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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
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5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. Januar 1994 i.S. X gegen Anklagekammer des Kantonsgerichtes des Staates Freiburg (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (Anspruch auf amtliche Verteidigung). | |
Sachverhalt | |
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Als besondere Garantie für den Angeschuldigten im Strafprozess gewährleistet Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK die unentgeltliche Bestellung eines amtlichen Verteidigers, falls dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich erscheint und der Angeschuldigte mittellos ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat die bedürftige Partei aber auch schon gestützt auf Art. 4 BV einen allgemeinen grundrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender ![]() | 3 |
b) In einem die Schweiz betreffenden Urteil vom 24. Mai 1991 i.S. Quaranta hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erwogen, dass allein schon eine aufgrund des Strafrahmens rechtlich ("en droit") mögliche Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis die unentgeltliche Rechtsverbeiständung des Angeschuldigten notwendig erscheinen lasse. Dies gelte selbst dann, wenn im konkreten Fall nichts darauf hinweist, dass eine unbedingt vollziehbare Gefängnisstrafe von über 18 Monaten verhängt werden könnte (Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, ![]() | 4 |
3. a) Im vorliegenden Fall wird die Bedürftigkeit der arbeitslosen und schuldenbelasteten Beschwerdeführerin nicht bestritten. Zu prüfen ist jedoch, ob die von ihr beantragte Offizialverteidigung sich als notwendig aufdrängt. Fraglich erscheint bereits, ob hier von einem nur "relativ" schweren Fall im Sinne der dargelegten Praxis ausgegangen werden kann. Der Beschwerdeführerin wird insbesondere Drogenhandel mit über 130 Kilogramm Cannabis und ca. 200 Gramm Heroin sowie Konsum harter Drogen vorgeworfen. Sie muss daher mit einer Anklage wegen qualifizierten Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz rechnen. Dazu kommen noch weitere strafrechtliche Vorwürfe wie Diebstähle, Entwendungen sowie Erschleichen von Leistungen. Das Verfahren wegen sexueller Belästigung (Art. 198 StGB) wurde mangels Strafantrag eingestellt. Die Frage, ob im vorliegenden ![]() | 5 |
b) Im zitierten Quaranta-Urteil hat der Europäische Gerichtshof das Zusammentreffen gewisser rechtlicher und tatsächlicher Umstände als besondere Schwierigkeit gewertet. Zum einen hatte der Strafrichter neben der Festlegung einer neuen Sanktion wegen Drogendelikten über den Widerruf eines früher ausgesprochenen bedingten Strafvollzuges zu entscheiden. Sodann handelte es sich beim Angeschuldigten um einen jungen Erwachsenen, der regelmässig Drogen konsumierte, keine Berufsausbildung besass und mehrfach vorbestraft war (EGMR Série A, vol. 205, Ziff. 34 f.). In einem ähnlichen Fall hat das Bundesgericht die Notwendigkeit der Offizialverteidigung ebenfalls bejaht. Es ging dabei um einen 22jährigen heroinsüchtigen und vorbestraften Angeschuldigten. Dieser war erstinstanzlich zwar zu einer verhältnismässig geringen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden, es drohte ihm jedoch die Wiedereinsetzung in den Strafvollzug nach bedingter Entlassung sowie der Widerruf einer bedingt ausgesprochenen früheren Strafe von zwei Monaten Gefängnis (nicht amtlich publiziertes Urteil des Bundesgerichtes vom 28. September 1992 i.S. H., E. 3; s. ZBJV 1992, S. 732 f.). ...
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c) Analoges muss auch für das vorliegende Strafverfahren gelten. Der einschlägig vorbestraften Beschwerdeführerin droht im Falle einer Verurteilung eine empfindliche Strafe von jedenfalls mehreren Monaten Gefängnis. Dazu kommt der mögliche Widerruf des bedingten Strafvollzuges für eine am 4. Juli 1991 durch das Richteramt VI von Bern bereits ausgesprochene siebentägige Haftstrafe. Die 23jährige Angeschuldigte, die keine Berufsausbildung abgeschlossen hat, ist ausserdem schwerst drogensüchtig. Im psychiatrischen Gutachten wurden bei ihr eine Polytoxikomanie mit Alkohol, Heroin, Kokain, Cannabis sowie Beruhigungs- und Schlafmitteln und, neben Zeichen einer suchtbedingten allgemeinen Verwahrlosung, neurotisch-depressive Störungen diagnostiziert. Gemäss Expertise sei die Beschwerdeführerin generell "unfähig, zum jetzigen Zeitpunkt alleine ihr Leben angemessen und adäquat zu bestimmen". In Würdigung all dieser Umstände erweist sich die Offizialverteidigung im vorliegenden Fall als notwendig.
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