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25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17. Juli 1990 i.S. R. gegen a.o. Generalprokuratorin und Anklagekammer des Obergerichtes des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Persönliche Freiheit. Art. 5 Ziff. 1 und 3 EMRK. Untersuchungshaft; übermässige Dauer. |
2. Dauer der Untersuchungshaft. Der Haftrichter darf die Untersuchungshaft nur solange erstrecken bzw. ein Haftentlassungsgesuch abweisen, als die Haftdauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt (E. 5a). Anwendung dieses Grundsatzes auf den konkreten Fall; Begriff der Mittäterschaft (E. 5b, c). | |
Sachverhalt | |
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Bei der polizeilichen Anhaltung der Eheleute K. war auch deren Sohn, R., anwesend. Dieser war bis dahin offenbar nicht in die Untersuchung einbezogen, und gegen ihn lag auch kein Haftbefehl vor. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Untersuchungsrichter wurde auch R. in Untersuchungshaft versetzt. In der ersten untersuchungsrichterlichen Einvernahme wurde er der Mittäterschaft an den betrügerischen Geschäften beschuldigt, insofern als er Direktor der in diese Geschäfte verwickelten Finanzgesellschaft X. gewesen sei.
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Mit Entscheid vom 29. November 1989 wies die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern ein erstes Haftentlassungsgesuch von R. ab. Eine dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde wies das Bundesgericht am 10. Januar 1990 ab, soweit es darauf eintreten konnte. Nachdem die Anklagekammer mit Beschluss vom 2. März 1990 ein zweites Entlassungsgesuch von R. abgewiesen hatte, gelangte dieser in der Folge erneut an die Untersuchungsbehörden mit dem Antrag, er sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Die Anklagekammer wies auch dieses dritte Gesuch kantonal letztinstanzlich ab. Gegen diesen Entscheid erhebt R. erneut staatsrechtliche Beschwerde. Er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit sowie von Art. 5 Ziff. 1 lit. c und Ziff. 3 EMRK und beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheides die sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
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Erwägungen: | |
3. Art. 111 Abs. 1 StrV/BE bestimmt unter dem Marginale "Verhaftungsgründe" zunächst als Grundsatz, dass der Angeschuldigte während der Voruntersuchung in der Regel in Freiheit bleibe. Nach Abs. 2 ist der Untersuchungsrichter jedoch befugt, "ihn zu verhaften, wenn bestimmte und dringende Verdachtsgründe für dessen Täterschaft oder Teilnahme sprechen" und ausserdem einer der in Abs. 2 lit. a-c genannten Haftgründe (Flucht-, ![]() | 4 |
a) Das Bundesgericht hat in seinem das erste Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers betreffenden Urteil vom 10. Januar 1990 erwogen, aufgrund der damals vorliegenden Anhaltspunkte habe ein dringender Verdacht der Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug nicht nur bei der Verhaftung am 11. August 1989, sondern auch noch ca. 3 1/2 Monate später zum Zeitpunkt des damaligen Entscheides der Anklagekammer bejaht werden können. Zu diesen Anhaltspunkten zählte es insbesondere die belastende Aussage eines gewissen P., der offenbar als vorläufiger Abnehmer der Disketten fungierte. Nach dieser Aussage soll der Beschwerdeführer seine Mutter mehrmals nach Samnaun begleitet und ihr beim Umpacken von Disketten geholfen haben. Ausserdem fiel entscheidend ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer Direktor der in das Diskettengeschäft involvierten Firmen X. und Y. war. Gestützt auf diese und weitere in Erwägung 3a des genannten Urteils näher dargelegte Umstände kam das Bundesgericht damals zum Schluss, dass die Annahme, der Beschwerdeführer habe von den Diskettengeschäften und deren Hintergrund gewusst, keineswegs willkürlich sei und sich der Verdacht der Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug auf hinreichend konkrete Anhaltspunkte abstützen könne.
