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22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. Juli 1992 i.S. X. gegen Obergericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde). | |
Regeste |
Art. 4 BV; Schlüssigkeit und Beweiskraft eines technischen Gutachtens (Brandprobenanalyse) im Strafprozess. | |
Sachverhalt | |
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Gegen das Urteil des Bezirksgerichtes erhob X. Berufung an das Obergericht des Kantons Thurgau, während die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau Anschlussberufung erklärte. Das Obergericht ordnete darauf eine Expertiseergänzung mit mündlicher Expertenbefragung an. Mit Urteil vom 10. Dezember 1991 bestätigte das Obergericht - mit Ausnahme eines Anklagepunktes betreffend Vernachlässigung von Tieren - die Schuldsprüche und reduzierte die erstinstanzlich ausgesprochene Busse auf Fr. 4'500.--. Eine dagegen von X. erhobene staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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c) Der gerichtliche Experte teilt dem Richter auf Grund seiner Sachkunde entweder Erfahrungs- oder Wissenssätze seiner Disziplin mit, erforscht für das Gericht erhebliche Tatsachen oder zieht sachliche Schlussfolgerungen aus bereits bestehenden Tatsachen. Er ist Entscheidungsgehilfe des Richters, dessen Wissen er durch besondere Kenntnisse aus seinem Sachgebiet ergänzt (vgl. unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 29. März 1990 i.S. A. A., E. 7c, S. 17; ROBERT HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen ![]() | 4 |
Nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 6 EMRK hat der Angeschuldigte grundsätzlich Anspruch auf Unparteilichkeit des bestellten Experten. So kann es problematisch erscheinen, wenn das Gericht einen Experten benennt, dessen Feststellungen zur Einleitung des Strafverfahrens geführt haben. Der Anspruch auf Waffengleichheit verlangt jedoch nicht, dass das Gericht auf Verlangen des Angeschuldigten eine Zusatzexpertise veranlasst, falls das erste Gutachten die Anklage bestätigt (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 28. August 1991 i.S. Brandstetter c. A, EGMR Série A, vol. 211, Ziff. 46, 55 ff.).
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Erscheint dem Richter die Schlüssigkeit einer Expertise in wesentlichen Punkten zweifelhaft, hat er nötigenfalls ergänzende Beweise zur Klärung dieser Zweifel zu erheben. Als zusätzliches Beweismittel bietet sich insbesondere die Ergänzung des Gutachtens oder die Anordnung einer Oberexpertise an. Das Abstellen auf eine nicht schlüssige Expertise bzw. der Verzicht auf die gebotenen zusätzlichen Beweiserhebungen kann dagegen einen Verstoss gegen Art. 4 BV beinhalten (vgl. HELFENSTEIN, a.a.O., S. 251 ff.; MARK PIETH, Der Beweisantrag des Beschuldigten im Schweizer Strafprozessrecht, Diss. BS 1984, S. 240; SCHMID, a.a.O., N 671; ZR 85 (1986) Nr. 35). In technischen Fragen hält sich das Bundesgericht im Rahmen seiner Kognition an die Auffassung des Experten, sofern diese nicht offensichtlich widersprüchlich erscheint oder auf irrtümlichen tatsächlichen Feststellungen beruht (BGE 110 Ib 56 E. 2; 101 Ib 408).
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b) Der Beschwerdeführer hatte im Berufungsverfahren die Ansicht vertreten, bei der Heuprobenentnahme an der Brandstelle sei nicht sachgerecht vorgegangen worden. Mit Hinweis auf die entsprechenden Darlegungen des Experten wird diese Ansicht im angefochtenen Urteil verworfen. Insbesondere sei es wegen Fäulnisgefahr sachgerecht gewesen, die Proben zu trocknen und nicht in nassem Zustand zu belassen. Der Einwand des Beschwerdeführers, es könne nicht mehr festgestellt werden, ob die Proben aus der Heuernte 1988 oder 1989 stammten, wurde vom Obergericht als nicht erheblich eingestuft, da es nach den Ausführungen des Experten irrelevant sei, ob in der Heuprobe auch altes Heu gewesen sein könnte. Dass es sich um altes Heu gehandelt habe, sei zudem angesichts des Gärgeruches und des überwiegenden Anteils an sogenannt "termophilen" Keimen, die sich laut Expertise bei normalen Temperaturen nicht mehr vermehren können, unwahrscheinlich. Der Ansicht des Beschwerdeführers, der Nachweis einer Selbsterhitzung des Heues durch Übergärung sei mangels Glutkessels und Brandkanälen nicht erbracht, werden ebenfalls die Darlegungen des Experten entgegengestellt. Danach seien bei einem zusammengestürzten abgebrannten Heustock Glutkessel und Brandkanäle nicht in jedem Fall nachweisbar. Gestützt auf die Analyse der Proben und deren Bewertung durch den Experten hat das Obergericht den Schluss gezogen, dass vor dem Brand zumindest mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit eine Übergärung des Heustockes eingetreten sein muss. Berücksichtigt wurden dabei noch weitere Umstände, insbesondere das Fehlen einer funktionstüchtigen Heubelüftungsanlage, der von verschiedenen Zeugen vor dem Brand wahrgenommene starke Gärgeruch sowie die für Übergärung charakteristische Farbe und Konsistenz der vorgefundenen Heureste.
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c) Der Beschwerdeführer wendet dem gegenüber ein, die Beweiswürdigung des Obergerichtes sei unhaltbar. Es sei eine ungenügende Anzahl Proben genommen worden, das Probenergebnis sei für die gezogenen Schlüsse nicht ausreichend, sowie die Folgerung, dass die Selbsterhitzung des Heues in engeren Betracht zu ziehen ist und zur Selbstentzündung des Heustockes geführt hat, sei unhaltbar. Die entsprechenden Annahmen, auch soweit sie sich auf die Darlegungen des Experten stützten, stünden dabei teilweise in Widerspruch zu einer früheren wissenschaftlichen Publikation desselben Experten.
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Die Einwendungen des Beschwerdeführers lassen die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil indessen keineswegs als unhaltbar erscheinen.
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aa) Der Beschwerdeführer behauptet unter anderem, gemäss der von ihm zitierten Abhandlung liege eine Selbstentzündung im Bereiche des Möglichen, falls "die mesophilen Keime in der Mehrzahl" sind. Diese Interpretation ist offensichtlich falsch. Vielmehr trifft genau das Gegenteil zu. Im zitierten Artikel wird dargelegt, dass "mesophile" Mikroorganismen Raumtemperaturen bevorzugen, während "thermophile" Keime Lebensbedingungen von ca. 40-70o C vorziehen bzw. tolerieren. Sodann heisst es wörtlich:
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"Ist der Hauptteil des festgestellten Keimbesatzes mesophiler Art, scheidet eine Selbstentzündung des fraglichen Futtermittels aus, während bei einem starken Bewuchs mit thermophilen bzw. -toleranten Arten eine solche Brandursache im Bereich des Möglichen liegt (WALTER BRÜSCHWEILER/RUDOLF SCHÖNBÄCHLER, Erfahrungen bei der mikrobiologischen Untersuchung von Heu bei Verdacht auf Selbstentzündung, Archiv für Kriminologie 170 (1982) 106 ff., S. 107)."
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bb) Weiter bezeichnet der Beschwerdeführer die untersuchten Proben als "unauswertbar", weil lediglich eine gutachtlich verwertbare Probe vorliege, deren Keimbesatz zu gering sei, als dass signifikante Rückschlüsse daraus abgeleitet werden könnten. Zur Begründung dieser Ausführungen stützt sich der Beschwerdeführer wiederum auf den zitierten Aufsatz.
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Dazu ist vorweg zu bemerken, dass es entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht zwingend erscheinen muss, nur von einer einzigen verwertbaren Probe auszugehen. Nach Darstellung des ![]() | 16 |
Wie es sich damit im einzelnen verhält, braucht hier indessen nicht entschieden zu werden. Der Experte ist im vorliegenden konkreten Fall jedenfalls ausdrücklich von einer genügenden Anzahl von Proben mit ausreichend signifikantem Keimbesatz ausgegangen. Er hatte anlässlich der Expertenbefragung Gelegenheit, seine Meinung ausführlich zu begründen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Experte als Mitautor der betreffenden Publikation in besonderem Masse fachlich legitimiert und befähigt erscheint, die allgemeinen Ausführungen in seiner Publikation zu erläutern und, wenn nötig, in Hinblick auf den vorliegenden konkreten Fall zu relativieren. Zudem soll der Richter grundsätzlich nur aus triftigen Gründen von den Schlussfolgerungen des Experten zum konkreten Fall abweichen (BGE 107 IV 8; vgl. auch § 110 Abs. 2 i.V.m. 161 StPO/TG). Es ![]() | 17 |
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