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37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17. März 1993 i.S. T. gegen Kreisgerichtsausschuss Disentis, Staatsanwaltschaft und Kantonsgericht Graubünden (Ausschuss) (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; öffentliche Verhandlung in strafrechtlichem Berufungsverfahren. |
2. Angesichts der gesamten Umstände stellt das Absehen von einer mündlichen Verhandlung im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar (E. 2d). | |
Sachverhalt | |
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T. gelangte an das Kantonsgericht des Kantons Graubünden und beantragte Freispruch von Schuld und Strafe. Er ersuchte darum, es sei ein Augenschein vorzunehmen, ein weiterer Zeuge sowie er selber seien gerichtlich einzuvernehmen. Er machte im wesentlichen eine willkürliche Beweiswürdigung geltend, insbesondere in bezug auf den Erlegungsort und die Marschzeiten im Gelände, und beteuerte, nicht der fehlbare Jäger gewesen zu sein.
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Der Ausschuss des Kantonsgerichts Graubünden wies die Berufung ab. Er erachtete die Beweisanträge betreffend Zeugeneinvernahmen als unerheblich und sah angesichts der bisherigen Beteiligung am ganzen Verfahren von einer gerichtlichen Einvernahme des Angeschuldigten ab. In der Sache selbst gelangte das Gericht unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse zum Schluss, dass es sich beim fehlbaren Jäger klarerweise um den angeschuldigten T. handle.
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Gegen dieses Urteil hat T. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben und u.a. dessen Aufhebung verlangt. Er beruft sich u.a. auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK und beanstandet, dass der Kantonsgerichtsausschuss entgegen seinem Antrag ohne mündliche Verhandlung entschieden hat.
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Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK gut, soweit auf sie eingetreten werden konnte.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Es steht ausser Zweifel, dass das Verfahren vor dem Kantonsgerichtsausschuss eine Strafsache im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK betrifft. Ein Ausschlussgrund gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK oder nach ![]() | 7 |
Im vorliegenden Fall stellt sich daher die Frage, ob - nach Abhaltung einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung vor dem Kreisgerichtsausschuss Disentis als erster Instanz - der Kantonsgerichtsausschuss als Berufungsinstanz gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK eine mündliche Verhandlung hätte durchführen müssen.
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b) Im Strafverfahren hat der Angeschuldigte nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise und öffentlich gehört werde. Dieser Anspruch ist Teilgehalt der umfassenden Garantie auf ein faires Verfahren. Die Garantie auf einen "fair trial" bezieht sich nicht bloss auf das erstinstanzliche Strafverfahren, sondern erstreckt sich auf die Gesamtheit eines konkreten Verfahrens inklusive des gesamten Rechtsmittelweges. Soweit im innerstaatlichen Recht Rechtsmittelinstanzen vorgesehen sind (bzw. nach Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK vorgesehen werden müssen), ist die Einhaltung der Garantien auf einen "fair trial" auch in oberen Instanzen sicherzustellen (Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Ekbatani vom 26. Mai 1988, Ziff. 24, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A vol. 134; Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte i.S. Pardo vom 1. April 1992, Ziff. 49; i.S. Helmers vom 6. Februar 1990, Ziff. 44, Série A vol. 212-A = EuGRZ 1991 S. 467).
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Die Art der Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf Verfahren vor Rechtsmittelinstanzen hängt von den Besonderheiten des konkreten Verfahrens ab. Es ist insbesondere unter Beachtung des Verfahrens als Ganzem und der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob vor einer Berufungsinstanz eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist (Urteil i. S. Helmers vom 29. Oktober 1991, Ziff. 31 f., Série A vol. 212-A = EuGRZ 1991 S. 415; Urteil Ekbatani, a.a.O., Ziff. 24). Hierfür ist im einzelnen auf die Natur des Rechtsmittelsystems, auf die Befugnisse der Berufungsinstanz sowie die Eigenart der vorgetragenen Rügen und deren Behandlung abzustellen (Urteil Helmers, a.a.O., Ziff. 32; Urteil Ekbatani, a.a.O., Ziff. 28). Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass selbst ein Berufungsgericht mit freier Kognition hinsichtlich Tat- und Rechtsfragen nicht in allen Fällen eine Verhandlung durchführen muss, da auch andere ![]() | 10 |
c) In Anbetracht dieser Kriterien gilt es für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerdesache die Natur des Berufungsverfahrens vor dem Kantonsgerichtsausschuss sowie die im einzelnen unterbreiteten Rügen darzustellen.
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Im Anschluss an das Urteil des Kreisgerichtsausschusses Disentis hat der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 141 StPO beim Kantonsgerichtsausschuss Berufung eingelegt. Das Gericht kann nach Art. 145 Abs. 3 StPO auf Antrag oder von Amtes wegen in allen Fällen das Beweisverfahren ergänzen oder wiederholen oder die Untersuchung ergänzen lassen. Wird im Berufungsverfahren eine Änderung des vorinstanzlichen Urteils zuungunsten des Verurteilten oder ![]() | 12 |
Mit seiner Berufung hat der Beschwerdeführer dem Kantonsgerichtsausschuss keine Rechtsfragen, sondern im wesentlichen nur Sachverhaltsfragen unterbreitet. Er bestritt die Tat, der fehlbare Jäger gewesen zu sein. Hierfür zog er mit verschiedenen Argumenten die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Anzeiger und hauptsächlichen Zeugen C. und M. in Frage; er wies auf Widersprüche über die Orts- und Distanzangaben hin und bezweifelte die Möglichkeit, dass sie ihn hätten erkennen können. Schliesslich stellte er in Abrede, dass er die vom Kreisgericht zugrunde gelegten Distanzen in den angenommenen Zeiten habe zurücklegen können.
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d) Für die Beurteilung der Rüge, ob Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt worden ist, kann vorerst festgehalten werden, dass im Verfahren vor dem Kantonsgerichtsausschuss eine reformatio in peius ausgeschlossen war, da ausschliesslich der Beschwerdeführer Berufung eingelegt hatte. Dieser Umstand vermag für sich allein das Absehen von einer mündlichen Verhandlung nicht zu rechtfertigen. Die Strafsache ist für den Beschwerdeführer keine Geringfügigkeit; die Busse von Fr. 1'000.-- und das Jagdverbot während sechs Jahren stellen für ihn eine schwere Sanktion dar. Weiter gilt es zu berücksichtigen, dass dem Kantonsgerichtsausschuss nicht nur hinsichtlich der Rechtsfragen, sondern auch in bezug auf die Tatfragen freie Kognition zukam. Und in dieser Hinsicht stellten sich wesentliche, den Kern der streitigen Strafsache betreffende Fragen, bestritt der Beschwerdeführer doch sowohl die Tat als auch die Glaubwürdigkeit der Aussagen der wichtigsten Zeugen. Der Kantonsgerichtsausschuss setzte sich denn in seinem Urteil auch zur Hauptsache mit all diesen Fragen der Sachverhaltsermittlung und Beweiswürdigung auseinander.
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Demnach erweist sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde in diesem Punkte als begründet und ist unter Aufhebung des angefochtenen Urteils gutzuheissen. Bei dieser Sachlage braucht auf all die materiellen Rügen betreffend die Feststellung des Sachverhalts, die Beweiswürdigung sowie die antizipierte Beweiswürdigung hinsichtlich der gestellten Beweisanträge nicht eingegangen zu werden, da der Kantonsgerichtsausschuss die Strafsache in dieser Hinsicht nochmals wird prüfen müssen.
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