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68. Urteil vom 8. November 1974 i.S. Wiesner gegen Eidg. Justiz- und Polizeidepartement | |
Regeste |
Art. 36 Abs. 4 ZG, Art. 55 ZV: Beschlagnahme von Veröffentlichungen und Gegenständen unsittlicher Natur, die bei der Zollrevision entdeckt werden. |
- Begriff der "Veröffentlichungen und Gegenstände unsittlicher Natur" und Abgrenzung zum Begriff der "unzüchtigen Veröffentlichungen" im Sinne von Art. 204 StGB. |
- Massnahmen, welche die Bundesanwaltschaft bei zollrechtlich beschlagnahmten Veröffentlichungen und Gegenständen unsittlicher Natur im Einzelfall treffen kann; Grundsätze der Gesetz- und Verhältnismässigkeit sowie der verfassungskonformen Auslegung. | |
Sachverhalt | |
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Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Der Beschwerdeführer beantragt, der Entscheid des Departements sei aufzuheben und der Roman DLYS freizugeben; eventuell sei die Freigabe mit Auflagen zu versehen, die weniger weit gehen als die Beschlagnahme des Romans.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es den angefochtenen Entscheid aufhebt und die Sache zur Neuentscheidung an die Bundesanwaltschaft zurückweist.
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Erwägungen: | |
1. Nach Art. 97 Abs. 1 OG beurteilt das Bundesgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwG. Als solche gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und u.a. Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten zum Gegenstand haben. Der angefochtene Entscheid des EJPD stellt eine Verfügung im Sinne dieser Bestimmung dar. Er stützt sich auf die eidgenössische Zollgesetzgebung und stammt von einem Departement des Bundesrates (Art. 98 lit. b OG). Wiewohl die Parteien das Problem der Zuständigkeit des Bundesgerichtes nicht aufwerfen, die Frage der Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde somit unbestritten ist, muss von Amtes ![]() | 4 |
Die von der Bundesanwaltschaft gestützt auf die Bestimmungen der eidgenössischen Zollgesetzgebung (Art. 36 Abs. 4 ZG und Art. 55 Abs. 2 Verordnung zum Zollgesetz vom 10. Juli 1926; ZV) angeordnete und vom EJPD bestätigte "endgültige Beschlagnahme" ist keine Massnahme, die unmittelbar der Strafverfolgung dient. Wie die Beschlagnahme aufgrund des BRB betreffend staatsgefährliches Propagandamaterial vom 29. Dezember 1948 oder ähnlich der Beschlagnahme durch die Postverwaltung gemäss Art. 25 Abs. 1 lit. b PVG, hat die Verfügung der Bundesanwaltschaft über die definitive Beschlagnahme von Gegenständen oder Veröffentlichungen, die sich bei der Zollkontrolle als unsittlicher Natur erweisen und deshalb vorsorglich und unter Meldung an die Bundesanwaltschaft zurückbehalten worden sind, administrativen Charakter. Es handelt sich um eine selbständige Massnahme des Verwaltungsrechts, die - wie die nachfolgenden Erwägungen erhellen - ohne Rücksicht auf eine allfällige Strafverfolgung angeordnet wird.
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Der Unzulässigkeitsgrund des Art. 100 lit. f OG trifft demnach auf die hier angefochtene Massnahme nicht zu, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist. Wie weit die einzelnen Rügen zu hören sind, ist nicht hier, sondern im Rahmen der Sachprüfung zu entscheiden.
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Damit stellen sich grundsätzlich zwei Fragen, die auf dem Wege der Auslegung zu beantworten sind: Einerseits ist klarzustellen, was unter dem Begriff der Veröffentlichungen und Gegenstände "unsittlicher Natur" zu verstehen ist; anderseits ist zu entscheiden, was mit den ob ihrer "unsittlichen Natur" vorsorglich beschlagnahmten Gegenständen zu geschehen hat. Bei der Beantwortung dieser beiden Fragen ist Art. 36 Abs. 4 ZG in erster Linie aus sich selbst, d.h. nach seinem Wortlaut, Sinn und Zweck sowie nach den ihm zugrunde liegenden Wertungen auszulegen; die Entstehungsgeschichte der Norm kann dabei ein wertvolles Hilfsmittel sein, den Sinn der Norm zu erkennen und damit falsche Auslegungen zu vermeiden (BGE 100 II 57 mit Hinweisen).
