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56. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Juli 1984 i.S. Staat Bern gegen Ammann, Berger, Kleiner und Eidg. Schätzungskommission, Kreis 6 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Enteignung von Nachbarrechten; Entschädigung für die vom Strassenverkehr ausgehenden Lärmimmissionen. |
Bei der Beurteilung einer Lärmsituation aufgrund der Grenzrichtwerte kann nicht auf kurzzeitige Messungen während des Spitzenverkehrs, ohne Berücksichtigung der ganzen Bezugszeit, abgestellt werden (E. 3). |
Die im Bericht "Lärmbekämpfung in der Schweiz" 1963 provisorisch festgelegten L1-Grenzrichtwerte für die Nacht betreffend die Geräuschzonen II-V sind um 5 dB zu erhöhen (E. 4). |
Bei der Ermittlung des massgebenden Lärmpegels ist grundsätzlich von der tatsächlich vorhandenen Verkehrsmenge, das heisst vom täglichen bzw. nächtlichen Durchschnittsverkehr im Jahresmittel auszugehen. Die Lärmbeeinträchtigung durch den sogenannten Normverkehr ist nur unter besonderen Umständen ebenfalls mit in Betracht zu ziehen (E. 5). |
Eine Überschreitung des Grenzricht- oder Immissionsgrenzwertes um 5 dB ist als klare Überschreitung anzuerkennen (E. 6). |
Neben den statistischen Schallpegeln L1 und L50 sind auch der Mittelungspegel Leq und die Immissionsgrenzwerte beizuziehen, die 1979 von der Eidg. Kommission für die Beurteilung von Lärm-Immissionsgrenzwerten für den Strassenverkehr festgesetzt worden sind (E. 7). |
In den vorliegenden Fällen ist die Voraussetzung der Spezialität bzw. der Schwere des Schadens nicht erfüllt (E. 9-11). | |
Sachverhalt | |
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Mit Eingabe vom 30. Mai 1978 gelangte Paul Ammann an die Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 6, und verlangte eine Entschädigung in Höhe von mindestens Fr. 20'000.-- für die Entwertung seiner Liegenschaft durch den Autobahnlärm. Der Kanton Bern widersetzte sich dem Entschädigungsbegehren und machte gestützt auf vor und nach dem Autobahnbau durchgeführte Messungen geltend, die in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch seien nicht erfüllt. Die Einigungsverhandlung verlief erfolglos.
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B.- Das Mehrfamilienhaus der Erben Berger liegt ebenfalls in Oberwangen, jedoch im Norden des Dorfes und westlich der rund 50 m entfernten N 12. Der Abstand zur SBB-Linie beträgt ca. 80 m, zur Kantonsstrasse ca. 170 m. Zwischen der Autobahn und dem Hause Berger ist ein rund 5 m hoher Erdwall errichtet worden, der die unteren Etagen abdeckt. Von der im obersten Stockwerk liegenden Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung aus bleiben indessen die Aufbauten vorbeifahrender Lastwagen sichtbar.
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Die Erben Berger stellten mit Eingabe vom 9. Juni 1978 eine Entschädigungsforderung für Minderwert in Höhe von Fr. 200'000.--. Sie erklärten sich indessen auch mit weiteren Massnahmen einverstanden, durch die der Lärm spürbar gesenkt würde. Der Kanton Bern bestritt jeden Entschädigungsanspruch der Grundeigentümer und wies darauf hin, dass die Wohnungen in der Liegenschaft Berger nach wie vor vermietet seien und die Eigentümer keine Mietzinseinbussen erlitten. An der Schätzungsverhandlung schränkten die Erben Berger ihr Gesuch um Minderwertsentschädigung auf die im obersten Stockwerk gelegenen Wohnungen ein.
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C.- Die dritte in Frage stehende Liegenschaft, die Einfamilienhaus-Parzelle des Walter Kleiner, liegt mitten in Thörishaus (Gemeinde Neuenegg) am Abhang gegen das Sensetal. Die Wohn- und Schlafräume des zweistöckigen Gebäudes sind gegen Südwesten, in Richtung der in einem Abstand von etwa 50 m vorbeiführenden N 12 orientiert. Die Sichtverbindung zur Autobahn wird, abgesehen von einer kleinen Lücke, durch eine Schallschutzwand unterbrochen. Die rund 100 m entfernt liegende Bahnlinie und die am ![]() | 5 |
Walter Kleiner beklagte sich mit Schreiben vom 23. April 1977 über den Autobahnlärm und verlangte zusätzliche Schallschutzmassnahmen oder sinngemäss eine Entschädigung für die Entwertung seines Hauses. Auch in diesem Fall brachte der Staat Bern vor, dass die von der Rechtsprechung verlangten Merkmale der Unvorhersehbarkeit und der Spezialität der Immissionen fehlten.
