung verstossen soll. Daran ändert nichts, dass er keine verfassungsmässigen Rechte ausdrücklich nennt; auch eine indirekte Berufung auf solche kann unter Umständen den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügen.
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3. Das Verwaltungsgericht führt im angefochtenen Entscheid aus, der Beschwerdeführer sei an einem hängigen Verfahren ![]() | 9 |
a) Das Verwaltungsgericht bezieht sich in Ermangelung einer ausdrücklichen kantonalen Regelung (vgl. Art. 9 in Verbindung mit Art. 2 des Gesetzes über das Verfahren in Verwaltungs- und Verfassungssachen vom 3. Oktober 1982, VVG; Art. 55 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton Graubünden vom 9. April 1967, VGG) auf die Praxis des Bundesgerichts, wonach eine eingeschriebene Briefpostsendung dann, wenn der Adressat nicht angetroffen wird und daher eine Abholungseinladung in seinen Briefkasten oder in sein Postfach gelegt wird, die Sendung in jenem Zeitpunkt als zugestellt zu gelten hat, in welchem sie auf der Post abgeholt wird; geschieht dies nicht innert der Abholfrist, die sieben Tage beträgt (Art. 169 Abs. 1 lit. d und e der Verordnung (1) zum Postverkehrsgesetz vom 1. September 1967 [PVV, SR 783.01]), so gilt die Sendung als am letzten Tag dieser Frist zugestellt (BGE 111 V 101 E. 2b mit Hinweisen). Zu Recht nimmt das Gericht weiter an, dass diese Rechtsprechung nur dann massgebend ist, wenn die Zustellung eines behördlichen Aktes mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden muss. Erst mit der Rechtshängigkeit entsteht ein Prozessrechtsverhältnis, welches die Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, d. h. unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen Entscheide, welche das Verfahren betreffen, zugestellt werden können (BGE 113 Ib 298 E. 2a; BGE 107 V 189 E. 2; BGE 97 III 10 E. 1; je mit Hinweisen). Diese Grundsätze werden nicht vom Bundesverfassungsrecht gewährleistet und bilden deshalb nicht Teil eines selbständigen, verfassungsmässigen Rechts. Das Bundesgericht hat somit nur zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht sie als kantonales Recht in willkürlicher Weise angewandt hat (vgl. BGE 109 Ia 18 E. 4).
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Der Beschwerdeführer hat am 30. April 1987 "Einsprache zum Bauvorhaben der Rothornbahn & Scallotas AG in Val Sporz und auf Tgantieni" erhoben. Er sandte diese Eingabe sowohl an den ![]() | 11 |
Das Verwaltungsgericht hat das Willkürverbot nicht verletzt, wenn es entschied, der Beschwerdeführer sei an einem vor dem Gemeindevorstand Vaz/Obervaz hängigen Verfahren beteiligt gewesen und er hätte deshalb für die Zeit seiner Abwesenheit dafür sorgen müssen, dass ihm die Sendungen der Behörde nachgereicht würden, oder er hätte zumindest einen Zustellungsbevollmächtigten bzw. ein Zustellungsdomizil bezeichnen müssen. Der Beschwerdeführer macht selbst nicht geltend, der von ihm der Post erteilte Nichtzustellungsauftrag habe unter den vorliegenden Umständen genügt, diese Pflicht zu erfüllen (vgl. auch BGE 113 Ib 89 E. 2 mit Hinweisen).
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Da das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden diejenigen Grundsätze über die Zustellung von Entscheiden durch eingeschriebenen Brief angewendet hat, welche das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung sowohl für kantonale und bundesrechtliche Verfahren entwickelt hat, falls das entsprechende Recht selbst keine Lösung vorsieht, lässt sich nicht sagen, diese Prinzipien seien sachlich nicht gerechtfertigt oder unnötig streng. Es handelt sich vielmehr um das Ergebnis einer Abwägung der gegenseitigen Interessen. Die Rechtssicherheit verlangt, dass die Vorschriften über den Beginn, die Dauer und die Einhaltung der Beschwerdefristen möglichst klar und einfach zu handhaben sind. Zudem haben sowohl die Behörden wie auch die Gegenparteien ein Interesse daran, so schnell wie möglich zu wissen, ob der Entscheid weitergezogen oder ob er rechtskräftig wird. Die Bestimmung der Fristen darf deshalb nicht oder nicht allein vom Willen oder Verhalten des Beschwerdeführers abhängen, sondern muss möglichst aufgrund objektiver Kriterien erfolgen (vgl. dazu BGE 113 Ib 90 E. 2b; 85 IV 116). In diesem Sinne hat das Bundesgericht denn auch in konstanter Rechtsprechung entschieden, eine Sendung sei nicht erst dann zugestellt, wenn der Adressat sie tatsächlich in Empfang nehme; es genüge vielmehr, wenn sie sich in seinem Machtbereich befinde und wenn er demzufolge von ihr Kenntnis nehmen könne (BGE 113 Ib 297 E. 2a; BGE 109 Ia 18 E. 4; Urteil des Bundesgerichts vom 8. Dezember 1969, veröffentlicht in Semaine Judiciaire, 1972, S. 56 ff., S. 61; vgl. auch RAYMOND JEANPRETRE, L'expédition et la réception des actes de procédure et des actes juridiques, SJZ 1973, S. 349 f.). Den Interessen des Beschwerdeführers wird dadurch Rechnung getragen, dass nur dann die Annahme einer fiktiven Zustellung zulässig ist, wenn er aufgrund der Umstände ![]() | 14 |
c) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht weder das Willkürverbot verletzt noch überspitzt formalistisch entschieden hat, wenn es annahm, die (fingierte) Zustellung sei am 22. August 1987 erfolgt und die zwanzigtägige Rekursfrist sei demzufolge grundsätzlich am 11. September 1987 abgelaufen.
