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9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Januar 1989 i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 5 Ziff. 4 EMRK; gerichtliche Haftprüfung bei Untersuchungshaft. |
2. Art. 5 Ziff. 4 EMRK ist verletzt, wenn während acht Tagen ein Zugang zu einem Gericht nicht möglich ist; das Haftfristerstreckungsverfahren vor dem Bezirksgerichtspräsidenten stellte überdies für sich allein kein Art. 5 Ziff. 4 EMRK genügendes Haftprüfungsverfahren dar, weil im vorliegenden Fall dem von der EMRK geforderten Mass an kontradiktorischer Ausgestaltung desselben nicht Genüge getan wurde (E. 2c). |
3. Die staatsrechtliche Beschwerde fällt im vorliegenden Fall als Mittel der gerichtlichen Haftprüfung ausser Betracht (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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Mit Entscheid vom 20. April 1988 wies die Bezirksanwaltschaft Zürich das Haftentlassungsgesuch mit der Begründung ab, X. werde nach wie vor dringend verdächtigt, mit mehreren Kilogramm Haschisch gehandelt zu haben, und es bestehe massive Kollusionsgefahr. Der Beschuldigte erhob gegen diesen Entscheid am 22. April 1988 Rekurs an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, in dem er das Vorliegen eines Haftgrundes bestritt und die Begründung der Verhaftsverfügung beanstandete. Er machte zugleich erneut geltend, er habe Anspruch auf ein gerichtliches Haftprüfungsverfahren. Noch vor deren Entscheid, nämlich am 26. April 1988, erstreckte der Präsident des Bezirksgerichts Zürich in Anwendung von § 51 Abs. 1 des Gesetzes betreffend den Strafprozess des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO) die Haftfrist auf Antrag der Bezirksanwaltschaft um weitere 14 Tage bis und mit 10. Mai 1988. X. wurde am 9. Mai 1988 aus der Haft entlassen.
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Die Staatsanwaltschaft wies den Rekurs am 2. Juni 1988 ab, soweit sie darauf eintrat. Sie erwog unter anderem, die zürcherische Strafprozessordnung kenne ein gerichtliches Haftprüfungsverfahren gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK in der allerersten Phase der Untersuchung nicht. Ein solches Verfahren sei indessen allein schon aus zeitlichen Gründen praktisch ausgeschlossen, da die Haftkompetenz des Bezirksanwalts nur für die Dauer von ![]() | 3 |
Eine gegen diesen Entscheid von X. erhobene staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht im Sinne der Erwägungen gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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Unter den Parteien ist nicht streitig, dass das Zürcher Strafverfahren kein richterliches Haftbeschwerdeverfahren kennt, da gegen die Anordnung der Untersuchungshaft durch die Bezirksanwaltschaft lediglich der Rekurs an die Staatsanwaltschaft zur Verfügung steht (§ 402 Ziff. 1 StPO). Auch das Institut des Haftrichters ist im Zürcher Strafprozessrecht grundsätzlich nicht verankert: Nach den unbestrittenen Ausführungen des Beschwerdeführers im kantonalen Verfahren sind Haftentlassungsgesuche beim zuständigen Untersuchungsbeamten zu stellen. So ist denn auch im vorliegenden Fall das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers vom zuständigen Bezirksanwalt behandelt und abgewiesen worden. Hingegen besteht nach einer Haftdauer von 14 Tagen eine automatische richterliche Haftkontrolle in dem Sinne, dass gemäss § 51 Abs. 1 StPO die Fortdauer der Haft vom Bezirksgerichtspräsidenten bzw. vom Präsidenten der Anklagekammer bewilligt werden muss. Gegen den entsprechenden Entscheid ist nach Abs. 2 dieser Vorschrift, wie bereits erwähnt, der Rekurs an die Anklagekammer des Obergerichts zulässig.