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D.- Nach Vornahme weiterer Lärmmessungen auf den Liegenschaften Ammann und Kleiner fällte die Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 6, am 16. Juni 1981 ihren Entscheid. Sie verpflichtete den Kanton Bern, Paul Ammann eine Enteignungsentschädigung von Fr. 15'000.--, den Erben Berger eine Entschädigung von Fr. 10'000.-- und Walter Kleiner eine solche von Fr. 8'000.--, je mit Zins ab 7. Dezember 1977 bzw. 10. Dezember 1976, zu bezahlen. Die weitergehenden Begehren wurden abgewiesen.
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Im Falle Ammann führte die Kommission zur Begründung ihres Entscheides im wesentlichen aus, Immissionen des Strassenverkehrs seien entlang von öffentlichen Strassen in der Regel zu dulden. Erst wenn die Auswirkungen des Verkehrs schwer und intensiv seien, den Eigentümer in besonderer Weise träfen und nicht vorausgesehen werden könnten, sei ausnahmsweise eine Entschädigung für die Enteignung des nachbarrechtlichen Unterlassungsanspruches geschuldet. Die Aspekte der Besonderheit und der Schwere griffen ineinander über und seien deshalb gemeinsam zu behandeln. Ob diese Voraussetzungen erfüllt seien, habe das Bundesgericht bisher weitgehend anhand der von der Eidgenössischen Expertenkommission für Lärmfragen im Jahre 1963 erarbeiteten Richtlinien (Grenzrichtwerte 1963) entschieden. Auch die Schätzungskommission gehe deshalb davon aus, dass enteignungsrechtlich relevante Schallimmissionen vorlägen, sobald die gemessenen Lärmwerte die Grenzrichtwerte spürbar, das heisst um mindestens 5 dB(A), überträfen. Die für die Liegenschaft Ammann - die in die gemischte Zone III zu weisen sei - ermittelten und auf 2400 Personenwageneinheiten pro Stunde "normalisierten" Tageswerte lägen nicht spürbar über dem massgeblichen Grenzrichtwert. Anders dagegen der nächtliche Lärmpegel. Hier sei vornehmlich auf den L1-Wert abzustellen, und zwar auf den nach dem Wegfallen des Nachtfahrverbotes für Lastwagen effektiv gemessenen Wert. Dieser liege bei 66,5 dB(A), also um 11,5 dB(A) ![]() | 8 |
Im Entscheid Berger erwog die Kommission, zwar seien auf der Mehrfamilienhaus-Parzelle keine Nachtwerte erhoben worden, doch könne auf die beim Hause Ammann durchgeführten Messungen abgestellt werden, da beide Häuser in annähernd gleichem Abstand zur Autobahn stünden und die topographischen Verhältnisse miteinander vergleichbar seien. Mit der gleichen Argumentation wie im Falle Ammann gelangte die Kommission zum Schluss, dass eine Entschädigung geschuldet sei, jedoch lediglich für die unmittelbar gegen die Autobahn gerichtete Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock, und dass der Entschädigungsbetrag anhand des Aufwandes für den Einbau von Schallschutzfenstern zu bemessen sei.
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Im Urteil Kleiner wurden die selben Erwägungen angestellt. Die Kommission hielt abschliessend fest, dass mehrere Sanierungsmöglichkeiten für die im ersten Stock liegenden Schlafzimmer bestünden (Versetzen der Fenster an die Aussenwände, Einrichten eines geeigneten Ventilationssystems); mit dem Kostenaufwand von Fr. 8'000.-- könne eine Lösung des nächtlichen Lärmproblems gefunden werden.
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E.- Der Kanton Bern hat die drei Entscheide der Schätzungskommission mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten und in allen Fällen geltend gemacht, die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Enteignungsentschädigung seien nicht erfüllt. Beanstandet wird insbesondere, dass die Schätzungskommission auf ![]() | 11 |
Die Beschwerdegegner und die Schätzungskommission stellen den Antrag, die Beschwerden abzuweisen.
