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44. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3. Juli 1991 i.S. K. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV. Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung. |
Voraussetzungen für die Bejahung eines unmittelbar aus der Bundesverfassung fliessenden Anspruches auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Zusammenfassung, E. 5b). Die Notwendigkeit der Verbeiständung ist im vorliegenden Fall zu bejahen: Die zuständige Behörde hat in einem früheren Verfahrensstadium den Antrag gestellt, die aufgeschobene Freiheitsstrafe sei zu vollziehen, obwohl aus den Akten schwerwiegende Indizien für die Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers ersichtlich sind. Es stellen sich somit schwierige Tat- und Rechtsfragen (E. 5b/bb-cc). | |
Sachverhalt | |
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Am 3. August 1988 wurde K. in Frankreich wegen Betäubungsmitteldelikten zu vier Jahren Freiheitsentzug und Busse verurteilt. Die Justizdirektion des Kantons Zürich stellte am 3. Juni 1989 unter Hinweis auf diese Verurteilung dem Obergericht den Antrag, es sei die aufgeschobene Freiheitsstrafe zu vollziehen. Mit Beschluss vom 7. November 1989 trat das Obergericht auf die Eingabe der Justizdirektion nicht ein, da diese über die Frage der Rückversetzung in den Massnahmenvollzug noch keinen förmlichen und in Rechtskraft erwachsenen Entscheid im Sinne von Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB gefällt habe. Die von der Justizdirektion und der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen diesen Entscheid erhobenen kantonalen und eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerden wurden am 20. März bzw. 14. Mai 1990 vom Kassationsgericht des Kantons Zürich und vom Bundesgericht abgewiesen.
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Mit Eingabe vom 30. November 1989 stellte K. der Justizdirektion den Antrag, er sei in den Massnahmenvollzug zurückzuversetzen und es sei ihm im Rückversetzungsverfahren die unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung zu gewähren. Mit Zwischenentscheid vom 5. September 1990 wies die Justizdirektion das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ab. Den dagegen von K. erhobenen Rekurs wies der Regierungsrat des Kantons Zürich mit Beschluss vom 12. Dezember 1990 ab. Die gegen den Beschluss des Regierungsrates erhobene staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht gut.
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a) In einem Strafverfahren hat der bedürftige Angeklagte unmittelbar gestützt auf Art. 4 BV Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen der Angeklagte nicht gewachsen ist (BGE 115 Ia 105 mit Hinweisen; BGE 109 Ia 13 E. 3b). Wie das Bundesgericht weiter entschieden hat, stellt auch das Verfahren, in dem der Richter bei Versagen einer im Haupturteil angeordneten Behandlung über die Vollstreckung der Strafe oder die Anordnung einer anderen Massnahme zu befinden hat, eine Fortsetzung bzw. Ergänzung des Hauptverfahrens dar, und sind die Regeln über die Gewährung der amtlichen Verteidigung analog anzuwenden, sei dies in den Fällen von Art. 43 Ziff. 3 StGB (BGE 106 Ia 182 f. E. 2a) oder in solchen von Art. 44 Ziff. 3 StGB (unveröffentlichtes Urteil vom 12. Juli 1984 i.S. C. W.).
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In BGE 112 Ia 17 f. E. 3c wurde ein unmittelbar aus Art. 4 BV fliessender Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung auch "im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsverfahren" anerkannt, "wo dies zur Wahrung der Interessen des unbemittelten Bürgers erforderlich ist". Gemäss einem nach Art. 16 OG durchgeführten Meinungsaustausch zwischen dem Eidgenössischen Versicherungsgericht und dem Bundesgericht wurde mit diesem Entscheid der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für das nichtstreitige Verwaltungsverfahren, welches zum Erlass einer anfechtbaren Verfügung führt, weder verneint noch bejaht (BGE 114 V 232 E. 4b; die Regeste von BGE 112 Ia 14 bezieht sich in diesem Sinne auch ausdrücklich nur auf das "Verwaltungsbeschwerde- und Verwaltungsgerichtsverfahren"). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat den Anspruch in gewissen sachlichen und zeitlichen Grenzen in der Folge auf das nichtstreitige IV-Abklärungsverfahren gemäss Art. 65 ff. IVV ![]() | 6 |
Der Entscheid der Justizdirektion ist für den Beschwerdeführer von erheblicher Tragweite: Bei einer Verweigerung der Rückversetzung in die Massnahme und einem Vollzug der aufgeschobenen Strafe hätte der Beschwerdeführer unbestrittenermassen eine Restfreiheitsstrafe von 354 Tagen zu verbüssen, sofern ihm Untersuchungshaft und Massnahmenvollzug durch den Richter angerechnet werden (Art. 44 Ziff. 5 StGB). Der Beschwerdeführer befindet sich demgegenüber heute auf freiem Fuss und geht nach Darstellung des Regierungsrates seit längerem einer geregelten Erwerbstätigkeit nach. Als Konsequenz einer Rückversetzung in die Massnahme hätte der Beschwerdeführer eine stationäre Behandlung in einer Heilanstalt für Drogensüchtige zu gewärtigen, deren neue Höchstdauer zwei Jahre beträgt und deren Gesamtdauer bei mehrfacher Rückversetzung bis auf sechs Jahre ausgedehnt werden kann (Art. 45 Ziff. 3 Abs. 6 StGB). Obwohl es sich beim Entscheid ![]() | 7 |
Alle diese Umstände sprechen dafür, dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtsverbeiständung schon im Verwaltungsverfahren vor der Justizdirektion des Kantons Zürich zu ermöglichen, sofern die von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien erfüllt sind.
