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27. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21. März 1991 i.S. S. gegen v. S., Generalprokurator und Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. |
2. Bei Gutheissung einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf den verfassungsmässigen Richter hebt das Bundesgericht neben dem direkt angefochtenen Zwischenentscheid auch das in der Zwischenzeit ergangene Sachurteil auf, soweit dieses den Beschwerdeführer betrifft (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Der aus Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleitete Anspruch auf einen unbefangenen und unparteiischen Richter bietet nur eine Minimalgarantie (BGE 114 Ia 53 E. 3b; BGE 112 Ia 292 E. 3); die Kantone sind berechtigt, weitergehende Ansprüche zu gewährleisten. In der staatsrechtlichen Beschwerde beruft sich der Beschwerdeführer lediglich auf die Minimalgarantie. In einem solchen Fall prüft das Bundesgericht mit voller Kognition, ob die angefochtene Verfügung mit den Anforderungen an einen unbefangenen und unparteiischen Richter nach Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar sei (BGE 116 Ia 33 E. 2a).
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b) Das Wirtschaftsstrafgericht und Richter-Suppleant v. S. erachten die Rüge der Voreingenommenheit als zu spät erhoben. Sie bringen vor, die vom Beschwerdeführer behaupteten Ablehnungsgründe seien diesem schon lange bekannt gewesen; es sei rechtsmissbräuchlich, sie erst derart kurz vor Verhandlungsbeginn vorzubringen. Indessen ist das Wirtschaftsstrafgericht im angefochtenen Entscheid auf das Ablehnungsgesuch eingetreten und ist demzufolge nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuch ausgegangen (vgl. BGE 114 Ia 350 E. e); es hat vielmehr das Gesuch materiell behandelt und abgewiesen. Der Rechtsmissbrauch und auch die Verwirkung des Anspruchs (BGE 116 Ia 142 E. 4 Nr. 58 E. 1; BGE 114 Ia 349 f. E. d) bilden somit nicht Gegenstand des angefochtenen Entscheids. Aus diesem Grund braucht das Bundesgericht darauf nicht einzugehen.
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c) (vgl. BGE 116 Ia 33 f. E. 2b)
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2. Der Beschwerdeführer wirft v. S. nicht ein bestimmtes Verhalten vor; er lehnt ihn ab, weil dieser in seiner früheren Funktion als Generalprokurator in einem zurückliegenden Verfahrensstadium auf den Prozess hat Einfluss nehmen können. Der ![]() | 6 |
a) Die Besorgnis der Voreingenommenheit und damit ein Misstrauen gegenüber dem Richter kann dann entstehen, wenn sich einzelne Richter bereits in einem früheren Zeitpunkt in amtlicher (richterlicher oder nichtrichterlicher) Funktion mit der konkreten Streitsache befasst haben. In welchen Fällen eine solche sogenannte Vorbefassung unter dem Gesichtswinkel von Verfassung und Konvention die Ausstandspflicht begründet, kann jedoch nicht allgemein gesagt werden. Immerhin muss das Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu entscheidenden Rechtsfragen trotz der Vorbefassung als offen erscheinen und darf nicht den Anschein der Vorbestimmtheit erwecken (BGE 116 Ia 34 f. E. 3a). Die Ausstandsfrage ist demnach anhand der tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Fragen zu entscheiden (BGE 115 Ia 220 E. 5a; BGE 116 Ia 391 E. 2b); entscheidend ist, ob in den verschiedenen Verfahrensabschnitten, bei denen der Richter mitgewirkt hat, eine ähnliche oder qualitativ gleiche Frage geprüft wurde. Dabei ist nicht wesentlich, ob die Prüfungen tatsächlich vorgenommen werden; unter dem Gesichtswinkel des Anscheins der Befangenheit kommt es in erster Linie auf die objektive Kompetenzordnung und weniger darauf an, in welchem Umfange davon Gebrauch gemacht wird (BGE 114 Ia 69). Schon aus der Kompetenzordnung ergibt sich, ob bei objektiver Beurteilung mit genügendem Grund der Anschein entsteht, der Richter werde nicht mehr unvoreingenommen prüfen oder habe wegen seiner Vorkenntnisse im Richterkollegium ein verstärktes Gewicht (BGE 112 Ia 301 f.). Die Besorgnis der Befangenheit ist ferner unter Umständen begründet, weil durch die doppelte Mitwirkung der Sinn der Verfahrensordnung unterlaufen wird (BGE 114 Ia 55 E. a, 57, 71). Dieser besteht aus rechtsstaatlichen Überlegungen oft darin, zwischen Strafuntersuchung, Anklagezulassung und abschliessender materieller Beurteilung zu trennen. Zu beachten ist ferner der Umfang des Entscheidungsspielraums bei der Beurteilung der sich in beiden Abschnitten stellenden Fragen und die Bedeutung der Entscheidungen im Hinblick auf den Fortgang des Verfahrens (BGE 116 Ia 35 E. 3a).