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b) In ihrem mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Entscheid führt die Anklagekammer - in wörtlicher Übernahme der Vernehmlassung der a.o. Generalprokuratorin - zum Tatverdacht aus, das belastende Gesamtbild habe sich weiter verdichtet. Zur Begründung verweist die a.o. Generalprokuratorin ihrerseits auf die Erwägungen der beiden Untersuchungsrichter in ihrem Beschluss vom 16. Mai 1990. Danach ergebe sich der dringende Tatverdacht ausser aus den früher geltend gemachten Umständen zusätzlich daraus, dass der Beschwerdeführer nach Aussagen einer in das Diskettengeschäft verwickelten Person, S., auch in Luxemburg beim Umpacken von Disketten dabei war. Ferner habe sich der Beschwerdeführer wenige Tage vor einer durch die deutsche Steuerbehörde an seinem Domizil in Deutschland beschlossenen Haussuchung bereits nach Italien abgemeldet gehabt; schliesslich habe er nach jüngsten Erkenntnissen in L. zwei auf seinen Namen ![]() | 6 |
c) Was der Beschwerdeführer gegen diese Würdigung vorbringt, ist nicht geeignet, den angefochtenen Entscheid als verfassungs- oder konventionswidrig erscheinen zu lassen. Mit seiner breit und detailliert angelegten Kritik verkennt der Beschwerdeführer Aufgabe und Möglichkeiten des Bundesgerichts bei der Überprüfung des dringenden Tatverdachts. Wie bereits im Urteil vom 10. Januar 1990 ausgeführt, kann es bei dieser Prüfung nicht Sache des Bundesgerichts sein, dem Sachrichter vorgreifend eine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Umstände oder etwa eine umfassende Bewertung der Glaubwürdigkeit der den Beschwerdeführer belastenden Personen vorzunehmen. Zu prüfen ist vielmehr, ob genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung des Beschwerdeführers an dieser Tat vorliegen, die Untersuchungsbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Solche konkreten Anhaltspunkte sind nach wie vor gegeben. Während der Hinweis der Untersuchungsbehörden auf die Abmeldung des Beschwerdeführers aus Deutschland in dieser Form mangels weiterer Anhaltspunkte zwar kaum geeignet sein dürfte, zum Nachweis oder zur Bekräftigung eines dringenden Tatverdachts beizutragen, kann dies für die belastenden Aussagen von S. bejaht werden. Auch aus diesen Aussagen konnten die Untersuchungsbehörden ohne Willkür den Schluss ziehen, dass der Beschwerdeführer über den Auftrag, den S. offenbar vom Vater des Beschwerdeführers erhalten hatte (Umpacken von Disketten) zumindest im Bild war und möglicherweise auch bei dessen Ausführung dabei war bzw. geholfen hat. Aber auch bezüglich der beiden Konten des Beschwerdeführers in L. erscheint es angesichts der Umstände, insbesondere des zeitlichen Zusammenhangs und dem Aussageverhalten des Beschwerdeführers nicht als offensichtlich unhaltbar, einen Bezug zwischen den durch den Beschwerdeführer getätigten Transaktionen und dem Gegenstand der Untersuchung herzustellen. Zusammen mit den früheren, vom Bundesgericht bereits gewürdigten Verdachtsmomenten durfte aus diesen ![]() | 7 |
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes und der Strassburger Organe kann eine Haft die zulässige Dauer überschreiten, wenn die Untersuchung nicht genügend vorangetrieben wird. Auch unabhängig vom Vorwurf einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes darf der Haftrichter die Untersuchungshaft nur solange erstrecken, als ihre Dauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt. Dieser Grenze ist auch deshalb grosse Beachtung zu schenken, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen. Insofern besteht somit eine Art absoluter Höchstdauer der Untersuchungshaft (BGE 107 Ia 258 E. 2b mit Hinweisen auch auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe).
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b) Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt des Entscheides der Anklagekammer seit ca. zehn Monaten in Untersuchungshaft. Ob diese Dauer bereits in grosse Nähe der zu erwartenden Strafe gerückt wäre, wenn man vom Verdacht der Mittäterschaft des Beschwerdeführers ausgehen wollte, kann dahingestellt bleiben. Als Mittäter gilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wer an der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Deliktes vorsätzlich und in so massgeblicher Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, dass er als Hauptbeteiligter dasteht (BGE 108 IV 92 E. 2a mit Hinweisen). Nach dem Ermittlungsstand, wie ![]() | 11 |
c) Aufgrund der dem Bundesgericht vorliegenden Akten kann demnach zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ein hinreichend konkreter Tatverdacht nur für Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug, nicht jedoch für Mittäterschaft bei diesem Delikt bejaht werden. Unter diesen Umständen ist die Haftdauer aber als unverhältnismässig anzusehen und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der Freiheitsentzug dauerte z.Zt. des Entscheides der Anklagekammer seit fast zehn und heute seit über elf Monaten an. Auch bei aller gebotenen Zurückhaltung drängt sich der Schluss auf, dass diese Haftdauer jedenfalls in grosse Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe gerückt ist und jede weitere Fortsetzung der Haft als verfassungs- und konventionswidrig anzusehen ist. Dies ergibt sich nicht nur aus der nur untergeordneten Rolle, die der Beschwerdeführer bei der Abwicklung der fraglichen Geschäfte gespielt zu haben scheint; für die Strafzumessung dürften darüber hinaus insbesondere das Alter des Beschwerdeführers ![]() | 12 |
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