BGE 118 Ia 101 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 28. Januar 1992 i.S. A. R. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 5 Ziff. 5 EMRK, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 59 KV/ZH (rasches und billiges Verfahren zur gerichtlichen Beurteilung von Haftentschädigungsansprüchen). | |
Sachverhalt | |
Die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich erklärte mit Urteil vom 8. Februar 1991 A. R. des Verweisungsbruches schuldig und bestrafte ihn mit fünf Monaten Gefängnis, abzüglich 101 Tage Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Gleichzeitig stellte das Obergericht fest, dass im vorliegenden Fall Art. 5 Ziff. 3 EMRK verletzt worden sei, weil entgegen dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Jutta Huber vom 23. Oktober 1990 der die Untersuchung führende Bezirksanwalt den Angeschuldigten in Untersuchungshaft versetzt und hernach Anklage gegen ihn erhoben habe. Das Obergericht trat jedoch auf das Begehren des Angeklagten um Zusprechung einer Entschädigung wegen der Konventionsverletzung mangels Zuständigkeit nicht ein.
| 1 |
Hiegegen gelangte A. R. mit kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des Kantons Zürich. Dieses wies die Beschwerde am 10. September 1991 ab, soweit es darauf eintrat. Es lehnte die Auffassung von A. R. ab, wonach der Strafrichter diesem von Amtes wegen eine Entschädigung wegen Verstosses gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK hätte zusprechen müssen. Seit dem Inkrafttreten des kantonalen Gesetzes über die Haftung des Staates und der Gemeinden sowie ihrer Behörden und Beamten (Haftungsgesetz) vom 14. September 1969 seien die kantonalen Zivilgerichte zur Beurteilung des von A. R. geltend gemachten Genugtuungsanspruches zuständig.
| 2 |
Gegen das Urteil des Kassationsgerichtes gelangte A. R. wegen Verletzung der Art. 5 Ziff. 5 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK sowie von Art. 59 KV/ZH mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Dieses weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.
| 3 |
Aus den Erwägungen: | |
4. a) Der Beschwerdeführer rügt, Art. 5 Ziff. 5 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK i.V.m. Art. 59 KV/ZH seien durch das kantonale Kassationsgericht verletzt worden. Aus den Bestimmungen ergebe sich nämlich, dass der Strafrichter von Amtes wegen über Genugtuungsansprüche wegen Verletzung einer EMRK-Vorschrift (hier: Art. 5 Ziff. 3 EMRK) zu befinden habe. Nur dadurch sei innert angemessener Frist bzw. mittels eines raschen und wohlfeilen Verfahrens ein Entscheid über die Genugtuungsansprüche sichergestellt. In Beachtung der Prädikate "billig, angemessen, wohlfeil und rasch" verbiete sich die von der Vorinstanz entwickelte Praxis, wonach für entsprechende Genugtuungs- und Entschädigungsbegehren im Kanton Zürich die Zivilgerichte zuständig seien.
