![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. Mai 1992 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Verwertbarkeit von Zeugenaussagen bei Drogensüchtigen unter Entzug). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Gegen das Urteil des Kassationsgerichtes gelangte B. mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
| 2 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
1. a) Die kantonalen Instanzen haben bei der Verurteilung des Beschwerdeführers belastende Zeugenaussagen berücksichtigt, ![]() | 3 |
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes verfällt eine Behörde in Willkür, wenn sie ihrem Entscheid Tatsachenfeststellungen zugrunde legt, die mit den Akten in klarem Widerspruch stehen (BGE 114 Ia 27 f. E. 3b, 218 E. 2a; BGE 113 Ia 20 E. 3a mit Hinweisen). Im Bereich der Beweiswürdigung besitzt der Richter allerdings einen weiten Ermessensspielraum. Das Bundesgericht greift auf staatsrechtliche Beschwerde hin nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 117 Ia 106 E. b, 139 E. c; BGE 116 Ia 88 E. 2b; BGE 116 II 29 E. 5; BGE 114 Ia 27 f. E. 3b; BGE 105 Ia 190 f.). Willkürlich ist insbesondere eine Beweiswürdigung, welche einseitig einzelne Beweise berücksichtigt (BGE 112 Ia 371 E. 3 mit Hinweis), oder die Abweisung einer Klage mangels Beweisen, obwohl die nicht bewiesenen Tatsachen aufgrund der Vorbringen und des Verhaltens der Parteien eindeutig zugestanden sind (BGE BGE 113 Ia 435 f. E. 4). Soweit mit Hinweis auf das Prinzip der Unschuldsvermutung lediglich die richterliche Beweiswürdigung angefochten werden soll, hat dieses Prinzip keine über Art. 4 BV hinausgehende Bedeutung. Der in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerte Grundsatz "in dubio pro reo" besagt in diesem Zusammenhang lediglich, dass bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld vermutet wird, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist (BGE 116 IV 39 E. 5a).
| 4 |
c) Zeugenaussagen im Strafverfahren zählen nicht zu den zuverlässigsten Beweismitteln. Auf ein Zeugnis darf nur abgestellt werden, wenn feststeht, dass der Zeuge zur wahrheitsgemässen ![]() | 5 |
Erscheint dem Richter die Glaubwürdigkeit einer wichtigen Zeugenaussage aufgrund besonderer Umstände zweifelhaft, hat er weitere Beweise zu deren Klärung zu erheben. Als zusätzliches Beweismittel bietet sich die Einholung eines medizinischen oder psychologischen ![]() | 6 |
7 | |
b) Für die Frage, inwieweit das Gericht angesichts des beeinträchtigten Gesundheitszustandes einer Belastungszeugin auf deren Aussage abstellen darf, kann es weder allein auf die subjektive Sicht des vernehmenden Untersuchungsbeamten ankommen, noch auf den Umstand, ob sich die Einschränkung der Wahrnehmungs- oder Willensfreiheit aus dem Einvernahmeprotokoll ergibt. Entscheidend für die Verlässlichkeit und beweismässige Verwertbarkeit der Aussage ist vielmehr der damalige objektive Gesundheitszustand und die ![]() | 8 |
Grundsätzlich ist es als bedenklich zu bezeichnen, wenn drogenabhängigen Zeugen, die unter Entzugssymptomen leiden, vor der Einvernahme Medikamente zur Beruhigung verabreicht werden. Solches liesse sich allenfalls in dringenden Fällen und unter ärztlicher Aufsicht und Kontrolle rechtfertigen. Falls hingegen davon ausgegangen werden muss, dass ein Drogensüchtiger unter Entzug auch noch starke Medikamente ohne ärztliche Aufsicht eingenommen hat, können seine in diesem Zustand gemachten Aussagen, falls überhaupt, nur noch mit grosser Zurückhaltung berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall kommt noch erschwerend hinzu, dass der die Zeugin begleitende Polizist unbestrittenermassen gleichzeitig