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22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 25. Mai 1994 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 88 OG, Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG (Einfluss des Opferhilfegesetzes auf die Legitimation des Geschädigten zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen strafprozessuale Einstellungsverfügungen). |
Eine auf Fragen der Beweiswürdigung erweiterte Legitimation des Geschädigten zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen kantonale Einstellungsverfügungen beurteilt sich nach Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG. Die Bestimmung stellt im Verhältnis zu Art. 88 OG eine "lex specialis" dar und setzt insbesondere das Vorliegen einer Opferstellung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG voraus (E. 2c). |
Bei der Beurteilung, ob die Eintretensvoraussetzungen zur Erhebung einer staatsrechtlichen Beschwerde gegeben sind, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, ob der Geschädigte unter den Opferbegriff des OHG fällt (E. 2d). |
Art. 2 Abs. 1 OHG (Opferbegriff). |
Bei Betrug ist eine Opferstellung im Sinne des OHG grundsätzlich ausgeschlossen. Bei Delikten gegen die Freiheit des Individuums und bei Erpressungsvorwürfen ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob die Schwere der fraglichen Straftaten die Annahme einer unmittelbaren Beeinträchtigung der psychischen oder körperlichen Integrität des Betroffenen rechtfertigt (E. 2d/aa). Bei den im vorliegenden konkreten Fall zu beurteilenden strafrechtlichen Vorwürfen (Betrug, Nötigung, Erpressung) rechtfertigt sich die Annahme einer Opferstellung der angeblich Geschädigten nicht (E. 2d/cc). | |
Sachverhalt | |
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Gegen den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft erhob X. erneut Rekurs bei der Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Stadt, indem sie die Weiterführung des Strafverfahrens und Anklageerhebung gegen ihren Sohn beantragte. Mit Schreiben vom 2. Juni 1993 fragte der Vorsitzende der Überweisungsbehörde X. an, ob sie angesichts des sich in einem parallelen Zivilprozess anbahnenden Kompromisses bereit sei, den Rekurs im Interesse des Familienfriedens zurückzuziehen, was von der Rekurrentin abgelehnt wurde. Mit Beschluss vom 29. September 1993 wies die Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Stadt den Rekurs ab, soweit sie darauf eintrat.
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Gegen den Entscheid der Überweisungsbehörde gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Sie rügt eine Verletzung von zahlreichen Grundrechten (namentlich der Bundesverfassung und der EMRK) und beantragt u.a. die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde setzt die persönliche Betroffenheit der Beschwerdeführerin in eigenen rechtlich geschützten Positionen voraus (Art. 88 OG).
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aa) Nach der Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die Einstellung eines Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil ![]() | 6 |
bb) Der in der Sache selbst nicht Legitimierte (dem im kantonalen Verfahren jedoch Parteistellung zukam) kann beispielsweise geltend machen, auf ein Rechtsmittel sei zu Unrecht nicht eingetreten worden, er sei nicht angehört worden, habe keine Gelegenheit erhalten, Beweisanträge zu stellen, oder er habe nicht Akteneinsicht nehmen können. Hingegen kann er weder die Würdigung der beantragten Beweise noch die Tatsache rügen, dass seine Anträge wegen Unerheblichkeit oder aufgrund antizipierter Beweiswürdigung abgelehnt wurden. Die Beurteilung dieser Fragen kann von der Prüfung der materiellen Sache nicht getrennt werden. Auf eine solche hat der in der Sache selbst nicht Legitimierte jedoch keinen Anspruch (BGE 116 Ia 177 E. 3b/aa S. 180; BGE 114 Ia 307 S. 313; BGE 107 Ia 343 E. 3 S. 345 f.).
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cc) Mit der Rüge der willkürlichen Tatsachenfeststellung bzw. Beweiswürdigung macht die Beschwerdeführerin somit - inzident - geltend, die kantonalen Behörden hätten eine mögliche Strafbarkeit des Angeschuldigten zu Unrecht verneint bzw. zu Unrecht keine Überweisung an den Strafrichter angeordnet. Bei dieser Rüge geht es indes nicht um die Berechtigung der (angeblich) Geschädigten, am kantonalen Verfahren teilzunehmen, sondern um eine Berechtigung in der Sache selbst. Weil der Strafanspruch, um den es hier geht, grundsätzlich nicht der Geschädigten, sondern ausschliesslich dem Staat zukommt, kann insoweit nach der ![]() | 8 |
b) Am 1. Januar 1993 ist das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG [SR 312.5, AS 1992 2465]) in Kraft getreten. Dieses stärkt gegenüber dem alten Recht insbesondere die prozessuale Rechtsstellung des Opfers von Straftaten. Dies gilt auch für dessen Legitimation zur Ergreifung von Rechtsmitteln (Art. 8 Abs. 1 OHG; vgl. auch BGE 119 IV 168). Auf dem Gebiet der Bundesstrafrechtspflege wurde im Zuge der neuen Opferhilfegesetzgebung die Legitimation des Geschädigten zur Erhebung der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde erweitert (Art. 270 Abs. 1 BStP; BGE 120 IV 46 E. 1).
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Das Opferhilfegesetz enthält keine intertemporalrechtlichen Übergangsbestimmungen. Nach der Praxis des Bundesgerichtes ist für die Frage der Anwendbarkeit des Opferhilfegesetzes diesbezüglich auf den Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Entscheides abzustellen (BGE 120 Ia 102, E. 1b; für die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde vgl. BGE 120 IV 46, E. 1b). Der angefochtene Entscheid wurde am 29. September 1993, nach Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes, gefällt. Dieses ist somit - in übergangsrechtlicher Hinsicht - auf den vorliegenden Fall anwendbar.
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c) Art. 8 Abs. 1 OHG hat folgenden Wortlaut:
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"Das Opfer kann sich am Strafverfahren beteiligen. Es kann insbesondere:
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a. seine Zivilansprüche geltend machen;
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b. den Entscheid eines Gerichts verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird;
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c. den Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten wie der Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann."
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Das Opfer hat demnach das Recht, die Einstellung des Verfahrens gerichtlich beurteilen zu lassen. Ferner ist es befugt, den betreffenden Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anzufechten wie der Angeschuldigte, sofern es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann. Unter den genannten gesetzlichen Voraussetzungen muss es dem Opfer somit gestattet sein, die Beurteilung der ![]() | 16 |
d) Eine auf materiellrechtliche Fragen erweiterte Legitimation des angeblich Geschädigten zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen kantonale Einstellungsbeschlüsse setzt somit als erstes eine Opferstellung des Geschädigten im Sinne des OHG voraus. Als Opfer ist gemäss Art. 2 Abs. 1 OHG jede Person anzusehen, "die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist". Es ist im folgenden daher mit freier Kognition (BGE 118 Ia 64 E. 1 S. 67) zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin unter den Opferbegriff des OHG fällt.