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a) Das in Art. 4 BV gewährleistete verfassungsmässige Recht auf Vertrauensschutz bewirkt unter anderem, dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten.
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Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine unrichtige Auskunft bindend,
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1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat;
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2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn der Bürger die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte;
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3. wenn der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte;
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4. wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können;
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In Konkretisierung dieses Grundsatzes ist allgemein anerkannt, dass einer Partei aus einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung kein Nachteil erwachsen darf (BGE 112 Ia 310 E. 3; BGE 106 Ia 16 E. 3a mit Hinweisen; vgl. auch Art. 107 Abs. 3 OG; Art. 38 VwVG). Auch das hier massgebende kantonale Recht kennt eine entsprechende Bestimmung (Art. 50 Abs. 1 VGG). Es ist deshalb grundsätzlich möglich, dass sich in Anwendung des verfassungsmässigen Anspruchs auf Vertrauensschutz eine gesetzliche Frist aufgrund einer unrichtigen Auskunft verlängert (BGE 114 Ia 106 E. 2).
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b) Im vorliegenden Fall konnte die Behörde ihren Entscheid noch vor Ablauf der Frist, welche durch den ersten erfolglosen Zustellungsversuch ausgelöst worden war, dem Beschwerdeführer eröffnen, und dieser nahm noch am gleichen Tag von seinem Inhalt und der darin enthaltenen Rechtsmittelbelehrung Kenntnis. Es ist zu prüfen, ob auch bei diesem Sachverhalt das in Art. 4 BV gewährleistete verfassungsmässige Recht auf Vertrauensschutz gebietet, dem Beschwerdeführer in Abweichung von der allgemeinen Regel (vgl. E. 3) die gesetzliche Beschwerdefrist zu verlängern. Dies ist zu bejahen: Der Gemeindevorstand hat mit der erneuten Zustellung seines Entscheides, der eine vorbehaltlose Rechtsmittelbelehrung enthielt, in einer konkreten Situation gegenüber einer bestimmten Person eine Auskunft erteilt, zu der er zweifellos zuständig war. Der Beschwerdeführer konnte als juristischer Laie die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung nicht ohne weiteres erkennen. Es wird von keiner Seite geltend gemacht, der Beschwerdeführer sei noch innerhalb der ordentlichen Beschwerdefrist darauf aufmerksam gemacht worden, allein der erste Zustellungsversuch sei rechtswirksam und die zwanzigtägige Frist habe deshalb nach Ablauf der siebentägigen Abholfrist am 23. August 1987 zu laufen begonnen. Im Gegenteil, gemäss seinen Ausführungen in der Beschwerde versuchte Roland Mathys am 7. und 8. September abzuklären, wie lange er noch Zeit zum Rekurrieren habe. Keine der angefragten Personen (Kanzlistinnen bei der Gemeindeverwaltung von Vaz/Obervaz und beim kantonalen Verwaltungsgericht, ein Anwalt und der Gemeindepräsident von Vaz/Obervaz) vertrat die Auffassung, die Beschwerdefrist ende am 11. September 1987. Auch konnte der Beschwerdeführer aufgrund der gelben Abholscheine, mit welchen die Post ihm anzeigte, es sei ![]() | 25 |
c) Zusammenfassend ist festzustellen, dass durch die erneute Zustellung des Entscheides vom 12. August 1987, welcher eine vorbehaltlose Rechtsmittelbelehrung enthielt, die Rechtsmittelfrist bis zum 28. September 1987 verlängert worden ist. In diesem Sinne ist die zu absolut formulierte Aussage in BGE 111 V 101 E. 2b zu relativieren: Grundsätzlich beginnt die Rechtsmittelfrist mit Ablauf der siebentägigen Abholfrist; sie kann sich aber gestützt auf den verfassungsmässigen Anspruch auf Vertrauensschutz dann verlängern, wenn noch vor ihrem Ende eine entsprechende vertrauensbegründende Auskunft erteilt wird. Ob dasselbe auch gelten muss, wenn die Auskunft erst nach Ablauf der regulären Rechtsmittelfrist erfolgt, braucht hier nicht entschieden zu werden.
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d) Gegen dieses Ergebnis lässt sich nicht einwenden, der Beschwerdeführer könne sich deshalb nicht mehr auf ein schützenswertes Vertrauen berufen, weil er es unterlassen habe, dem Gemeindevorstand von Vaz/Obervaz seine Abwesenheit mitzuteilen. Damit würde dem Beschwerdeführer ein Unterlassen zum Vorwurf gemacht, das nicht unmittelbare Ursache dafür gewesen war, dass die vertrauensbegründende Aussage erfolgte. Der Gemeindevorstand ![]() | 27 |
5. Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist die private Beschwerdegegnerin, die Rothornbahn und Scallotas AG, die einen Antrag auf Nichteintreten bzw. auf Abweisung gestellt hat, als unterliegende Partei im Sinne von Art. 156 Abs. 1 OG zu betrachten. Sie hat deshalb die Kosten des Bundesgerichts zu tragen. Der Beschwerdeführer ist vor Bundesgericht durch keinen Anwalt vertreten. Sowohl seine Auslagen wie auch sein persönlicher Arbeitsaufwand dürfte nicht derart erheblich gewesen sein, dass sich deshalb eine Umtriebsentschädigung rechtfertigen würde. Er hat deshalb keinen Anspruch auf Parteientschädigung gemäss Art. 159 Abs. 1 OG (BGE 110 V 82 E. 7).
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