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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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59. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 6. März 1991 i.S. Imhof und Perren gegen Kanton Wallis (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK: Rechtsschutzbestimmungen im Bereiche der Landumlegung. |
2. a) Der Einleitungsbeschluss zu einer Landumlegung und die Abgrenzung des Perimeters betreffen sog. "civil rights" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und erfordern daher eine gerichtliche Anfechtungsmöglichkeit; das Verfahren vor dem Staatsrat und das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde genügen diesen Anforderungen nicht (E. 5a, 5b und 5c). |
b) Die auslegende Erklärung der Schweiz zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK findet keine Anwendung (E. 5d). | |
Sachverhalt | |
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Gegen dieses Dekret haben Armand Imhof und Raymond Perren beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben und die Aufhebung verschiedener Dekretsbestimmungen beantragt. Sie machen u.a. geltend, der Rechtsschutz genüge den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht. - ![]() | 2 |
Auszug aus den Erwägungen: | |
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Im Bereiche der Landumlegung befindet die Rekurskommission nach Art. 50 Abs. 1 des Dekretes über Beschwerden gegen Beschlüsse der Ausführungskommission; diese betreffen gemäss Art. 40 Abs. 3 des Dekretes insbesondere die Vornahme der Schatzungen, die Erstellung des Verzeichnisses der Neuzuteilungsansprüche und der ausgeschiedenen Landflächen, die Erstellung des Planes für die Neuzuteilung, die Ermittlung der Entschädigungen, die Erhebung der Zwischenleistungen und die Erstellung des Kostenverteilers und der Schlussabrechnung. Hinsichtlich der Grenzregulierung können der Entscheid des Gemeinderates über die Einleitung des Verfahrens sowie dessen Entscheidung über die Einsprachen nach Art. 59 Abs. 1 und Art. 64 Abs. 4 des Dekretes bei der Rekurskommission angefochten werden.
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b) Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verbieten Ausnahmegerichte und die Bestellung von ad hoc oder ad personam berufenen Richtern und verlangen damit - zum Zwecke der Verhinderung jeglicher Manipulation und zwecks Garantie der ![]() | 6 |
Bei der Rekurskommission nach Landumlegungsdekret handelt es sich um ein derartiges Sondergericht. Die Kommission wird mit dem angefochtenen Dekret geschaffen. Ihre Zusammensetzung, die Art der Wahl und das Verfahren werden im Dekret in den Grundzügen geregelt. Solche Sondergerichte sind nicht nur nach Art. 58 Abs. 1 BV (BGE 113 Ia 423), sondern ebenso nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK zulässig. Diese Konventionsbestimmung erfordert nicht einen in die herkömmlichen gerichtlichen Einrichtungen integrierten Spruchkörper (Urteil des Gerichtshofes vom 28. Juni 1984 i.S. Campbell und Fell, Ziff. 76, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A vol. 80 = EuGRZ 1985 S. 534 (540); FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 1. Aufl. 1985, N. 88 zu Art. 6); der Gerichtshof hat auch den Beizug von Fachrichtern grundsätzlich zugelassen (Urteil vom 22. Juni 1989 i.S. Langborger, Ziff. 34, Série A vol. 155).
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Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer entspricht die Rekurskommission auch den übrigen Anforderungen an gerichtliche Spruchkörper, wie sie sich aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergeben (vgl. BGE 115 Ia 410; Urteil des Gerichtshofes vom 29. April 1988 i.S. Belilos, Ziff. 64 mit Hinweisen, Série A vol. 132 = EuGRZ 1989 S. 21 (30)). Die Rekurskommission verfügt aufgrund ihrer Wahl über die notwendige Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von den Verwaltungsbehörden. Mit der Anwendbarkeit der Bestimmungen des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren und die Verwaltungsrechtspflege (VVRG) sind auch die Voraussetzungen für ein faires Verfahren gegeben.
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Die Rekurskommission befindet in den erwähnten Bereichen endgültig. Dies bedeutet, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans kantonale Verwaltungsgericht ausgeschlossen ist. Weder Art. 58 Abs. 1 BV noch Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangen einen mehrstufigen Rechtsweg. Damit sind die Rechtsschutzbestimmungen auch in dieser Hinsicht nicht zu beanstanden.
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Demnach erweist sich die Beschwerde als unbegründet, soweit mit ihr die Einsetzung der Rekurskommission und deren Befugnisse gerügt werden.
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a) Für die Beurteilung der vorgebrachten Rügen ist vorerst zu prüfen, ob die Entscheidungen des Staatsrates über die Einleitung von Landumlegungen und über die Abgrenzung des Perimeters sog. Zivilrechte im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK betreffen. Hierfür ist zunächst der Anwendungsbereich dieser Konventionsbestimmung zu umschreiben, wie er sich sowohl aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als auch aus den Entscheidungen der Organe der Menschenrechtskonvention für den Bereich des Bau- und Planungsrechts ergibt.