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aa) Im vorliegenden Fall wurde aufgrund der Strafanzeige der Beschwerdeführerin gegen ihren Sohn wegen Betrug (Art. 148 StGB), Nötigung (Art. 181 StGB) und Erpressung (Art. 156 StGB) ermittelt. Diesbezüglich könnte eine Opferstellung gestützt auf eine "unmittelbare psychische Beeinträchtigung" in Frage kommen. Mit der gesetzlichen Beschränkung auf "unmittelbare" Eingriffe sollen namentlich Vermögensdelikte von der Opferhilfe ausgenommen werden. Dies gilt laut Botschaft zum Opferhilfegesetz ausdrücklich für Diebstahl und Betrug (vgl. Botschaft vom 25. April 1990, BBl 1990 II 977). Dagegen sollen insbesondere die strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben (ohne Tätlichkeiten), Raub, die Verbrechen und Vergehen gegen die Freiheit sowie die strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität "in der Regel" unter die Opferhilfe fallen (vgl. a.a.O., S. 977 f.). Ehrverletzungsdelikte werden in der Botschaft grundsätzlich von der Opferhilfe ausgenommen (vgl. a.a.O., S. 977). Ob dies auch in aussergewöhnlich schweren Fällen von Ehrverletzung zu gelten hat, kann fraglich erscheinen, braucht im vorliegenden Fall jedoch nicht entschieden zu werden. Das Bundesgericht hat sodann erkannt, dass Amtsmissbrauch und Begünstigung grundsätzlich keine Opferstellung im Sinne des OHG nach sich ziehen (unver. Urteil vom 8. Oktober 1993 i.S. K., E. 2b). Deshalb gelte für die Frage der Legitimation des Strafanzeigers zur ![]() | 18 |
Schwieriger zu beurteilen ist die Frage bei Delikten gegen die Freiheit des Individuums, etwa bei Drohung, Nötigung oder (in Verbindung mit Bereicherungsabsicht) Erpressung. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass hier die Anwendung des Opferhilfegesetzes "nicht zum vornherein ausgeschlossen" sei (vgl. THOMAS MAURER, Das Opferhilfegesetz und die kantonalen Strafprozessordnungen, ZStrR 111 [1993] 375 ff., 382). Dies dürfte namentlich bei qualifizierteren Fällen von Drohung, Nötigung oder Erpressung zutreffen. Es ist jeweils anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob die Schwere der untersuchten Straftaten die Annahme einer unmittelbaren Beeinträchtigung der psychischen Integrität des Betroffenen rechtfertigt. Darunter fallen psychische Folgen eines für das Opfer traumatischen ausserordentlichen Ereignisses. MAURER nennt bei den Vermögensdelikten mit Gewalteinwirkung etwa die Opfer eines schweren Raubüberfalls. Es genüge dagegen nicht jede geringfügige Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens. Ausserdem müsse das Opfer "nachweislich körperliche oder psychische Schäden erlitten" haben (vgl. a.a.O., S. 381/382).
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bb) Neben dem Wortlaut des Gesetzes ("unmittelbare" Beeinträchtigung der psychischen Integrität) legt auch die Entstehungsgeschichte des OHG eine eher zurückhaltende Bejahung der Opferstellung nahe. Das eidgenössische Opferhilfegesetz stützt sich auf Art. 64ter BV. Darin wurde dem Bund die Kompetenz eingeräumt, den Opfern von "Straftaten gegen Leib und Leben" Hilfe zu leisten. In der Botschaft des Bundesrates vom 6. Juli 1983 zur Volksinitiative für die "Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen" hatte der Bundesrat die Auffassung vertreten, der Begriff der "Straftaten gegen Leib und Leben" sei im Bereich der Opferhilfe weiter auszulegen als im Strafrecht (Art. 111-136 StGB). Er umfasse "alle Handlungen, die einen Angriff auf Leib und Leben bedeuten können (z.B. Raub, Vergewaltigung)" (Botschaft vom 6. Juli 1983, BBl 1983 III 893 f.). Für eine eher restriktive Auslegung würde (im Sinne der "Folgenorientierung") auch das öffentliche Interesse an einer funktionierenden Bundesrechtspflege sprechen. Erfahrungsgemäss ist der Anteil an querulatorischen Rügen gerade im fraglichen Bereich erheblich.
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e) Da der Beschwerdeführerin keine Opferstellung im Sinne des OHG zukommt, kann ihr im vorliegenden Fall keine gegenüber der bisherigen Praxis zu Art. 88 OG erweiterte Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde zuerkannt werden. Bei dieser Sachlage kann offen gelassen werden, ob die in Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG genannten zusätzlichen Voraussetzungen für eine prozessuale Privilegierung des Opfers von Straftaten erfüllt wären. Nachfolgend ist daher lediglich im Rahmen der erhobenen "formellen" Rügen auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten (vgl. oben, E. 2a/bb). Soweit die Beschwerdeführerin dagegen die Beweiswürdigung der kantonalen Behörden als verfassungswidrig rügt oder ihre Vorbringen auf eine materielle Prüfung der Verdachtsgründe hinauslaufen würden, kann nach dem Gesagten auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.
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