| 4 |
b) Art. 5 Ziff. 5 EMRK bestimmt, dass jeder, der entgegen den Bestimmungen von Art. 5 EMRK von Festnahme oder Haft betroffen worden ist, Anspruch auf Schadenersatz habe. Darunter fällt auch immaterieller Schaden im Sinne des vom Beschwerdeführer geltend gemachten Genugtuungsanspruches (BGE 113 Ia 183 E. 3 mit Hinweisen; vgl. zur Praxis des Bundesgerichtes auch MARC FORSTER, EMRK als Argument, in: Prätor 1988/89, S. 43; zur Praxis der Strassburger Organe FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl 1985, N 134 zu Art. 5 EMRK). Die Anwendung des Art. 5 Ziff. 5 EMRK setzt die Verletzung einer Bestimmung von Ziff. 1-4 des Art. 5 EMRK voraus (BGE 113 Ia 182 E. 2d mit Hinweisen). Dies ist hier unbestrittenermassen zu bejahen. Art. 5 Ziff. 5 EMRK regelt hingegen die Frage nicht, in welchem Verfahren und in welcher Zuständigkeit die entsprechenden Ansprüche geltend gemacht und entschieden werden müssen. Mit der Lehre ist zu schliessen, dass die Regelung des Verfahrens und der Zuständigkeit den einzelnen Ländern freigestellt ist (vgl. FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N 131-133, insbes. S. 102 Fn. 91; STEFAN TRECHSEL, Die europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 275). Die zürcherische Regelung in den §§ 19 und 23 Haftungsgesetz, wonach diesbezüglich die kantonalen Zivilgerichte zuständig sind, steht deshalb zu Art. 5 Ziff. 5 EMRK nicht im Widerspruch. Die Bestimmungen des kantonalen Haftungsgesetzes finden gemäss dessen § 5 immer dann Anwendung, wenn die in Frage kommende Haftung des Staates nicht durch Bundesrecht oder andere kantonale Gesetze geregelt ist. Der Beschwerdeführer nennt denn auch insbesondere keine kantonalen Normen, welche die erkennenden Strafgerichte als für die Beurteilung von entsprechenden Genugtuungsansprüchen zuständig erklären würden. Eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 5 EMRK liegt demnach nicht vor.
| 5 |
c) Der Beschwerdeführer ruft für seinen Standpunkt auch zu Unrecht Art. 59 KV/ZH an. Danach ist das Prozessverfahren im Sinne rascher und wohlfeiler Erledigung zu ordnen. Diese Bestimmung steht aber ihrerseits unter dem Vorbehalt von Art. 58 Abs. 1 KV/ZH, wonach das Gesetz die Kompetenz und das Verfahren der Gerichte zu regeln hat. Gestützt darauf durfte der Kanton Zürich im Haftungsgesetz ohne Verletzung von Art. 59 KV/ZH die Zivilgerichte für zuständig erklären, Genugtuungsforderungen wegen EMRK-Verletzungen in Strafprozessen zu beurteilen.
| 6 |
d) Entgegen der Rüge des Beschwerdeführers liegt in dieser zürcherischen Regelung auch keine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK i.V.m. Art. 59 KV/ZH, ohne dass hier das Verhältnis dieser beiden Bestimmungen zueinander näher untersucht werden müsste. Diese Bestimmungen verlangen eine rasche Verfahrenserledigung bzw. eine solche innerhalb einer angemessenen Frist. Die gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK erhebliche Frist wird erst durch die Klageerhebung ausgelöst; hängt die Anrufung eines Gerichtes, wie im Falle des zürcherischen Haftungsgesetzes, von der Durchführung eines Vorverfahrens ab, beginnt die Frist bereits mit dessen Einleitung zu laufen (vgl. FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N 98 zu Art. 6 EMRK mit Hinweisen). Eine formelle Klageerhebung, geschweige denn die Einleitung des Vorverfahrens, hat der Beschwerdeführer aber bis anhin unterlassen; dies obschon er Zuständigkeit und Verfahren, wie aus den kantonalen Akten ergeht, genau kennt. Es wäre ihm möglich und zumutbar gewesen, dieses Verfahren schon längst korrekt einzuleiten, wusste er doch bereits im Zeitpunkt des Strassburger Urteils i.S. Jutta Huber vom 23. Oktober 1990 (EGMR Série A, vol. 188), dass entgegen diesem Entscheid der gleiche Bezirksanwalt am 6. Juli 1990 Anklage erhoben hat, der vorher gegen ihn die Untersuchungshaft angeordnet hatte. Wer prozessuale Handlungen versäumt, kann sich folgerichtig nicht auf das Beschleunigungsgebot berufen, gleichviel, ob er sich auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK oder auf Art. 59 KV/ZH stützt. Hätte sich der Beschwerdeführer an die kantonalen Zuständigkeitsbestimmungen gehalten, wäre es durchaus möglich gewesen, einen Entscheid über seine Genugtuungsforderung schon vor Erlass des angefochtenen Entscheides zu erwirken.
| 7 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |