BGE 118 Ia 336 | |||
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46. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17. September 1992 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen und Kantonsgericht St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Interkantonale Rechtshilfe in Strafsachen; Zuständigkeit zur Beurteilung eines Schadenersatzbegehrens wegen ungerechtfertigter oder unverschuldeter Untersuchungshaft. Art. 352 Abs. 1 und Art. 355 Abs. 2 StGB. |
2. Ist es zwar fraglich, aber nicht offensichtlich unzutreffend, dass der ersuchende Kanton zur Anordnung der Untersuchungshaft zuständig ist, so sind weder der Haftbefehl noch das darauf gestützte Rechtshilfebegehren nichtig (E. 2). | |
Sachverhalt | |
In den Jahren 1981 bis 1989 führten die Untersuchungsbehörden des Sottoceneri in Lugano in zwei Fällen Strafuntersuchungen gegen S., welcher in St. Gallen wohnte. Am 13. Januar 1984 erliess die Untersuchungsrichterin der Giurisdizione sottocenerina gegen S. einen Haftbefehl. Mit einem Rechtshilfebegehren wurde der Untersuchungsrichter für Wirtschaftsdelikte des Kantons St. Gallen ersucht, den Haftbefehl zu vollziehen und den Verhafteten in den Kanton Tessin zu überstellen. Am 17. Januar 1984 wurde S. in St. Gallen verhaftet und unverzüglich in den Kanton Tessin überführt, wo er bis zum 17. Mai 1984 in Untersuchungshaft blieb. Am 31. Oktober 1984 sprach die Corte delle Assise criminali in Lugano S. in einem der beiden Verfahren frei. Das andere Strafverfahren wurde am 12. Juli 1989 vom Procuratore pubblico della Giurisdizione sottocenerina eingestellt.
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Am 29. Juni 1990 reichte S. bei der Anklagekammer des Kantons St. Gallen ein Begehren um Haftentschädigung ein. Die Anklagekammer wies das Begehren am 26. September 1991 ab. S. zog den Entscheid der Anklagekammer an die Strafkammer des Kantonsgerichts weiter. Diese bestätigte mit Urteil vom 5. Mai 1992 den Entscheid der Anklagekammer.
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Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Juni 1992 stellte S. den Antrag, das Urteil der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 5. Mai 1992 sei aufzuheben und die Sache zur Festsetzung der Entschädigungshöhe an die Anklagekammer zurückzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Der Beschwerdeführer rügt als Verletzung von Art. 5 Ziff. 5 EMRK, Art. 30 Abs. 3 der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890 (KV; SR 131.225, sGS 111.11) und Art. 216 des kantonalen Gesetzes vom 9. August 1954 über die Strafrechtspflege (StP; sGS 962.1), dass ihm die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen keine Entschädigung für die in St. Gallen vollzogene Verhaftung und die danach im Kanton Tessin ausgestandene Untersuchungshaft zugesprochen hatte.
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a) Nach Art. 5 Ziff. 5 EMRK hat jeder, der entgegen der Bestimmungen dieses Artikels festgenommen oder in Haft gesetzt worden ist, Anspruch auf Schadenersatz. Art. 5 Ziff. 1 EMRK lässt eine Verhaftung nur zu "auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise". Entsprechend sieht Art. 30 Abs. 3 KV einen Anspruch des Betroffenen auf Entschädigung für ungesetzliche oder unverschuldete Haft vor, und Art. 216 Abs. 1 StP konkretisiert diesen Anspruch wie folgt:
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Art. 216.
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Ungesetzlicher oder unverschuldeter Freiheitsentzug gibt dem Betroffenen gegenüber dem Staat Anspruch auf Schadenersatz und, wenn die Umstände es rechtfertigen, auf Genugtuung.
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Während nach Art. 5 Ziff. 5 EMRK der Betroffene nur im Falle gesetzwidriger Haft Schadenersatz verlangen kann, steht ihm gemäss Art. 216 StP ein solcher Anspruch auch dann zu, wenn zwar die gesetzlichen Voraussetzungen für die Untersuchungshaft erfüllt waren, aber den Verhafteten daran keine Schuld trifft. Das kann der Fall sein, wenn die Strafuntersuchung eingestellt oder der Verhaftete freigesprochen wird, ohne dass er auf vorwerfbare Art und Weise Anlass zu seiner Verhaftung gegeben hätte.
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Der Beschwerdeführer wurde in einem Verfahren von allen Anklagepunkten freigesprochen, und das andere Verfahren wurde eingestellt. Ausserdem geht aus den Akten kein Hinweis darauf hervor, dass er die Untersuchungshaft durch eigenes Verschulden verursacht hätte. Die Strafkammer wirft dem Beschwerdeführer denn auch gar nicht vor, er hätte die Untersuchungshaft selbst verschuldet. Sie macht im angefochtenen Urteil aber geltend, er hätte das Schadenersatzbegehren im Kanton Tessin stellen müssen, da er aufgrund eines Rechtshilfebegehrens verhaftet worden sei, für welches der Kanton Tessin die Verantwortung tragen müsse.
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b) Die Kantone sind gemäss Art. 352 Abs. 1 StGB unter sich zur Rechtshilfe verpflichtet. Art. 355 Abs. 2 StGB erklärt das Prozessrecht des Kantons, in dem die Handlung erfolgt, für anwendbar bei Amtshandlungen, welche - mit Zustimmung dieses Kantons - von Behörden eines anderen Kantons vorgenommen werden. Das Bundesgericht schloss aus dieser Bestimmung, der ersuchte Kanton habe sein eigenes Prozessrecht anzuwenden, wenn er Rechtshilfe leistet. Immerhin darf durch die Anwendung dieses Prozessrechts die Hilfe nicht derart beschränkt werden, dass sie dem bundesrechtlichen Begriff der Rechtshilfe, wie Art. 352 StGB sie auffasst, nicht entspricht (BGE 71 IV 174 E. 1). Gemäss dieser Rechtsprechung ist das Prozessrecht des zur Rechtshilfe verpflichteten Kantons auch massgebend für die formelle und materielle Beurteilung des gegen eine Untersuchungshandlung erhobenen Rechtsmittels. Insbesondere betrachtete es das Bundesgericht als formelle Rechtsverweigerung und damit als Verletzung von Art. 4 BV, wenn die Rechtsmittelinstanz des ersuchten Kantons die Beschwerdemöglichkeit gegen eine Rechtshilfeverfügung trotz Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Einschränkung nur in bezug auf den Vollzug der verlangten Massnahme zulassen will (BGE 117 Ia 9, mit Hinweisen).
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Sowohl im Kanton St. Gallen als auch im Kanton Tessin wird der Anspruch auf Schadenersatz für ungesetzlichen oder unverschuldeten Freiheitsentzug in der Strafprozessordnung geregelt (St. Gallen: Art. 216-217 StP, Tessin: Art. 267-273 des Codice di procedura penale vom 10. Juli 1941 (CPP)). Demnach gehören die Bestimmungen über den Schadenersatzanspruch für unverschuldete oder rechtswidrige Haft zum Strafprozessrecht. Da nach der erwähnten Rechtsprechung bei der Leistung der interkantonalen Rechtshilfe das Strafprozessrecht des ersuchten Kantons anzuwenden ist, wäre demgemäss der Anspruch des Beschwerdeführers nach dem Recht des Kantons St. Gallen zu beurteilen, und dieser Kanton wäre auch zu angemessenem Schadenersatz zu verpflichten.
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c) Das Bundesgericht erkannte indessen, dass die Gerichtsstandsbestimmungen der Art. 346 ff. StGB, welche die interkantonale Zuständigkeit zur "Verfolgung und Beurteilung" von der kantonalen Gerichtsbarkeit unterstellten strafbaren Handlungen regeln, für den Schadenersatzanspruch wegen ungesetzlicher oder unverschuldeter Haft nicht gelten. Der allfällige Anspruch auf Entschädigung für Nachteile aus strafprozessualen Massnahmen folgt hier weder aus Bundesstrafrecht noch aus Bundesstrafprozessrecht, sondern aus dem kantonalen öffentlichen Recht. Das Verfahren, in welchem dieser Anspruch durchgesetzt werden kann, ist kein eigentliches Strafverfahren. Die Berechtigung und Verpflichtung zur Verfolgung und Beurteilung (Art. 351 StGB, Art. 264 BStP) umfasst nicht auch den Entscheid über die Entschädigung für Nachteile wegen strafprozessualer Massnahmen (BGE 108 Ia 17 E. 3). Demnach ist die Vorschrift von Art. 355 Abs. 2 StGB beim Entscheid über den Schadenersatzanspruch nicht anwendbar; die Entschädigung für ungerechtfertigte oder unverschuldete Haft richtet sich nicht ohne weiteres nach dem Recht des ersuchten Kantons.