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b) Das Bundesgericht erachtete - in Anlehnung an die Rechtsprechung der Strassburger Organe zur Befangenheit aus funktionellen oder organisatorischen Gründen (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. De Cubber vom 26. Oktober ![]() | 8 |
Als verfassungskonform betrachtet das Bundesgericht dagegen, dass dieselben Richter den Sachentscheid treffen und sodann über Revisionsbegehren befinden (BGE 113 Ia 62 ff.; BGE 107 Ia 15 ff.; ![]() | 9 |
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a) Das Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern ist als 2. Kriminalkammer des Obergerichts konzipiert (Art. 9a des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden (GOG) vom 31. Januar 1909). Es urteilt unter Mitwirkung von drei Richtern (Art. 9 Abs. 1 GOG). Für Mitglieder, die verhindert sind, an den Verhandlungen teilzunehmen, sind vom Obergerichtspräsidenten bezeichnete Mitglieder einer anderen Kammer oder Ersatzmänner beizuziehen (Art. 15 Abs. 1 GOG). Wenn kein Mitglied einer anderen Kammer zur Verfügung steht, darf der Präsident der Kriminalkammer als ausserordentliche Ersatzmänner Gerichtspersonen, Fürsprecher oder Notare beiziehen, jedoch nicht den mit dem zu beurteilenden Fall befassten Untersuchungsrichter (Art. 15 Abs. 2 GOG). Ebenfalls als unfähig, an der Verhandlung und Beurteilung einer Strafsache teilzunehmen, gilt, wer in der gleichen Strafsache bereits als Staatsanwalt aufgetreten ist (Art. 32 Ziff. 7 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern (StrV) vom 20. Mai 1928). Somit sind sowohl Staatsanwalt als auch ![]() | 11 |
Der Generalprokurator ist, wie auch der Bezirksprokurator, ein Beamter der Staatsanwaltschaft (Art. 84 Abs. 1 GOG). Er führt die Aufsicht über den Bezirksprokurator und erteilt ihm die nötigen Weisungen (Art. 97 Abs. 1 Satz 2 GOG). Der Bezirksprokurator seinerseits ist gegenüber dem Generalprokurator weisungsgebunden und hat ihm Bericht zu erstatten (Art. 94 GOG). Er ist befugt, die Einleitung einer Strafuntersuchung durch den zuständigen Untersuchungsrichter anzuordnen; ebenso kann er verlangen, dass der Untersuchungsrichter vor Eröffnung einer Strafverfolgung einzelne Untersuchungsmassnahmen vornimmt (Art. 91 GOG). Der Bezirksprokurator hat auch die Voruntersuchungen zu überwachen. Er ist befugt, jederzeit in die Untersuchungsakten Einsicht zu nehmen, den Untersuchungshandlungen beizuwohnen und die Vornahme einzelner Untersuchungshandlungen durch den Untersuchungsrichter anzuordnen (Art. 94 StrV).
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Ein Fall, in dem zur Hauptsache stafbare Handlungen gegen das Vermögen oder Urkundenfälschungen in Frage stehen und dessen Beurteilung besondere wirtschaftliche Kenntnisse oder die Würdigung einer grossen Zahl schriftlicher Beweismittel voraussetzt, wird nach Abschluss der Voruntersuchung an das Wirtschaftsstrafgericht überwiesen (Art. 208b StrV). Ist der Überweisungsbeschluss durch den Untersuchungsrichter und den Bezirksprokurator zu fassen, legt der Untersuchungsrichter die Akten mit einem schriftlichen Antrag dem Bezirksprokurator vor (Art. 184 Abs. 1 StrV). Hält er dafür, dass der Angeschuldigte einer strafbaren Handlung hinreichend verdächtig erscheint, so stellt er den Antrag auf Überweisung an das zuständige Gericht (Art. 184 Abs. 3 StrV). Stimmt der Bezirksprokurator zu, so ist der Antrag des Untersuchungsrichters zum Beschluss erhoben (Art. 185 StrV). Ferner ist nach den Weisungen des Generalprokurators des Kantons Bern vom 23. September 1981 für die Überweisung an das Wirtschaftsstrafgericht die Genehmigung des Generalprokurators erforderlich. Diese soll die einheitliche Anwendung von Art. 208 StrV sicherstellen (vgl. Vorbemerkungen zu den erwähnten Weisungen).
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c) Als Beamter der Staatsanwaltschaft (Art. 84 Abs. 1 GOG) untersteht der Generalprokurator Art. 32 Ziff. 7 StrV, wonach ein Richter unfähig ist, an der Verhandlung und Beurteilung einer Strafsache teilzunehmen, wenn er in der gleichen Sache bereits als Staatsanwalt aufgetreten ist. Ob unter "Auftreten" im Sinne dieser Bestimmung lediglich dasjenige als Partei in einem Haupt- oder Rechtsmittelverfahren zu verstehen sei (vgl. MAX WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, Langenthal 1937 und 1942, N 6 zu Art. 32/33 StrV, S. 79) oder ob dieser Ausdruck im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Strassburger Konventionsorgane weiter auszulegen sei, kann hier offen bleiben. Im vorliegenden Fall besass v. S. in seiner Funktion als Generalprokurator bis Ende 1988, somit auch während der Voruntersuchung gegen den Beschwerdeführer, ein Weisungsrecht gegenüber den Bezirksprokuratoren (Art. 94 und Art. 97 Abs. 1 Satz 2 GOG) und damit eine Einflussmöglichkeit gegenüber den Untersuchungsrichtern (vgl. Art. 91 GOG und Art. 94 StrV). Diese Kompetenzen ermöglichten ihm einen Einfluss auf das Verfahren, der sich mit demjenigen der Anklagebehörde, des Überweisungsrichters und des Untersuchungsrichters vergleichen lässt: Er besass eine wesentliche Stellung in einem Verfahrensteil, der vom Sinn der Verfahrensordnung her von der definitiven, materiellen Beurteilung ![]() | 15 |
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