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4. a) Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 3. März 1973 (BGE 99 Ib 67) hervorgehoben, dass es sich beim Begriff "unsittlicher Natur" um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Das Vorliegen dieses unbestimmten Rechtsbegriffes räumt aber der Verwaltung bei der Auslegung des Art. 36 Abs. 4 ZG keinen Beurteilungsspielraum ein, der die Kognition des Richters einschränken würde. Der Richter ist nämlich - ebenso wie die Verwaltung - in der Lage, den ![]() | 11 |
b) Die Bestimmung des Art. 36 Abs. 4 ZG war im Entwurf des Bundesrates vom 4. Januar 1924 noch nicht enthalten (vgl. BBl 1924 I 69 ff.). Das Thema der Beschlagnahme unsittlicher Veröffentlichungen taucht erstmals auf in der nationalrätlichen Kommission. Damals war das internationale Übereinkommen vom 12. September 1923 zur Bekämpfung der Verbreitung und des Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen in frischer Erinnerung und das Bundesgesetz vom 30. September 1925 betreffend die Bestrafung des Frauen- und Kinderhandels sowie des Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen in Vorbereitung. Das EJPD wünschte - im Blick auf diese Regelungen - im Zollgesetz eine Handhabe zur Verhinderung der Einfuhr solcher Dinge über die Grenze. Der Nationalrat stimmte auf Antrag seiner Kommission der heutigen Fassung des Art. 36 Abs. 4 ZG zu (StenBull NR 1925 S. 75 f.). Im Ständerat wollte die vorberatende Kommission den Begriff der "unsittlichen" Veröffentlichungen ersetzen durch "unzüchtige" Veröffentlichungen. Sie suchte die Übereinstimmung zum Text des internationalen Abkommens und des in Vorbereitung befindlichen Strafgesetzes und wollte den allgemeinen Begriff "unsittlich" vermeiden. Der Rat wog ausdrücklich die beiden Formulierungen gegeneinander ab und bekannte sich mehrheitlich zum Begriff "unsittlich", den er als etwas weiter als den Begriff "unzüchtig" verstand. Er tat dies, um - wie sich ein Votant ausdrückte - "soweit möglich ist, diesen Dingen schärfer auf die Eisen gehen zu können". Der Ständerat stimmte deshalb der vom Nationalrat gewählten, heute geltenden Fassung zu (StenBull StR 1925 S. 225 f.). In der Folge bemühten sich die zuständigen Behörden des Bundes um die Festlegung einer Praxis. Insbesondere tat dies das EJPD bei der Behandlung von Beschwerden gegen Beschlagnahmeverfügungen der Bundesanwaltschaft gemäss Art. 36 Abs. 4 ZG, wobei letzte Instanz bis zum 1. Oktober 1969 der Bundesrat war. Als unsittlich im Sinne dieser Bestimmungen erachteten die Bundesbehörden jene Druckschriften, die das Schamgefühl ![]() | 12 |
Diese durchaus sinnvolle Unterscheidung entspricht nicht nur dem unterschiedlichen Wortlaut, sondern auch den verschiedenen Zweckbestimmungen der beiden Vorschriften: Will Art. 204 StGB den Schutz der Öffentlichkeit auf repressivem Weg erreichen, so dient Art. 36 Abs. 4 ZG der Prävention. In der Erkenntnis, dass Gegenstände und Veröffentlichungen unsittlicher Natur, haben sie die Zollgrenze passiert, in ihrem Lauf nur schwer zu kontrollieren sind, soll die Einfuhr an der Grenze vorläufig, d.h. provisorisch unterbunden werden.