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Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stellen Streitigkeiten über die Zulässigkeit der Enteignung und über die Höhe der Enteignungsentschädigung "des contestations sur des droits et des obligations de caractère civil" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar. Dies hat das Bundesgericht vorerst für das bundesrechtliche Enteignungsverfahren festgehalten (BGE 111 Ib 231 f., 112 Ib ![]() | 14 |
Der Europäische Gerichtshof hat verschiedentlich festgehalten, dass Enteignungsverfahren in den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK fallen (vgl. Urteil Sporrong und Lönnroth vom 23. September 1982, Ziff. 79-83, Série A vol. 52 = EuGRZ 1983 S. 523 (527 f.); Urteil Bodén vom 27. Oktober 1987, Ziff. 29 und 32, Série A vol. 125-B = EuGRZ 1988 S. 452 (454 f.); Urteil Zimmermann und Steiner vom 13. Juli 1983, Ziff. 22, Série A vol. 66 = EuGRZ 1983 S. 482). Ebenso sind Verwaltungsentscheidungen, mit denen der Erwerb von landwirtschaftlichen Grundstücken verweigert worden waren, zu den Art. 6 Ziff. 1 EMRK unterliegenden Gegenständen gezählt worden, da der Ausgang solcher Verfahren unmittelbaren Einfluss auf die zivilrechtlichen Ansprüche haben (Urteil Ringeisen vom 16. Juli 1971, Ziff. 94, Série A vol. 13; Urteil Sramek vom 22. Oktober 1984, Ziff. 34, Série A vol. 84 = EuGRZ 1985 S. 336 (339); Resolution des Ministerkomitees i.S. Karlsson vom 24. September 1990 und Bericht der Kommission vom 12. April 1989, Ziff. 35-41, vgl. EuGRZ 1989 S. 266; vgl. auch Fall L. gegen Schweden betreffend Grunderwerbsgenehmigung für eine landwirtschaftliche Parzelle, EuGRZ 1991 S. 196). In einem Nichtzulassungsentscheid hat die Kommission Entscheidungen der Organe einer umfassenden Landumlegung unter Art. 6 Ziff. 1 EMRK subsumiert (Entscheid i.S. X. gegen Belgien vom 2. Oktober 1975, DR 3, 135). Weiter hat der Gerichtshof Fälle unter dem Gesichtswinkel der "civil rights" untersucht, in denen Ausnahmebewilligungen für die Erstellung von Gebäuden in Frage standen, welche der geltenden Zonenordnung widersprachen; der umstrittene Anspruch der Grundeigentümer, ihre Parzellen zu überbauen, wies nach den Urteilserwägungen klar einen zivilrechtlichen Charakter auf (Urteil Allan Jacobsson vom 25. Oktober 1989, Ziff. 73, Série A vol. 163 = RUDH 1989 S. 166 (168); Urteil Skärby vom 28. Juni 1990, Ziff. 29, Série A vol. 180-B = RUDH 1990 S. 437 (440)). In diesem Zusammenhang verdient insbesondere die Entscheidung über einen von einer Gemeindeexekutive erlassenen Bebauungsplan Beachtung, welcher Beschränkungen der ![]() | 15 |
b) Nach dem Landumlegungsdekret hat der Staatsrat insbesondere Beschwerden zu beurteilen, die sich gegen die Gültigkeit der Abstimmung der Grundeigentümer oder gegen die Verpflichtung, der Umlegung beizutreten, richten (Art. 16) oder die die Landumlegung auf Beschluss des Gemeinderates hin betreffen (Art. 30). Im Vordergrund stehen hierbei insbesondere die Abgrenzung des Perimeters der Landumlegung und damit der Einbezug einzelner Grundstücke in das Landumlegungsverfahren.
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Der Abgrenzung des Umlegungsgebietes kommt sowohl für die Durchführung der Landumlegung als solcher als auch für die Ansprüche der einzelnen Grundeigentümer grösste Bedeutung zu (vgl. ALFRED KUTTLER, Parzellarordnungsmassnahmen im Dienste der Raumplanung, in: Mélanges André Grisel, Neuenburg 1983, S. 533 f.). Im einzelnen hat der Einbezug eines Grundstückes in die Umlegung eine Eigentumsbeschränkung zur Folge (vgl. KUTTLER, a.a.O., S. 527). So gilt nach Art. 18 Abs. 1 des Dekretes für die betroffenen Parzellen der Umlegungsbann: Während des ![]() | 17 |
Weiter ist zu beachten, dass das Landumlegungsverfahren - im Rahmen des verfassungsmässigen Anspruchs auf Realersatz oder, soweit ein solcher nicht geleistet werden kann, auf Geldausgleich (vgl. BGE 116 Ia 109) - zu einer Änderung der Grundstücksverhältnisse führt, allenfalls die Begründung von gemeinschaftlichem Eigentum zur Folge hat (vgl. Art. 35 Abs. 3 Dekret) und die Enteignung von kleinen Parzellen mit sich bringt (Art. 35 Abs. 3 Dekret). Die Möglichkeit der Anfechtung der Neuzuteilung am Schlusse des Verfahrens ändert an der Tragweite des Einbezuges einer Parzelle nichts. Das Bundesgericht bezeichnete die Überprüfung des Einbezuges eines Grundstückes erst im Zeitpunkt der Genehmigung der Neuzuteilung im Jahre 1981 als unzweckmässig (ZBl 84/1983 S. 183 f.). Später hat es den Einleitungsbeschluss - unter dem Gesichtswinkel von Art. 87 OG - als selbständig anfechtbaren Endentscheid behandelt (BGE 110 Ia 134).