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Es liegt vielmehr nahe, dass der für die Anordnung von Zwangsmassnahmen verantwortliche Kanton entscheidet, ob und inwieweit für deren allfällige nachteilige Folgen nach seinem eigenen Recht eine Entschädigung zu zahlen sei. Der Kanton, dessen Behörden Zwangsmassnahmen anordneten, hat nach Massgabe seines Rechts die allfällige Entschädigung zu bezahlen und darf und muss daher auch darüber befinden. In dieser Beziehung besteht kein Unterschied zur Verantwortlichkeit für rechtswidrige Schädigung (BGE 108 Ia 17, mit Hinweisen).
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Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführer aufgrund eines Haftbefehls verhaftet worden, welcher von einer Untersuchungsrichterin im Kanton Tessin ausgestellt worden ist. Die Untersuchungshaft wurde anschliessend im Kanton Tessin vollzogen. Deshalb ist der Kanton Tessin für die Massnahme verantwortlich, und der Beschwerdeführer hätte sein Begehren um Schadenersatz in diesem Kanton stellen müssen.
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a) Nichtigen Verwaltungsverfügungen und damit auch einem nichtigen Haftbefehl geht jede Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit ab. Die Nichtigkeit ist jederzeit und von sämtlichen staatlichen Instanzen von Amtes wegen zu beachten (BGE 116 Ia 217 E. 2a, mit Hinweis). Nichtigkeit einer Verfügung wird indessen nur angenommen, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird (BGE 116 Ia 219 E. c, mit Hinweis). Als Nichtigkeitsgründe fallen hauptsächlich schwerwiegende Verfahrensfehler sowie die Unzuständigkeit der verfügenden Behörde in Betracht; dagegen haben inhaltliche Mängel nur in seltenen Ausnahmefällen die Nichtigkeit einer Verfügung zur Folge (BGE 104 Ia 117 E. 2c, mit Hinweis).
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b) Es trifft zwar zu, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen sich mit Schreiben vom 13. Juli 1983 für das erste Strafverfahren (dasjenige, welches später eingestellt wurde) zuständig erklärt hatte. Dennoch stand im Januar 1984, als der Haftbefehl der Untersuchungsrichterin aus dem Kanton Tessin in St. Gallen eintraf, keineswegs fest, dass die Tessiner Behörden für die Strafuntersuchung nicht zuständig wären. Nach Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB sind die Behörden des Ortes, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt worden ist, auch für die Verfolgung und die Beurteilung der andern Taten zuständig. Während das erste Strafverfahren wegen Wuchers (in einem einzigen Fall) geführt wurde, warfen im zweiten Strafverfahren die Tessiner Behörden dem Beschwerdeführer unter anderem gewerbsmässigen Betrug vor. Die Strafdrohung für (nicht gewerbsmässigen) Wucher lautet gemäss Art. 157 Ziff. 1 StGB auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis, während für gewerbsmässigen Betrug in Art. 148 Abs. 2 StGB Zuchthaus bis zu zehn Jahren und Busse vorgesehen sind. Beim gewerbsmässigen Betrug handelt es sich somit um dasjenige Delikt, für welches die schwerere Strafe angedroht ist. Im Januar 1984 schienen daher die Tessiner Behörden für zuständig, beide Strafverfahren zu führen. Der Haftbefehl der Tessiner Untersuchungsrichterin war unter diesen Umständen höchstens anfechtbar, keineswegs aber nichtig. Die Behörden des Kantons St. Gallen haben deshalb den Haftbefehl zu Recht vollzogen. Damit liegt kein Grund vor, aus welchem der Kanton St. Gallen gegenüber dem Beschwerdeführer zu Schadenersatz verpflichtet wäre.
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