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50. Auszug aus dem Urteil vom 28. November 1975 i.S. Kräuchi gegen Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement | |
Regeste |
Entzug des Führerausweises wegen Verletzung von Verkehrsregeln. |
2. Unter welchen Voraussetzungen berechtigen zusätzliche Beweismassnahmen die Verwaltungsbehörden, vom Erkenntnis des Strafrichters abzuweichen? (Erw. 2). | |
Sachverhalt | |
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Im September 1972 erwarb Kräuchi bei der Firma AMAG in Zürich einen Occasionswagen, Marke "Plymouth Sport Satellite", Jahrgang 1968. Da er feststellte, dass das Fahrzeug beim Bremsen hinten nach links ausbrach und da dieser Mangel von der Polizei beanstandet wurde, liess er durch die Verkäuferfirma die nötigen Arbeiten ausführen. Das kantonale Strassenverkehrsamt befand darauf am 28. September 1972 das Fahrzeug für verkehrstüchtig. Am 3. Oktober 1972 befuhr Kräuchi die ansteigende, kurvenreiche Strecke Albisrieden - Birmensdorf.
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Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich büsste Kräuchi am 23. November 1972 wegen Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die gegebenen Strassen- und Sichtverhältnisse. Kräuchi erhob Einsprache und bestritt anlässlich seiner Einvernahme vor dem Polizeirichter, schneller als mit 50 km/h gefahren zu sein. Zudem habe er nur leicht und nicht brüsk gebremst. Mit Verfügung vom 29. Januar 1973 hob der Polizeirichter die Busse auf, da nicht rechtsgenüglich bewiesen werden könne, dass Kräuchi mit übersetzter Geschwindigkeit gefahren sei. Es sei anzunehmen, dass er das Fahrzeug wegen der festgestellten schweren Mängel des Bremssystems nicht beherrscht habe, wofür er strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könne.
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Die Polizeidirektion verfügte am 22. November 1972 den Entzug des Führerausweises für die Dauer von vier Monaten mit der Begründung, Kräuchi habe die Geschwindigkeit den gegebenen Umständen nicht angepasst. Sein Einwand, der Unfall sei auf einen Bremsdefekt zurückzuführen, sei nicht glaubhaft. Kräuchi zog diese Verfügung an den Regierungsrat des Kantons Zürich weiter. Die mit der Instruktion des Rekursverfahrens betraute Polizeidirektion führte weitere Abklärungen durch. Auf telephonische Anfrage hin erklärte der Garagechef der Firma AMAG, der festgestellte Mangel an den Bremsen hätte theoretisch ausgereicht, um den Unfall zu verursachen, allerdings nur bei massivem Bremsen. Die ![]() | 5 |
Mit Entscheid vom 22. August 1973 wies der Regierungsrat den Rekurs ab. Es rechtfertige sich, vom Strafurteil abzuweichen, weil die weitergehenden Ermittlungen der Administrativbehörden ergeben hätten, dass die Argumente des Rekurrenten zu seiner Entlastung nicht ausreichten. Der Mangel des Bremssystems hätte sich nur bei starkem Bremsen auswirken können. Da der Rekurrent behaupte, nur sehr leicht gebremst zu haben, müsse der Unfall auf übersetzte Geschwindigkeit zurückgeführt werden.
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Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) hat den Rekursentscheid des Regierungsrates bestätigt, wobei es insbesondere dessen Auffassung geteilt hat, die ergänzenden technischen Erhebungen durch die Administrativbehörden rechtfertigten ein Abweichen von der strafrichterlichen Beurteilung des Falles.
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Das Bundesgericht heisst die dagegen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde im wesentlichen gut.
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Aus den Erwägungen: | |
1. a) Nach Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führerausweis entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat. In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden. Hat der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet, so muss der Ausweis gemäss Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG entzogen werden. Der Regierungsrat und das EJPD haben den gegenüber dem Beschwerdeführer ausgesprochenen Ausweisentzug ![]() | 9 |
Verletzungen von Verkehrsregeln werden anderseits in Art. 90 SVG unter Strafe gestellt, wobei einfache Verkehrsregelverletzungen nach Ziff. 1 mit Haft oder Busse bestraft werden, während nach Ziff. 2 mit Gefängnis oder Busse bedroht wird, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Der Polizeirichter der Stadt Zürich hat den Beschwerdeführer zunächst wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeuges infolge Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die gegebenen Strassen- und Sichtverhältnisse in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG gebüsst, diese Bussenverfügung jedoch in der Folge aufgehoben. Der Entscheid der Verwaltungsbehörden weicht somit vom Erkenntnis des Strafrichters ab.
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b) Der Führerausweisentzug stellt eine von der strafrechtlichen Sanktion unabhängige, um der Verkehrssicherheit willen angeordnete Verwaltungsmassnahme mit präventivem und erzieherischem Charakter dar. Das Gesetz sieht keine Bindung der Administrativbehörde an das Erkenntnis des Strafrichters vor. Die Administrativbehörde ist deshalb befugt, selbständig zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für einen Ausweisentzug erfüllt sind. Die grundsätzliche Unabhängigkeit der Verwaltungsbehörde rechtfertigt sich auch aus dem Grunde, dass die Tatbestandsumschreibungen für den Führerausweisentzug und für die strafrechtlichen Sanktionen nicht übereinstimmen. Zwar bestehen gewisse Parallelen zwischen Art. 16 Abs. 2 und Art. 90 Ziff. 1 SVG einerseits, Art. 16 Abs. 3 lit. a und Art. 90 Ziff. 2 SVG anderseits. Art. 16 Abs. 2 setzt jedoch voraus, dass der Führer mit der Verletzung von Verkehrsregeln den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat; zudem ist selbst unter diesen Voraussetzungen der Ausweisentzug bloss fakultativ, und in leichten Fällen hat die Behörde die Möglichkeit, den fehlbaren Lenker zu verwarnen (BGE 96 I 773 f. E. 4 mit Hinweisen, nicht veröffentlichte Urteile P. vom 27. März 1973 und D. vom 21. Dezember 1973; ferner F. GYGI, Bundesrechtliche Rechtsmittel bei Entzug von Führerausweisen, in: Rechtsprobleme des Strassenverkehrs, Bern 1975, S. 134 ff.).
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Dem Grundsatz der Unabhängigkeit der Administrativbehörde als Ausfluss des Gewaltenteilungsprinzips stehen ![]() | 12 |
2. a) Der Regierungsrat und das EJPD machen geltend, die Administrativbehörden hätten zusätzliche, dem Strafrichter nicht bekannte Beweise erhoben. Es trifft zu, dass weitere Abklärungen getroffen wurden. Der mit der Vorbereitung des Rekursentscheides betraute Sachbearbeiter der Polizeidirektion setzte sich telephonisch mit dem Garagechef der Firma AMAG und mit dem technischen Chefexperten des Strassenverkehrsamtes in Verbindung; ferner befragte er, ebenfalls telephonisch, den Beschwerdeführer nochmals. Zudem wurde nachträglich ein Unfallplan erstellt. Die Vorinstanzen sind der ![]() | 13 |
b) Ob zusätzliche Beweiserhebungen und die ihnen folgende freie Beweiswürdigung die Verwaltungsbehörde berechtigen, vom Erkenntnis des Strafrichters abzuweichen, ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht nach Art. 104 lit. a OG frei prüft. Zu prüfen ist insbesondere, ob der zusätzliche Beweis für den Entscheid von Bedeutung war, denn es versteht sich, dass nicht jede über das vom Strafrichter durchgeführte Beweisverfahren hinaus getroffene Abklärung ein Abweichen zu rechtfertigen vermag. Ferner ist zu untersuchen, ob der zusätzliche Beweis nach dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren erhoben worden ist. Hat die Verwaltungsbehörde bei der Beweisergänzung wesentliche Verfahrensgrundsätze verletzt, kann offen gelassen werden, ob der Beweis überhaupt von Bedeutung ist.
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Das Verfahren vor dem Regierungsrat des Kantons Zürich als Rekursbehörde richtet sich nach den Vorschriften von §§ 7 ff. und 26 des Zürcher Gesetzes über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen (Verwaltungsrechtspflegegesetz) vom 24. Mai 1959 (VRG); obwohl der Entzug des Führerausweises bundesrechtlich geregelt ist, finden die Vorschriften des VwVG keine Anwendung, mit Ausnahme der Bestimmungen über die Eröffnung von Verfügungen und den Entzug der aufschiebenden Wirkung (Art. 1 Abs. 3 VwVG). Nach § 7 Abs. 1 VRG untersucht die Verwaltungsbehörde den Sachverhalt von Amtes wegen durch Befragen der Beteiligten und von Auskunftspersonen, durch Beizug von Amtsberichten, Urkunden und Sachverständigen, durch Augenschein oder auf andere Weise. § 7 Abs. 2 VRG sieht ein Mitwirkungsrecht der Beteiligten vor, soweit sie ein Begehren gestellt haben, und gemäss § 8 VRG steht den durch eine Anordnung in ihren Rechten Betroffenen das Recht zu, Einsicht in die Akten zu nehmen. Im Rekursverfahren ist der Vorinstanz und den am vorinstanzlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zur Vernehmlassung zu geben, und die Rekursinstanz kann einen weiteren Schriftenwechsel anordnen oder die Beteiligten zu einer mündlichen Verhandlung vorladen (§ 26 Abs. 2 und 3 VRG).
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Darüber hinaus sind gegenüber den Aussagen der beiden befragten Personen auch materielle Zweifel angezeigt. Man gewinnt den Eindruck, dass der Garagechef der AMAG bemüht war, die mangelhafte Arbeit seiner Werkstätte vor dem ![]() | 17 |
Da die Verwaltungsbehörden keine taugliche ergänzende Beweisaufnahme durchgeführt haben, und da nicht gesagt werden kann, die Beweiswürdigung durch den Strafrichter widerspreche den vorhandenen Tatsachen, soweit er einen Einfluss des Bremsdefektes auf den Unfall angenommen hat, besteht kein Anlass, davon abzuweichen.
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