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Aufgrund dieser Überlegungen ergibt sich, dass die Beschwerden, über die der Staatsrat nach Art. 16 Abs. 2 und Art. 30 des Dekretes endgültig entscheidet, sog. Zivilrechte im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK betreffen.
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c) Die Anwendbarkeit der EMRK hat zur Folge, dass die Betroffenen Anspruch auf eine richterliche Beurteilung des Einleitungsbeschlusses und der Abgrenzung des Perimeters haben.
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Es bedarf keiner weitern Ausführungen, dass der Staatsrat kein Gericht darstellt und daher den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht genügt (vgl. BGE 115 Ia 69, 186 f.). Da das angefochtene Dekret die Entscheide des Staatsrates als endgültig bezeichnet und damit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das ![]() | 21 |
Es fragt sich daher, ob das anschliessende Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde vor Bundesgericht den Erfordernissen der gerichtlichen Prüfung gerecht wird und damit die Lücke im kantonalen Rechtsschutzverfahren zu kompensieren vermag. Dies ist zu verneinen (BGE 115 Ia 69 /70 und 187). Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht den Sachverhalt und die Anwendung des kantonalen Rechts bei einem leichten Eingriff nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Diese beschränkte Kognition genügt den Anforderungen an eine richterliche Prüfung nicht (vgl. Urteil Belilos, a.a.O., Ziff. 71 f.). Auch in dieser Hinsicht fehlt es demnach an einem Richter zur Überprüfung der Einleitung des Umlegungsverfahrens.
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d) Schliesslich stellt sich die Frage, ob die auslegende Erklärung der Schweiz zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangen kann. Die Schweiz hat mit der Ratifikation der Konvention im Jahre 1974 eine auslegende Erklärung abgegeben (AS 1974 2173). In der Folge des Urteils Belilos ist diese auslegende Erklärung neu gefasst worden (AS 1988 1264 und 1989 276). Im vorliegenden Verfahren braucht die Gültigkeit dieser Erklärungen nicht näher untersucht zu werden, da ihnen für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine Bedeutung zukommt.
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Nach Art. 64 Ziff. 1 EMRK kann jeder Staat bei der Unterzeichnung oder Ratifikation bezüglich bestimmter Vorschriften der Konvention einen Vorbehalt anbringen, soweit ein zu dieser Zeit in seinem Gebiet geltendes Gesetz nicht mit der betreffenden Vorschrift übereinstimmt. Der Gerichtshof und die Kommission haben auslegende Erklärungen den Vorbehalten gleichgestellt (vgl. Urteil Belilos, a.a.O., Ziff. 49; Bericht der Kommission i.S. Temeltasch vom 5. Mai 1982, Ziff. 68-82, DR 31, 120 (68 ff.) = EuGRZ 1983 S. 150 = VPB 48/1984 Nr. 104). Nach der Rechtsprechung können nur solche Gesetze vorbehalten werden, welche im Zeitpunkt des Anbringens des Vorbehaltes in Kraft standen; für neuere Erlasse entfaltet der frühere Vorbehalt keine Wirkung (vgl. Bericht der Kommission i.S. Campbell und Cosans vom 16. Mai 1980, Ziff. 103, Série B vol. 42, S. 12 (39); CD 15, 33 (38); CD 12, 121 (125)). Das im vorliegenden Fall angefochtene Dekret stammt aus der Zeit nach der auslegenden Erklärung bzw. deren Änderung. Es kann auch nicht gesagt werden, es handle sich um ![]() | 24 |
Demnach steht auch die auslegende Erklärung der Schweiz der Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf das angefochtene Landumlegungsdekret nicht entgegen.
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e) Aufgrund dieser Erwägungen ergibt sich, dass das Landumlegungsdekret den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht genügt, soweit der Staatsrat nach Art. 16 und Art. 30 Abs. 2 des Landumlegungsdekretes Beschwerden endgültig entscheidet. Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde ist daher gutzuheissen. Dementsprechend sind die Textstellen, "der endgültig entscheidet" und "Le Conseil d'Etat décide de manière définitive" in Art. 16 beziehungsweise "Der Staatsrat entscheidet endgültig" und "Le Conseil d'Etat statue définitivement" in Art. 30 Abs. 2 aufzuheben. Das Bundesgericht hat nicht von sich aus darüber zu entscheiden, ob damit der Rechtsweg an die Rekurskommission oder an das Verwaltungsgericht geöffnet werde und welche Vorkehren der Gesetzgeber allenfalls zu treffen hat.
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