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13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. April 1991 i.S. F. gegen Untersuchungsrichter, Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Persönliche Freiheit, Art. 5 EMRK; vorzeitiger Strafvollzug. |
Die Zustimmung kann grundsätzlich nicht widerrufen werden. Der Angeschuldigte ist indessen berechtigt, jederzeit ein Begehren um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug zu stellen (E. 1d; Präzisierung der in BGE 104 Ib 24 ff. publizierten Rechtsprechung). | |
Sachverhalt | |
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F. reichte gegen diesen Entscheid staatsrechtliche Beschwerde ein. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines Gesuches um Entlassung aus der Haft oder aus dem vorläufigen Strafvollzug erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht grundsätzlich nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 114 Ia 283 E. 3; BGE 112 Ia 162 E. 3b; BGE 98 Ia 308).
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a) Gemäss Art. 100 Abs. 1 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons St. Gallen kann der Untersuchungsrichter, sofern der Stand der Untersuchung es erlaubt, den vorzeitigen Strafvollzug anordnen, wenn der Verhaftete geständig ist, wenn eine längere, unbedingte Freiheitsstrafe mit Sicherheit erwartet werden kann und wenn der Verhaftete sein ausdrückliches Einverständnis erklärt. Die Anklagekammer führte im angefochtenen Entscheid aus, der vorzeitige Strafvollzug wäre dann aufzuheben, wenn er die Grenze von zwei Dritteln der zu erwartenden Strafe erreichen würde. Im vorliegenden Fall stelle sich die Frage, ob bei der Bestimmung dieser Grenze nur die schon im Jahre 1989 ausgefällte, jetzt vollziehbar erklärte Freiheitsstrafe von 17 Monaten in Betracht falle oder auch die im laufenden Strafverfahren zu erwartende Freiheitsstrafe zu berücksichtigen sei. Der Beschwerdeführer ![]() | 5 |
b) In der staatsrechtlichen Beschwerde wird vorgebracht, der Beschwerdeführer hätte am 21. Februar 1991 (bedingt) entlassen werden müssen, wenn sich seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug nur auf die 17monatige Strafe aus dem Jahre 1989 bezogen hätte oder wenn ein Widerruf der Zustimmung im Hinblick auf die im laufenden Verfahren zu erwartende Strafe zulässig wäre. Der Beschwerdeführer wirft der Anklagekammer vor, sie habe zu Unrecht angenommen, sein Einverständnis mit dem vorzeitigen Strafvollzug habe sich auf beide in Frage kommenden Freiheitsstrafen bezogen und ein Widerruf des Einverständnisses sei nicht zulässig. Er macht geltend, der Freiheitsentzug verstosse ![]() | 6 |
c) Der vorzeitige Strafvollzug stellt seiner Natur nach eine Massnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass dem Angeschuldigten bereits vor der (rechtskräftigen) Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzuges geboten werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der herrschenden Lehre ist der vorzeitige Strafantritt mit dem verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit und den Garantien der EMRK nur bei ausdrücklicher Einwilligung des Betroffenen vereinbar (unveröffentlichte Urteile vom 1. Mai 1989 i.S. D., E. 3c, und vom 30. Mai 1983 i.S. L., E. 4c; BGE 106 Ia 407 f., BGE 104 Ib 26 f.; STEFAN TRECHSEL, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 283 ff.; MARTIN SCHUBARTH, Zur Rechtsnatur des vorläufigen Strafvollzuges, ZStR 96/1979, S. 305 f.; MARTIN SCHUBARTH, Die Artikel 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische Strafprozessrecht, ZSR 94/1975 I, S. 470; MATTHIAS HÄRRI, Zur Problematik des vorzeitigen Strafantritts, Diss. Basel 1987, S. 121 ff.). Es kann beim vorzeitigen Strafantritt freiwillig auf den durch Art. 5 EMRK garantierten Freiheitsschutz verzichtet werden. Als freiwillig ist ein solcher Verzicht zu betrachten, wenn die Zustimmung aus eigenem, ungehindertem Willen erklärt wird (BGE 104 Ib 27 E. 3a). Die Zustimmung des Angeschuldigten zum vorzeitigen Strafvollzug kann jedoch nur dann als verbindlich anerkannt werden, wenn sie nicht nur konkludent, sondern ausdrücklich und in Kenntnis der Rechtslage erteilt wird (unveröffentlichte Urteile vom 1. Mai 1989 i.S. D., E. 3d, und vom 30. Mai 1983 i.S. L., E. 5a).
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Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug im Rahmen der Einvernahme vom 22. März 1990 erklärt hat. Umstritten ist dagegen, ob sich diese Erklärung sowohl auf die im laufenden Strafverfahren zu erwartende Strafe als auch auf die im Jahre 1989 bedingt ausgefällte Strafe von 17 Monaten bezog. Der Beschwerdeführer ![]() ![]() | 8 |
d) Die Anklagekammer hat den Einwand des Beschwerdeführers, er habe sein Einverständnis zum vorzeitigen Strafvollzug widerrufen, als unbehelflich erachtet. Sie stützte sich dabei auf das in BGE 104 Ib 24 ff. publizierte Urteil, wonach das einmal erteilte Einverständnis mit dem vorzeitigen Strafvollzug unwiderruflich sei. Der Beschwerdeführer bezeichnet diese Praxis als nicht mehr haltbar und konventionswidrig.
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Das Bundesgericht hat im erwähnten Urteil ausgeführt, es bedeute keine willkürliche Auslegung des § 429 Abs. 1 der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO/ZH), wenn die vom Angeschuldigten nach dieser Vorschrift abgegebene Zustimmungserklärung zum vorzeitigen Strafvollzug als unwiderruflich erachtet werde (BGE 104 Ib 27 E. 3b). Ferner stellte es in der nicht publizierten Erwägung 4 dieses Urteils fest, ob der Strafvollzug zu unterbrechen sei, entscheide sich unabhängig davon, ob er aufgrund eines rechtskräftigen Urteils oder im Anschluss an eine Zustimmungserklärung gemäss § 429 Abs. 1 StPO/ZH angeordnet worden sei, einzig nach Art. 40 Abs. 1 StGB. Für eine analoge Anwendung von § 49 Abs. 2 StPO/ZH, wonach die Untersuchungshaft die Dauer der mutmasslichen Freiheitsstrafe nicht übersteigen darf, bleibe deshalb kein Raum. Art. 5 Ziff. 3 EMRK sei nicht anwendbar, weil ![]() | 10 |
In zwei unveröffentlichten Urteilen vom 19. Dezember 1988 i.S. P. (E. 1a) und vom 1. Mai 1989 i.S. D. (E. 3b) hat das Bundesgericht indessen erklärt, aus dem Umstand, dass der Angeschuldigte freiwillig in den vorzeitigen Strafvollzug eintrete, dürfe nicht geschlossen werden, dass eine Unterbrechung bzw. Aufhebung dieses Vollzuges nur noch unter den für den ordentlichen Strafvollzug geltenden, engen Voraussetzungen möglich sein solle. Der vorzeitige Strafvollzug habe seine Grundlage nicht in einem rechtskräftigen Urteil, sondern beruhe auf einem Gesuch des Angeschuldigten. Anders als beim ordentlichen Strafvollzug sei über die Dauer der Freiheitsstrafe noch nicht endgültig entschieden worden. Bleibe aber bis zum rechtskräftigen Urteil die Ungewissheit über die Strafdauer bestehen, müsse analog den Regeln über die Untersuchungs- und Sicherheitshaft ein jederzeitiges Haftentlassungsgesuch möglich sein; insbesondere habe der Angeschuldigte Anspruch auf Überprüfung der Verhältnismässigkeit und gegebenenfalls auf Entlassung, wenn die Dauer der bisher ausgestandenen Haft in grosse Nähe der mutmasslichen Freiheitsstrafe gerückt sei. Mit diesen Überlegungen wurde die in der nicht publizierten Erwägung 4 zu BGE 104 Ib 24 vertretene Auffassung aufgegeben, wonach eine Unterbrechung bzw. Aufhebung des vorzeitigen Strafvollzuges nur unter den in Art. 40 Abs. 1 StGB genannten Voraussetzungen zulässig sei. Was die Frage des Widerrufs der Zustimmungserklärung zum vorzeitigen Strafvollzug anbelangt, so hat das Bundesgericht in einem unveröffentlichten Urteil vom 30. Mai 1983 i.S. L. (E. 4c) erklärt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Betroffene seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafantritt jederzeit widerrufen könne. Zu dieser Frage ist hier zu bemerken, dass es kaum sinnvoll wäre, wenn der provisorische Strafantritt zwar verlangt und angetreten wird, der Gefangene jedoch entlassen werden müsste, sobald ihm aus irgendeinem Grund die konkreten Vollzugsverhältnisse nicht zusagen (vgl. nicht amtlich veröffentlichte Erwägung 1 zu BGE 102 Ia 379 ff., wiedergegeben bei SCHUBARTH, Vorläufiger Strafvollzug, S. 300 f.; in gleichem Sinne SCHUBARTH, Vorläufiger Strafvollzug, S. 307). Es muss somit daran festgehalten werden, dass grundsätzlich die vom Angeschuldigten erklärte Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug nicht widerrufen werden kann. Der Angeschuldigte ![]() | 11 |
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Anklagekammer zu Recht festgehalten hat, die vom Beschwerdeführer am 22. März 1990 erklärte Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug sei nicht widerruflich. Sofern sie aber - wovon aufgrund der Erwägungen des angefochtenen Entscheids ausgegangen werden kann - aus der Unwiderruflichkeit der Zustimmungserklärung den Schluss gezogen hat, eine Überprüfung der Haftvoraussetzungen könne mit der Begründung abgelehnt werden, der Betroffene befinde sich bereits im vorläufigen Strafvollzug, so lässt sich das mit dem verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit und mit Art. 5 EMRK nicht vereinbaren. Auch aus diesem Grunde ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
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2. Die Aufhebung des Entscheids der Anklagekammer hat nicht ohne weiteres zur Folge, dass der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen werden müsste. Die Anklagekammer wird zu prüfen haben, ob die Haftvoraussetzungen nach wie vor gegeben sind. Sollte sie der vom Untersuchungsrichter in seiner ihr unterbreiteten Vernehmlassung vom 12. Februar 1991 geäusserten Ansicht zustimmen, wonach Fortsetzungsgefahr bestehe, so wäre es zulässig, den Beschwerdeführer in Sicherheitshaft zu nehmen. Die Frage der übermässigen Dauer der bisherigen Haft hat die Anklagekammer im angefochtenen Entscheid bereits geprüft und verneint. Die betreffenden Erwägungen lassen sich nicht beanstanden. Entgegen ![]() | 13 |
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