BGE 101 Ib 348 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
60. Auszug aus dem Urteil vom 11. Juli 1975 i.S. Brunner gegen Schweizerische Eidgenossenschaft | |
Regeste |
Zum Nachteil des den Staat belangenden Bürgers ist der Frage der Verjährung nicht von Amtes wegen nachzugehen (Änderung der Rechtsprechung). | |
Sachverhalt | |
Der Kläger verlangt, dass ihm zurückerstattet werde, was ihm von der Schweizerischen Eidgenossenschaft angeblich während Jahren in gesetzwidriger Weise zu viel von seiner Besoldung abgezogen worden ist. Die Beklagte bestreitet den geltend gemachten vermögensrechtlichen Anspruch; sie beruft sich jedoch nicht auf Verjährung. Das Bundesgericht ist der Frage der Verjährung nicht von Amtes wegen nachgegangen, mit folgenden
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Erwägungen: | |
Es kann sich fragen, ob die heute im Streite liegenden Gehaltsnachforderungen des Klägers nicht mindestens teilweise gemäss Art. 98 Abs. 1 BO 3 verjährt sind. Die Frage ist einredeweise von der Beklagten und Schuldnerin nicht aufgeworfen worden. Zu prüfen ist jedoch, ob Anlass besteht, ihr von Amtes wegen nachzugehen.
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Im Zivilrecht darf der Richter die Verjährung nach Art. 142 OR nur berücksichtigen, wenn sich der Schuldner darauf beruft. In öffentlichrechtlichen Streitigkeiten hat das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung der Verjährung regelmässig Rechnung getragen, gleichgültig, ob die Einrede erhoben wurde oder nicht (vgl. für viele BGE 86 I 62 mit Hinweisen), und es hat dies in erster Linie mit der zwingenden Natur des öffentlichen Rechts begründet (BGE 98 Ib 355 mit Hinweisen). Diese Praxis wurde von verschiedenen Autoren kritisiert (vgl. GRISEL, Droit administratif suisse, S. 347; E. BLUMENSTEIN, System des Steuerrechts, 2. A. S. 219 und 3. A. S. 273; KÄNZIG Kommentar, N. 12 zu Art. 128 WStB; ZWEIFEL, Zeitablauf als Untergangsgrund öffentlichrechtlicher Ansprüche, S. 53 ff.). In der Tat leuchtet - wie im Urteil BGE 98 Ib 356 bereits angedeutet wurde - nicht ohne weiteres ein, dass die Verjährung dem Bürger als Gläubiger aus einem öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis im Unterschied zum Zivilrecht stets und selbst dann durch den Richter von Amtes wegen entgegenzuhalten ist, wenn der Staat als Schuldner - bewusst oder aus Versehen - es unterlässt, sich darauf zu berufen.
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Der Privatrechtsgesetzgeber hat die Regel des Art. 142 OR gewählt, weil den öffentlichen Interessen an der Nicht-mehr-Durchsetzbarkeit verjährter Forderungen andere Werte gegenüberstehen, die es rechtfertigen, den Schuldner zur ausdrücklichen Erhebung der Verjährungseinrede zu verpflichten, wenn er die Durchsetzung der Forderung von sich abwenden will. Diese andern Werte erscheinen ebenso gewichtig wie die öffentlichen Interessen an der Beschränkung der Durchsetzung verjährter Ansprüche. Das Obligationenrecht überlässt es, gleich wie das deutsche Recht im BGB (§ 222), dem Schuldner, seinem Gewissen und seinem Anstandsgefühl, ob er die Verjährungseinrede erheben will oder nicht. Erhebt der Schuldner die Einrede der Verjährung nicht, darf angenommen werden, er wünsche den materiellen Entscheid über das Bestehen beziehungsweise Nichtbestehen der Forderung. Dieser Wille ist vom Richter auch dort zu respektieren, wo der Staat als Schuldner aus einem öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis die Einrede der Verjährung nicht erhebt. Der Staat wird die Einrede der Verjährung in der Regel gerade deshalb nicht erheben, weil besondere Umstände ihn hierzu veranlassen. Ein solcher besonderer Umstand kann beispielsweise in der Tatsache liegen, dass die Verwaltung selbst dazu beigetragen hat, dass der Streit um den verjährten Anspruch nicht innert der Verjährungsfrist zur Abklärung kam.
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Die Frage, ob die Verjährung im öffentlichen Recht von Amtes wegen zu berücksichtigen ist, lässt sich somit nicht in allen Fällen gleich beantworten. Sie stellt sich sicher dort nicht, wo der Gesetzgeber eine Verwirkungsfrist aufgestellt hat. Denn die Verwirkung ist immer und von Amtes wegen zu berücksichtigen (BGE 86 I 62 mit Hinweis). Geht es jedoch um die Frage der Verjährung im eigentlichen Sinn, so ist - gleichgültig ob sich die Verjährungsfrist aus einer ausdrücklichen Vorschrift ergibt oder nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen bestimmt - zu unterscheiden, ob der Bürger Gläubiger oder aber Schuldner aus dem öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis ist. Ist der Bürger Gläubiger, hat der Richter die Verjährung zu seinem Nachteil nicht von Amtes wegen, sondern nur auf ausdrückliche Einrede des Staates hin zu berücksichtigen.
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Im vorliegenden Fall ist der Kläger Gläubiger aus dem im Streite liegenden öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis. Die Verwaltung hat die Einrede der Verjährung nicht erhoben. Es besteht somit kein Anlass für das Bundesgericht, der Frage der Verjährung zum Nachteil des den Staat belangenden Bürgers von Amtes wegen nachzugehen.
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Dieses Ergebnis erscheint im vorliegenden Streit auch aus den besondern Umständen des Falles gerechtfertigt. Der Kläger hatte im Juni 1966 die Gesetzmässigkeit der Höhe der von seinem Gehalt abgezogenen Dienstwohnungsentschädigung bestritten. Der Fall blieb aber auf Seiten der Verwaltung unerledigt. Der Kläger war auf einem Posten fernab der Schweiz abkommandiert. Es ist insofern verständlich, dass er mit der Austragung seines Rechtsstreites bis nach seiner Rückkehr in die Schweiz zuwartete. Dieses Zuwarten des Klägers mit der Geltendmachung seiner Forderung hat auf Seiten der Beklagten keinerlei Beweisschwierigkeiten geschaffen. Zu entscheiden ist eine Rechtsfrage. Unter solchen Umständen erscheint es nicht nur verständlich, sondern durchaus gerechtfertigt, dass der Staat als Schuldner die Einrede der Verjährung nicht erhoben und die materielle Entscheidung der Streitsache angestrebt, zumindest sich dieser mit der Einrede der Verjährung nicht widersetzt hat.
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