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b) Im folgenden ist demnach zu prüfen, ob die einzelnen Voraussetzungen gegeben sind, welche die Bundesgerichtspraxis für die Bejahung eines unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Anspruches auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung entwickelt hat. Das Bundesgericht prüft das Vorliegen dieser Voraussetzungen mit freier Kognition (BGE 112 Ia 9 E. 2 mit Hinweisen).
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aa) Als erstes setzt der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung voraus, dass der Gesuchsteller bedürftig ist (BGE 114 V 231 E. 4a; BGE 112 Ia 9 E. 2, 15 E. 3a). Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ist vorliegend unbestritten und geht auch aus den Akten hervor. Der Regierungsrat behauptet nicht, dass aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer seit seiner Haftentlassung aus dem französischen Strafvollzug Ende 1989 ein geordnetes Leben aufgebaut habe, etwas Gegenteiliges abzuleiten wäre.
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bb) Nach ständiger Praxis des Bundesgerichtes kann über den Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung hinaus aus Art. 4 BV nur dann ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung abgeleitet werden, wenn letztere notwendig erscheint. Dabei sind die konkreten Umstände des Einzelfalles und die Eigenheiten der anwendbaren kantonalen Verfahrensvorschriften zu ![]() | 11 |
Der Regierungsrat stellt sich auf den Standpunkt, es seien im vorliegend von der Justizdirektion zu entscheidenden Fall "keine nicht leicht zu behandelnden tatsächlichen Fragen zu beantworten", deshalb erscheine die unentgeltliche Rechtsverbeiständung des Beschwerdeführers nicht notwendig. Der Beschwerdeführer sei nach eigenen Angaben nach seiner bis Ende 1989 dauernden Inhaftierung in Frankreich in die Schweiz zurückgekehrt, er wohne heute in Wald ZH und gehe "seit längerem einer geregelten Erwerbstätigkeit nach", Drogenrückfälle seit seiner Inhaftierung seien auf Grund der Akten nicht ersichtlich. Es sei daher "davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer seit rund drei Jahren keine Drogen mehr konsumiert und es ihm überdies nach seiner Entlassung gelungen ist, ein geordnetes Leben aufzubauen". Aufgrund dieser Sachlage sei die Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers "zum vornherein ausgeschlossen" und es würden sich im Verfahren gemäss Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB keine schwierigen Tat- oder Rechtsfragen stellen.
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Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Im Gutachten der Psychiatrischen Klinik Rheinau vom 23. Juli 1985 wurde beim Beschwerdeführer eine "ausgeprägte Suchtstruktur" diagnostiziert, nachdem dieser seit 1981 unter anderem Heroin und Kokain geschnupft hatte. Gestützt auf das psychiatrische Gutachten schob das Obergericht des Kantons Zürich die ausgefällte Freiheitsstrafe ![]() | 13 |
Angesichts dieser Aktenlage muss die Auffassung des Regierungsrates, die Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers könne "zum vornherein ausgeschlossen werden" und es stellten sich diesbezüglich keine schwierigen Fragen, zumindest auf grosse Bedenken stossen. Fragwürdig erscheint besonders die Auffassung, es könne angenommen werden, dass der Beschwerdeführer "seit rund drei Jahren keine Drogen mehr konsumiert" habe, nachdem eine ausgeprägte Drogensucht gutachtlich festgestellt worden ist, der Beschwerdeführer am 3. August 1988, also nicht lange nach seiner bedingten Entlassung aus dem Massnahmenvollzug, wieder einschlägig wegen Drogenschmuggels verurteilt wurde und er sich bis Ende 1989 im unbetreuten Strafvollzug befand. Angesichts der allgemein bekannten Drogenproblematik im Strafvollzug (vgl. KURT BIENER, Die Gesundheitsproblematik im Strafvollzug, Grüsch 1989, S. 48; HANS FUESS, Der Drogenabhängige im Strafvollzug, Der Strafvollzug in der Schweiz 1982, S. 62 ff.; FRANZ MOGGI, Drogenabhängige im Straf- und Massnahmenvollzug, Der Strafvollzug in der Schweiz 1982, S. 58 ff.) erschiene unter diesen Umständen ein Nichtrückfall eher erstaunlich.
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cc) Entgegen der Auffassung des Regierungsrates stellen sich somit bezüglich der im Verfahren gemäss Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB abzuklärenden Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers offensichtlich schwierige Tat- und Rechtsfragen. In formeller Hinsicht ist das Verfahren vor der Zürcher Justizdirektion zwar nicht besonders kompliziert ausgestaltet, völlig anspruchslos erscheint es - gerade für einen möglicherweise ![]() | 15 |
In Würdigung all dieser Umstände ist die Notwendigkeit einer unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im vorliegenden Fall zu bejahen.
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dd) Als weitere Voraussetzung für einen direkt aus Art. 4 BV ableitbaren Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung verlangt die Praxis des Bundesgerichtes, dass das Rechtsbegehren des Gesuchstellers nicht zum vornherein aussichtslos erscheint (BGE 112 Ia 18 mit Hinweisen). Wie bereits ausgeführt, kann der Auffassung des Regierungsrates, der Nachweis einer Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers sei zum vornherein ausgeschlossen, damit sei auch dessen Begehren um Rückversetzung in den Massnahmevollzug aussichtslos, nicht gefolgt werden (E. bb). Die zuständige Behörde wird vielmehr abklären müssen (nötigenfalls unter Anordnung der geeigneten Beweismassnahmen), ob sich seit der Entlassung des Beschwerdeführers die tatsächlichen Verhältnisse betreffend Drogensucht in der Weise geändert haben, dass entgegen dem letzten psychiatrischen Gutachten und den erwähnten Indizien eine Massnahmebedürftigkeit verneint werden kann. Das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers im Verfahren ![]() | 17 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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