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Seinem historischen Werdegang, seinem präventiven Zweck und seinem Gehalte nach nähert sich der Begriff der Unsittlichkeit nach Art. 36 Abs. 4 ZG demjenigen von Art. 212 StGB. Auch dieser Begriff geht, dem Jugendschutzgedanken entsprechend, weiter als derjenige des Unzüchtigen nach Art. 204 StGB (vgl. hierzu Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai 1971 i.S. Marti in BGE 97 IV 99 nicht publizierte Erwägung 3a). Das Bundesgericht ist daher in seinem Urteil vom 2. März 1973 zum Ergebnis gelangt, dass als unsittlich im Sinne von Art. 36 Abs. 4 ZG Veröffentlichungen und Gegenstände zu betrachten sind, die das Sittlichkeits- und Schamgefühl des normal empfindenden Erwachsenen verletzen und geeignet sind, die unreife Jugend durch Überreizung oder Irreleitung des Geschlechtsgefühls in ihrer sittlichen Entwicklung zu gefährden (BGE 99 Ib 67 f.).
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c) Dieser Begriff ist - entsprechend der aufgezeigten ![]() | 15 |
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a) Die weitest gehende Massnahme der Einziehung und Vernichtung der Gegenstände und Veröffentlichungen durch die Bundesanwaltschaft erscheint nur zulässig, wenn sie sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen lässt und gemessen am verfolgten Zweck verhältnismässig ist. Die Bundesanwaltschaft anerkennt, dass die schweizerische Rechtssprache im allgemeinen zwischen "Beschlagnahme" und "Einziehung" unterscheidet. Das EJPD versucht aber darzutun, dass Art. 36 Abs. 4 ZG über seinen Wortlaut hinaus zur Einziehung und allfälligen Vernichtung von Gegenständen und Veröffentlichungen unsittlicher Natur ermächtigt. Es stützt seine Auffassung auf den Werdegang der Bestimmung. Die Entstehungsgeschichte zeigt, dass vorgängig des Erlasses des Zollgesetzes sich das Problem der Einziehung unsittlicher Veröffentlichungen im Postrecht gestellt hatte. Der Bundesgesetzgeber räumte der Postverwaltung dabei die sehr weitgehende Kompetenz ein, Sendungen unsittlicher Natur zu beschlagnahmen und zu vernichten (Art. 25 PVG). Mit der Einführung des Art. 36 Abs. 4 ZG wollte nun das EJPD für das Zollrecht eine entsprechende Ordnung schaffen wie im Postverkehrsgesetz, mit dem Unterschied, dass der Entscheid über die "Beschlagnahme" nicht bei den Zollbehörden belassen, sondern in die Hände der Bundesanwaltschaft gelegt würde. Zweck der Bestimmung sollte es sein, aufgrund allgemeiner polizeilicher Bestimmungen alle unzüchtigen Veröffentlichungen an der Grenze aufzuhalten. Im Parlament war man sich aber offenbar bewusst, dass damit der Bundesanwaltschaft eine sehr gewichtige Kompetenz eingeräumt würde. Stimmen wurden laut, dass sich die Beschlagnahme nur auf Sendungen beziehen sollte, die ohne Zweifel für die Verbreitung und den Handel bestimmt sind. Dies entsprach dem damals in Vorbereitung stehenden und vorne bereits erwähnten Bundesgesetz betreffend die Bestrafung des Frauen- und Kinderhandels sowie der Verbreitung und des Vertriebes von unzüchtigen Veröffentlichungen (Art. 4 Abs. 1), das wie das StGB in Art. 204 die Einfuhr unzüchtiger Veröffentlichungen nur für strafbar erklärt, ![]() | 18 |
Doch lassen sich auch Fälle denken, in denen die Einfuhr objektiv nach Art. 204 StGB strafbar wäre, bei welchen aber das Gebot der Verhältnismässigkeit von Verwaltungsmassnahmen es als angezeigt erscheinen lässt, auf die Einziehung solcher Waren, die ja die Zollgrenze noch nicht passiert haben, zu verzichten und den Importeur lediglich anzuhalten, die Sendung an den Absender im Ausland zurückgehen zu lassen. Damit wird dem Zweck des Art. 36 Abs. 4 ZG jedenfalls genüge getan: Es wird verhindert, dass die Sendung die schweizerische Zollgrenze überschreitet.