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Der Beschwerdeführer beanstandet in erster Linie, die Behandlung seines Haftentlassungsgesuchs habe Art. 5 Ziff. 4 EMRK ![]() | 7 |
Im folgenden wird zuerst zu prüfen sein, ob - wie dies die Bezirksanwaltschaft in ihrer dem Bundesgericht erstatteten Vernehmlassung geltend macht - das mit dem Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers auf bezirks- und staatsanwaltschaftlicher Ebene veranlasste Haftprüfungsverfahren den Anforderungen von Art. 5 Ziff. 4 EMRK zu genügen vermochte (E. 2b). Hernach wird zu beurteilen sein, ob das Haftfristerstreckungsverfahren vor dem Bezirksgerichtspräsidenten mit anschliessender Rekursmöglichkeit an die Anklagekammer des Obergerichts die von der Konvention gewährleisteten Garantien erfüllte (E. 2c).
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b) Sowohl das Bundesgericht (BGE 102 Ia 179 ff.) wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (Urteil i.S. Schiesser vom 4. Dezember 1979, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 34 = EuGRZ 1980 S. 202 ff.) haben erklärt, der zürcherische Bezirksanwalt sei im Verfahrensstadium der Untersuchung ein "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Indessen hat der Gerichtshof im Urteil i.S. de Jong, Baljet und van den Brink vom 22. Mai 1984 (Serie A, Vol. 77, Ziff. 57 = EuGRZ 1985 S. 706/707) unter Hinweis auf frühere Urteile klargestellt, dass die beiden Garantien von Art. 5 Ziff. 3 und Ziff. 4 EMRK nebeneinander Anwendung finden, weil diejenige von Ziff. 4 von anderer Qualität als diejenige von Ziff. 3 ist. Aus dem Umstand allein, dass die Eigenschaft des Bezirksanwalts als "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" anerkannt ist, lässt sich demnach noch nichts herleiten.
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In Art. 5 Ziff. 3 EMRK wird der "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigte Beamte" ausdrücklich als ![]() | 10 |
Da die Bezirks- und Staatsanwaltschaft nach dem Gesagten die Anforderungen von Art. 5 Ziff. 4 EMRK an das zuständige Organ nicht zu erfüllen vermögen, kann schon deshalb nicht davon ausgegangen werden, im vorliegenden Fall habe die Behandlung des Haftentlassungsgesuchs des Beschwerdeführers durch die Bezirksanwaltschaft und im anschliessenden Rekursverfahren vor der Staatsanwaltschaft ein konventionsmässiges Haftprüfungsverfahren dargestellt.
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c) Der Beschwerdeführer räumt, wie bereits erwähnt, ein, dass er mittels Einlegen eines Rekurses gegen die Haftverlängerungsverfügung des Bezirksgerichtspräsidenten an die Anklagekammer des Obergerichts ein Haftprüfungsverfahren im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK hätte beantragen können. Er vertritt aber die ![]() | 12 |
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgehalten, dass die Frage, innerhalb welcher Frist nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK über ein Haftentlassungsgesuch entschieden werden muss, nicht abstrakt beurteilt werden kann; der Entscheid hängt vielmehr von der Würdigung der konkreten Umstände des einzelnen Falles ab (Urteil i.S. Sanchez-Reisse vom 21. Oktober 1986, Serie A, Vol. 107, Ziff. 55 = EuGRZ 1988 S. 526). In Anbetracht des Umstandes, dass es im dort zu beurteilenden Fall nach Ansicht des Gerichtshofes nicht um komplexe Probleme ging, welche vertiefte Abklärungen und eine eingehende Prüfung erfordert hätten, erachtete er einen Entscheid über ein Haftentlassungsbegehren nach 31 bzw. 46 Tagen als mit dem Anspruch des Inhaftierten auf einen vom Gericht innert kurzer Frist zu treffenden Entscheid unvereinbar (Ziff. 57-61). Gestützt auf diese Rechtsprechung hat in der Folge das Bundesgericht in einem Urteil vom 8. Juni 1988 eine Dauer von 41 Tagen von der Einreichung des Haftentlassungsgesuchs bis zum Entscheid als nicht vertretbar bezeichnet. Auch bei diesem Entscheid war von Bedeutung, dass die Frage der Haftentlassung keine besonderen Probleme aufgeworfen hatte, die ausgedehnte Abklärungen oder ein umfassendes Aktenstudium erfordert hätten (BGE 114 Ia 92 E. 5c).