mit Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer betraut war, was die Gefahr einer Einflussnahme jedenfalls nicht ganz ausschliesst. Die Erwägungen im angefochtenen Entscheid wären dahingehend zu präzisieren, dass es sich nicht um irgendeinen begleitenden Polizeibeamten gehandelt hat. Die vom gleichen Polizisten verabreichten Medikamente wurden von der unter Entzugssymptomen leidenden Zeugin zudem auf nüchternen Magen eingenommen. Gemäss Herstellerangaben ist die Dosierung von Seresta "dem individuellen Ansprechen jedes einzelnen Patienten" anzupassen. Drei Tabletten Seresta, enthaltend 45 mg Oxazepam, stellen bereits eine relativ hohe Dosierung dar; 45-60 mg pro Tag wären nach Herstellerangaben nämlich auf mehrere Einzeldosen zu verteilen. Sollten gar drei Tabletten Seresta forte à je 50 mg Wirkstoff eingenommen worden sein, läge darin gemäss Herstellerangaben bereits die zulässige tägliche Höchstdosis, die indessen ebenfalls auf mehrere Einzeldosen verteilt werden müsste. Bei Überempfindlichkeit gegenüber Benzodiazepinen wird eine Kontraindikation von Seresta erwähnt. Schon für nicht zusätzlich gesundheitlich beeinträchtigte Patienten wird ausserdem vor "Benommenheit oder Schläfrigkeit" gewarnt; ebenso sind "Schwindel, Kopfschmerzen und Ohnmachtsanfälle" möglich. Der Hersteller weist auch auf die Gefahr weiterer unerwünschter Nebenwirkungen (wie "Teilnahmslosigkeit" usw.) hin. Schliesslich wird noch ausdrücklich vor Interaktionen bei gleichzeitiger Verabreichung von Seresta mit "Alkohol, Schlafmittel, Tranquilizer, Antidepressiva etc." gewarnt, "da sich die hemmenden zentralen ![]() | 9 |
Schon aus der Sicht des medizinischen Laien liegt unter diesen Umständen die Vermutung nahe, dass jedenfalls die kombinierte Wirkung von Drogensucht, Entzugserscheinungen und einer starken Dosis von Beruhigungsmitteln auf das Bewusstsein, die Wahrnehmungsfähigkeit und die Willensbildung der Zeugin im vorliegenden Fall einen erheblichen Einfluss gehabt haben könnte. Aus den Akten geht aber weder hervor, welche Handelsform des Medikamentes Seresta ("Seresta", "Seresta Expidet", "Seresta forte") der Zeugin verabreicht worden ist, noch wie aus medizinischer Sicht das Risiko einer Bewusstseinstrübung bzw. einer eingeschränkten Willensbildung beurteilt werden müsste.
| 10 |
c) Nach dem Gesagten widerspricht es Art. 4 BV, auf die belastenden Aussagen der Zeugin L. vom 16. November 1989 mit blossem Hinweis darauf abzustellen, der Zustand der Zeugin sei dem einvernehmenden Untersuchungsrichter nicht bekannt gewesen bzw. der Verdacht der fehlenden Einvernahmefähigkeit sei nicht erstellt. Es wird im angefochtenen Urteil auch eingeräumt, die Zeugin habe sich "in einem Zustand befunden (...), der grundsätzlich geeignet ist, entsprechende Einschränkungen zu bewirken". Falls die kantonalen Instanzen unter den vorliegenden Umständen auf die betreffenden belastenden Aussagen abstellen wollten, hätten sie vorgängig durch medizinische Expertise abzuklären, welchen Einfluss die vom begleitenden Polizisten abgegebenen Tabletten auf die Einvernahmefähigkeit der Zeugin im konkreten Fall hatten bzw. haben konnten. Entsprechend dieser Beurteilung wären die Aussagen der Zeugin neu zu würdigen, sofern sie überhaupt noch verwertbar erschienen. Bei dieser Würdigung wäre auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der gleiche Polizist die Zeugin anlässlich der Befragung vom 16. November 1989 begleitet hat, der auch mit Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer betraut war. Nötigenfalls liesse sich auch prüfen, inwiefern neuerliche ergänzende Einvernahmen möglich wären und angezeigt erschienen.
| 11 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |