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58. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. Juli 1990 i.S. V. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht (1. Strafabteilung des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf einen unbefangenen Richter. | |
Sachverhalt | |
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V. erhob staatsrechtliche Beschwerde, mit der er u.a. rügte, am Urteil des Obergerichts habe ein befangener Richter mitgewirkt. Das Bundesgericht hielt diese Rüge für unbegründet.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Der Beschwerdeführer beklagt sich in erster Linie über eine Verletzung der Art. 58 Abs. 1 BV und 6 Ziff. 1 EMRK, da am angefochtenen Urteil des Aargauer Obergerichts vom 16. Februar 1989, mit dem über die Entschädigung für die von ihm ausgestandene Untersuchungshaft befunden wurde, ein befangener Richter mitgewirkt habe. Er ist der Meinung, Oberrichter Wuffli, der bei diesem Urteil die 1. Strafkammer des Obergerichts präsidierte, habe über die Haftentschädigung deshalb nicht unvoreingenommen ![]() | 3 |
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss die Rüge der unrichtigen Besetzung eines Gerichts bzw. der Voreingenommenheit eines Richters so früh wie möglich geltend gemacht werden. Es verstösst gegen Treu und Glauben, Einwände dieser Art erst im Rechtsmittelverfahren vorzubringen, wenn der - echte oder vermeintliche - Organmangel schon im vorangegangenen Verfahren hätte geltend gemacht werden können. Wer einen Richter nicht unverzüglich ablehnt, wenn er von einem Ausstandsgrund (Ausschliessungs- oder Ablehnungsgrund) Kenntnis erhält, sondern sich stillschweigend auf den Prozess einlässt, verwirkt den Anspruch auf spätere Anrufung der verletzten Verfassungsbestimmung (BGE 114 Ia 278, 280, 350 E. d; 114 V 62 E. 2b; 112 Ia 339 f.).
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Der Beschwerdeführer hat im Berufungsverfahren vor Obergericht kein Ausstandsbegehren gegen Oberrichter Wuffli gestellt. Er bringt erst vor Bundesgericht vor, dieser Richter hätte wegen Befangenheit am Entscheid über die Haftentschädigung nicht mitwirken dürfen. Den Akten ist indessen zu entnehmen, dass das Obergericht im Berufungsverfahren betreffend Haftentschädigung am 21. Januar 1988 einen Sistierungsbeschluss gefasst hatte, an welchem nach den Angaben auf dem Titelblatt Oberrichter Wuffli als Präsident der 1. Strafkammer des Obergerichts mitwirkte. Der Beschwerdeführer musste daher nach Erhalt dieses Beschlusses damit rechnen, dass Oberrichter Wuffli auch bei der materiellen Beurteilung des Entschädigungsbegehrens mitwirken würde. Gleichwohl hat er ihn im Berufungsverfahren nicht abgelehnt. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird vorgebracht, auch wenn Oberrichter Wuffli am erwähnten, ausschliesslich formellen Charakter aufweisenden Beschluss teilgenommen habe, habe der Beschwerdeführer davon ausgehen dürfen, dass er bei der materiellen Beurteilung des Begehrens um Haftentschädigung von sich aus einem Ersatzmitglied der 1. Strafkammer Platz machen würde. Nach der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss aber eine Prozesspartei, wenn sie von einem Ausstandsgrund Kenntnis erhält, den betreffenden Richter unverzüglich ablehnen; sie darf sich nicht stillschweigend auf den Prozess einlassen in der ![]() | 5 |
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Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach zwei unveröffentlichten Entscheiden der Europäischen Kommission für Menschenrechte die Vorschrift von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht anwendbar ist auf Verfahren, in denen über eine Haftentschädigung befunden wird (Entscheide zitiert bei FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington, 1985, N. 36 zu Art. 6 EMRK, S. 125, Fn. 89). Ob diese Konventionsbestimmung auf Verfahren betreffend Haftentschädigungen zur Anwendung kommt, kann indes offenbleiben, da im vorliegenden Fall eine Verletzung des Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht gegeben ist.
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a) Sowohl aufgrund von Art. 58 Abs. 1 BV als auch gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat der Einzelne einen Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unvoreingenommenen, unparteiischen und unbefangenen Richter beurteilt wird. Befangenheit ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters zu erwecken. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten persönlichen Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten begründet sein. In beiden Fällen wird aber nicht verlangt, dass der Richter deswegen tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit ![]() | 8 |
Eine gewisse, von funktionellen oder organisatorischen Gegebenheiten herrührende Besorgnis der Voreingenommenheit kann bei den Parteien dann entstehen, wenn sich ein Richter bereits in einem früheren Zeitpunkt in amtlicher Funktion mit der konkreten Streitsache befasst hatte. Das Bundesgericht hat zu diesem Umstand der sogenannten Vorbefassung ausgeführt, es könne nicht allgemein gesagt werden, in welchen Fällen die Tatsache, dass ein Richter schon zu einem früheren Zeitpunkt in der betreffenden Angelegenheit tätig war, unter dem Gesichtswinkel von Verfassung und Konvention die Ausstandspflicht begründe, und in welchen Fällen das nicht zutreffe. Als massgebendes Kriterium für die Beurteilung dieser Frage im Einzelfall hielt es aber fest, es sei generell zu fordern, dass das Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu entscheidenden Rechtsfragen trotz der Vorbefassung als offen erscheine und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt werde (BGE 116 Ia 34 f. E. 3a mit Hinweisen).
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b) Der Beschwerdeführer macht geltend, Oberrichter Wuffli habe das Begehren um Haftentschädigung deshalb nicht unvoreingenommen beurteilen können, weil er in dieser Sache seinerzeit die Haftverlängerung bewilligt und ein Haftentlassungsgesuch abgewiesen habe. Er ist der Ansicht, ein Richter, der - wenn auch in gesetzlicher Weise - durch seine Verfügungen zur zehnmonatigen Dauer einer Untersuchungshaft beigetragen habe, befinde sich in einem Interessenkonflikt; er tendiere dazu, die Entschädigung niedrig anzusetzen und die für eine Herabsetzung sprechenden Umstände zu stark zu gewichten. Es bestehe somit zumindest der objektiv gerechtfertigte Anschein, dass der betreffende Richter die Frage der Haftentschädigung nicht unvoreingenommen beurteilen könne.
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Nach der erwähnten Rechtsprechung des Bundesgerichts begründet eine Vorbefassung keine Ausstandspflicht, sofern das betreffende Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu entscheidenden Rechtsfragen gleichwohl als offen erscheint. Demnach stand im vorliegenden Fall einer Mitwirkung von Oberrichter Wuffli im Haftentschädigungsverfahren dann nichts entgegen, wenn der Ausgang dieses Verfahrens trotz dem ![]() ![]() | 11 |
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es nicht gegen Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verstösst, wenn derjenige Richter, der in einer Strafsache als Haftrichter tätig war, später auch beim Entscheid über die Haftentschädigung mitwirkt. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.
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