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Der Beschwerdeführer ist der Meinung, der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft wäre in seinem Fall "kaum überbietbare Dringlichkeit" zugekommen, weil nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK seine Unschuld zu vermuten sei, er nicht vorbestraft sei und in seinem Umfeld als absolut unbescholtener Bürger gelte. Diesen Argumenten kommt kaum ein erhebliches Gewicht zu. Die Frage, innerhalb welcher Frist eine Entscheidung hinsichtlich der Prüfung der Untersuchungshaft ergehen muss, hängt nach der aufgeführten Rechtsprechung in erster Linie vom objektiven Zeitbedarf für die Beurteilung der jeweiligen Streitpunkte ab. Der dem Verhafteten mit Art. 5 Ziff. 4 EMRK eingeräumte Anspruch auf einen "raschmöglichsten" Entscheid wird - ergeht dieser Entscheid nicht sofort - dann nicht verletzt, wenn der Behörde aufgrund der Umstände des Falles ein früherer Entscheid vernünftigerweise nicht möglich war.
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat denn auch im bereits erwähnten und ähnlich gelagerten Urteil i.S. de Jong, Baljet und van den Brink entschieden, selbst bei Berücksichtigung der Besonderheiten des militärischen Lebens und der Militärgerichtsbarkeit werde Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt, wenn einer verhafteten Person während sieben bzw. elf bzw. sechs Tagen kein Rechtsbehelf und damit kein Zugang zu einem Gericht offenstehe (a.a.O., Ziff. 58).
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Die vorstehenden Erwägungen zeigen, dass im vorliegenden Fall das Haftfristerstreckungsverfahren mit anschliessender Rekursmöglichkeit dem Beschwerdeführer schon aus zeitlichen Gründen kein Art. 5 Ziff. 4 EMRK genügendes Haftprüfungsverfahren zu gewährleisten vermochte. Die in der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft an das Bundesgericht vertretene Auffassung, die Haftfristerstreckung durch den Bezirksgerichtspräsidenten habe für sich allein ein Art. 5 Ziff. 4 EMRK genügendes Haftprüfungsverfahren dargestellt, kann aber auch deshalb nicht geteilt werden, weil die Haftverlängerungsverfügung vom 26. April 1988 - entsprechend den Bestimmungen von § 51 Abs. 1 StPO - lediglich aufgrund eines Antrags des Untersuchungsbeamten und der Akten und insbesondere nicht direkt auf das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers vom 19. April 1988 hin erging. Auch wenn der Bezirksgerichtspräsident bei der Prüfung der Aktenlage vom Entlassungsgesuch Kenntnis erlangen konnte und es bei seinem Entscheid mitzuberücksichtigen hatte, wurde damit dem von der EMRK geforderten Mass an kontradiktorischer Ausgestaltung ![]() | 17 |
Nicht ersichtlich ist schliesslich auch, weshalb der jeweilige Untersuchungsstand einem Haftprüfungsverfahren entgegenstehen soll, wie dies die Staatsanwaltschaft im angefochtenen Entscheid - allerdings eher nebenbei und ohne weitere Begründung - geltend macht.
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Beim gegebenen Verfahrensausgang braucht die weitere Rüge des Beschwerdeführers, die Verletzung von Art. 5 Ziff. 4 EMRK habe zugleich eine solche der persönlichen Freiheit zur Folge gehabt, nicht geprüft zu werden. Da sich der Beschwerdeführer nicht mehr in Haft befindet, ist von einer Aufhebung des angefochtenen Entscheids abzusehen.
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