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Die Bundesanwaltschaft ist bisher - wie sie selbst ausführt - weiter gegangen. Sie hat ein Einziehungs- und Vernichtungsrecht auch bei eingeführten Gegenständen und Veröffentlichungen bejaht, deren Einfuhr nach Art. 204 StGB nicht strafbar ist. Sie erachtet, dass sie Art. 36 Abs. 4 ZG auch zur Einziehung von Veröffentlichungen ermächtige, die zwar unzüchtig, aber nicht für den Handel, die Verbreitung und die öffentliche Ausstellung bestimmt sind, sowie für Veröffentlichungen, die nicht unzüchtig im Sinne des Vergehenstatbestandes von Art. 204 StGB aber unsittlich im Sinne des Übertretungstatbestandes von Art. 212 StGB sind. Eine derartige Ausweitung der verwaltungsrechtlichen Konfiskationsbefugnis findet jedoch weder im Wortlaut noch in der Entstehungsgeschichte des Art. 36 Abs. 4 ZG eine ausreichende Stütze. Diese Norm kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass dem Bund eine verwaltungsrechtliche Zensur- und Einziehungsbefugnis eingeräumt ist für Schriften, deren Einfuhr nicht strafbar ist.
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Die Bundesanwaltschaft wendet freilich ein, es werde Umgehungen ![]() | 21 |
b) Es fragt sich, welche Massnahme angemessen ist, wenn eine Veröffentlichung oder ein Gegenstand zwar nicht unzüchtig im Sinne von Art. 204 StGB ist, jedoch unsittlich im Sinne von Art. 212 StGB, d.h. eine Veröffentlichung zwar eingeführt, jedoch an Jugendliche unter 18 Jahren weder angeboten noch verkauft oder ausgeliehen sowie in Auslagen oder Schaufenstern, die von der Strasse aus sichtbar sind, nicht ausgestellt werden dürfen. Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung von Art. 212 StGB ergibt sich aus der Anwendung des Art. 36 Abs. 4 ZG nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dass die Bundesanwaltschaft die umstrittene Veröffentlichung zwar nicht einziehen und vernichten kann, sondern unter Auflagen an den Importeur freizugeben hat. Dem Importeur wird im Sinne einer Präventivmassnahme die Anweisung erteilt, es seien die Detaillisten darauf aufmerksam zu machen, dass die Veröffentlichung unter Art. 212 StGB fällt. Eine derartige Freigabe unter der Auflage, dass jedes einzelne Exemplar auf der Verpackung einen entsprechenden Hinweis tragen muss, der von den Buchhändlern und Kioskinhabern nicht zu übersehen ist, wird dem Sinn und Zweck des Art. 36 Abs. 4 ZG gerecht.
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Diese Möglichkeiten entsprechen der Verfahrensordnung des Art. 36 Abs. 4 ZG, wonach die Zollorgane bloss vorsorglich die Veröffentlichungen und Gegenstände, die ihnen unsittlicher Natur erscheinen, mit Beschlag belegen sollen und es der Bundesanwaltschaft übertragen ist, zu entscheiden, ob und allenfalls welche weiteren Massnahmen ergriffen werden müssen. Da der Begriff "unsittlicher Natur" - wie bereits erwähnt - weitgefasst ist, hängt es vom Masstab des einzelnen Zollbeamten ab, ob und wie weit er eine Sendung vorsorglich beschlagnahmen will. Sein Entscheid sollte in der Regel eher streng ausfallen, was sinnvoll ist, weil er nur vorsorglich verfügt. Aufgabe der Bundesanwaltschaft ist es alsdann, eine einheitliche Praxis durchzusetzen.
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a) Der Roman DLYS wird vom Herausgeber als ein "historischer Roman aus der Ming-Zeit (1580-1644 n. Chr.) mit erstaunlich taoistischen Liebespraktiken" bezeichnet. Das Buch enthält - so der Herausgeber - "die erstaunliche Lebensgeschichte des wunderschönen und liebeslustigen Mädchens ![]() | 26 |
Bei einer summarischen Prüfung, wie sie die Zollorgane bei der Zollrevision vorzunehmen haben, präsentiert sich das Buch DLYS als erotisch-historisch märchenhafter Roman, dessen Hauptthema auf die Beschreibung der Liebeserlebnisse einer schönen Heldin - Dschu-lin Yä-schi - gerichtet ist. Die Szenen sind eingebettet in die Welt der altchinesischen Kultur und schildern Geschlechtsakte, die sich in voller Hemmungslosigkeit abspielen. In dieser Sicht kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Roman als "unsittlicher Natur" im Sinne von Art. 36 Abs. 4 ZG zu qualifizieren ist. Dies wird durch den Hinweis des Herausgebers zu Beginn des Buches selbst bestätigt. Als solcher bot der Roman bei der Zollrevision Anlass zu einer provisorischen Beschlagnahme. Die vorsorgliche Beschlagnahme ist somit nicht zu beanstanden.
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b) Für die Bundesanwaltschaft stellt sich im Hinblick auf die Einziehung und die allfällige Vernichtung der Sendung die Frage, ob der Roman DLYS unzüchtig im Sinne von Art. 204 ![]() | 28 |
Als unzüchtig im Sinne von Art. 204 StGB gilt nach der Strafrechtsprechung ein Gegenstand, wenn er in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlichen Dingen verstösst, so dass sich die Bestrafung des Vergehens mit Gefängnis oder Busse rechtfertigt. Darunter fällt in erster Linie die sog. eigentliche Pornographie. In Fällen, die nicht zur eigentlichen Pornographie zu zählen sind, ist Art. 204 StGB mit Zurückhaltung und erst anzuwenden, wenn die Darstellung geschlechtlicher Vorgänge eindeutig den von der überwiegenden Mehrheit des Volkes getragenen sittlichen Vorstellungen zuwiderläuft und somit als Störung oder Belästigung der sozialen Ordnung angesehen werden muss (BGE 96 IV 68 E. 3; vgl. auch BGE 99 IV 59 f.). Gehen auch die Verwaltungsbehörden von diesen strafrechtlichen Kriterien aus bei der Bestimmung der aufgrund von Art. 36 Abs. 4 ZG zu verfügenden Massnahme, so wird damit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung, wie sie vom Beschwerdeführer gefordert wird, entsprochen. Es muss in der Tat verlangt werden, dass bei Bestimmungen, die ein Freiheitsrecht einschränken und mit auslegungsbedürftigen Begriffen arbeiten, diejenige Auslegung gewählt wird, die mit der Verfassung in Einklang steht. Das bedeutet, dass die gesetzliche Einschränkung der Pressefreiheit nicht weiter gehen kann, als es der Schutz eines von der Verfassung gewährleisteten Polizeigutes gebietet. Diese Polizeigüter, die oft unter dem Begriff "öffentliche Ordnung" zusammengefasst werden, sind im Falle des Art. 204 StGB einerseits die "öffentliche Sittlichkeit" im Sinne des übergreifenden Marginales zu den Artikeln 203 und 204 StGB, anderseits der Jugendschutz im Sinne von Art. 204 Ziff. 2 StGB. Was unter den Begriff der "öffentlichen Sittlichkeit" im einzelnen fällt, ist umstritten. Doch umfasst dieses Polizeigut auf jeden Fall das allgemeine Interesse daran, dass keine pornographischen Publikationen im eigentlichen Sinne eingeführt und in den Handel gebracht werden. Anderseits kann das nach Art. 204 Ziff. 1 StGB schützenswerte Rechtsgut der "öffentlichen Sittlichkeit" nur darin bestehen, das Sitten- oder Schamgefühl breiter Bevölkerungskreise davor zu schützen, dass Veröffentlichungen auf den Markt ![]() | 29 |
Im Lichte dieser Überlegungen und anhand des zugänglichen Vergleichsmaterials beurteilt, wäre der unzüchtige Charakter des Romans DLYS angesichts der Häufung von Darstellungen eines hemmungslosen Sexualverkehrs eher zu bejahen, wenn ein zeitgenössischer Autor den umstrittenen Roman verfasst hätte. Denn es lässt sich nicht bestreiten, dass die bis in alle Einzelheiten gehende Darstellung von Sexualorgien und die Schreibweise an sich in einer nicht leicht zu nehmenden Art gegen das Sittlichkeitsempfinden in geschlechtlichen Dingen verstossen. Auch müssten einzelne Holzschnitt-Reproduktionen, wenn sie öffentlich ausgestellt oder an Jugendliche vorgezeigt würden, als unzüchtig bezeichnet werden. Doch ist dies noch nicht entscheidend. Wie erwähnt, ist darauf abzustellen, ob der Gesamteindruck des Romans bei einem normal urteilenden und empfindenden Leser Abscheu und Widerwillen verursacht, m. a. W., ob das Buch zur eigentlichen Pornographie zu zählen ist oder - im Sinne von BGE 96 IV 70 f. - zu den sog. "andern Fällen", bei denen hinsichtlich der Qualifikation als unzüchtige Veröffentlichungen Zurückhaltung geboten ist.
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Unter diesem Gesichtspunkt darf angenommen werden, dass dieser vor Jahrhunderten in China geschriebene Roman anders auf den Leser wirkt, als ein heute geschriebenes Buch. Bei einem Grossteil der Bevölkerung, auch bei Lesern, die für sich persönlich eine starke Gebundenheit der geschlechtlichen Beziehungen bejahen, dürfte nach allgemeiner Lebenserfahrung das Buch weder Abscheu noch Widerwillen erregen. Viele Leser, die das Buch gegebenenfalls in die Hände bekommen, werden es anfänglich interessant, vielleicht sogar amüsant finden, nach einer teilweisen Lektüre sich aber auf die Dauer doch eher langweilen. Schwere anstössige Perversitäten, wie sie zum Teil im Buche "Jou Pu Than" (siehe hierzu BGE 87 IV 73) dargestellt und ausführlich geschildert werden, finden sich im Roman DLYS nicht.
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Zwar rechnet der Herausgeber des Werkes offenbar damit, dass das Buch nicht so sehr aufgrund seines angeblich wissenschaftlichen ![]() | 32 |
In dieser Sicht unterscheidet sich der umstrittene Roman aus der Ming-Zeit als Ganzes betrachtet deutlich von den vielen platten und geilen Erzeugnissen der Pornographie unserer Zeit. Er ist, verglichen mit dem, was heute auf dem Bücher- und Zeitschriftenmarkt frei erhältlich ist, zu der Kategorie von Veröffentlichungen zu zählen, die zwar keineswegs eine wertvolle Bereicherung des Angebotes darstellen, die jedoch nicht als unzüchtig im Sinne des strengen Begriffes von Art. 204 Ziff. 1 StGB zu betrachten sind. Das hat zur Folge, dass die von der Bundesanwaltschaft definitiv verfügte "Beschlagnahme", die Einziehung, im Lichte des verfassungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprinzips bundesrechtswidrig ist und daher aufgehoben werden muss.
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c) Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob - wie dies der Beschwerdeführer begehrt - der Roman vorbehaltlos, d.h. ohne jedwelche Auflage freigegeben werden darf, oder ob allenfalls eine weniger einschneidende Massnahme als die Einziehung notwendig ist. Letzteres ist namentlich der Fall, wenn das Buch als "unsittlich" im Sinne von Art. 212 StGB zu werten wäre; dann darf das Buch zwar eingeführt und verkauft werden, doch nur unter den durch den Jugendschutz gebotenen Bedingungen.
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Wie bereits festgestellt wurde, ist der Roman DLYS geeignet, die sittliche oder gesundheitliche Entwicklung von Kindern ![]() | 35 |
Fraglich ist, ob der auf der ersten Seite des umstrittenen Werkes angebrachte Hinweis des Verlegers auf den jugendgefährdenden Inhalt des Buches genügen kann, um die Buchhändler und Kioskinhaber darauf aufmerksam zu machen, dass das Buch als unsittlich im Sinne von Art. 212 StGB zu qualifizieren ist und dass die entsprechenden Vorsichtsmassnahmen zu beachten sind. Im Rahmen des heutigen Buchhandels kann nämlich kaum erwartet werden, dass der einzelne Detaillist von sich aus ein derartiges Buch öffnet und so auf den Hinweis des Verlegers stösst. Es ist daher Aufgabe der Bundesanwaltschaft, im Sinne des eben Erläuterten zu prüfen, mit welcher Auflage die Freigabe des Buches zu verbinden ist, damit Aussicht auf eine Respektierung von Art. 212 StGB beim Weiterverkauf besteht. Mit einer blossen Mitteilung an den Importeur, dass das Buch unter die Jugendschutznorm des Art. 212 StGB fällt, ist wenig Gewähr dafür geboten, dass Buchhändler und Kioskinhaber die nach Art. 212 StGB verlangten Vorsichtsmassnahmen treffen.
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