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F.- Zur Instruktion der Beschwerden hat das Bundesgericht Prof. Dr. E. J. Rathe, Russikon, und Dr. R. Hofmann, Abteilung für Akustik und Lärmbekämpfung der EMPA, Dübendorf, als Experten beigezogen. Nach Durchführung eines Augenscheins und einer internen Beratung sind auf Anraten der Gutachter zusätzliche Lärmmessungen während der Nacht vorgenommen worden. Gestützt auf den Messbericht der EMPA und unter Berücksichtigung der inzwischen bekanntgewordenen Verkehrsmenge des Jahres 1982 haben die Experten nach weiteren internen Beratungen im Oktober 1983 ihren Bericht erstattet, der den Parteien zugestellt und mit ihnen an einer Verhandlung besprochen worden ist. Nach dem Expertenbericht ergeben sich unter Annahme folgender Verkehrsmengen
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heutiger Verkehr tags: 1309 Fzg/h Lastwagenanteil 0.13
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nachts: 223 Fzg/h Lastwagenanteil 0.065
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Normverkehr tags: 2000 Fzg/h Lastwagenanteil 0.13
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nachts: 340 Fzg/h Lastwagenanteil 0.065 für die drei Liegenschaften die nachstehenden Immissionspegel:
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Messort mittleren Verkehr 1982 Normverkehr
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tags nachts tags nachts
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Ammann 63 55 65 57
| 21 |
Berger 62 55 64 57
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Kleiner 58 50 60 52
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Statistischer Pegel L1 in dB(A,F) beim
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Messort mittleren Verkehr 1982 Normverkehr
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tags nachts tags nachts
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Ammann 69 64 69 65
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Berger 68 63 68 64
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Kleiner 64 60 65 61
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Die Fälle Ammann, Berger und Kleiner sind deshalb im Instruktionsverfahren gemeinsam behandelt worden und können auch durch ein einziges Urteil erledigt werden.
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Die Voraussetzung der Spezialität ist insbesondere dann gegeben, wenn die Lärmimmissionen eine Intensität erreichen, die das Mass des Üblichen und Zumutbaren übersteigt; nach der bisherigen Rechtsprechung ist dies anzunehmen, wenn die von der Eidgenössischen ![]() | 33 |
Die Schätzungskommission hat in ihren Entscheiden, ohne die Praxis zur Voraussetzung der Schwere ausdrücklich in Frage zu stellen, auf BGE 102 Ib 275 E. 4 hingewiesen und daraus geschlossen, wenn die Grenzrichtwerte in enteignungsrechtlich relevanter Weise überschritten seien, sei in aller Regel auch die besondere Schwere des Schadens zu bejahen. Dieses Erfordernis ist demnach ohne weitere Abklärungen als erfüllt betrachtet worden. Derart kann jedoch nicht vorgegangen werden.
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Zwar trifft zu, dass in den Erwägungen zum Falle Reich (BGE 95 I 493 ff.) die Voraussetzungen der Spezialität und der Schwere des Schadens nicht klar und deutlich auseinandergehalten worden sind. Ebenfalls ist einzuräumen, dass die in BGE 102 Ib 275 /6 gewählte Formulierung, das Ausmass der Überschreitung der Grenzrichtwerte bilde eine "entscheidende ![]() | 35 |
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Die bisher in der Schweiz bei Lärmmessungen verwendeten Masse L1 und L50 sind statistische Grössen ("Percentile"). Sie geben die Pegelwerte an, die während 1% (L1) bzw. 50% (L50) der Beobachtungs- oder Bezugszeit überschritten werden. Als Bezugszeiten für die Beurteilung des Strassenverkehrslärms gelten heute allgemein tags die Zeit von 06.00 bis 22.00 Uhr und nachts die Zeit von 22.00 bis 06.00 Uhr (VERDAN, Interpretation und Handhabung der Lärmgrenzrichtwerte, Eidg. Amt für Umweltschutz, 1974, S. 5 f.; Immissionsschutz an Nationalstrassen, Schlussbericht ![]() | 37 |
4. Im Bericht 1963 wurde vorgeschlagen, eine bestimmte Lärmsituation durch drei Pegelwerte, das "Grundgeräusch", die "häufigen Spitzen" und die "seltenen Spitzen" zu charakterisieren. Zeitlich wurde zwischen tags (Verkehrszeit) und nachts (Ruhezeit) unterschieden. Räumlich erfolgte eine Aufteilung in sechs Geräuschzonen I-VI. Die für jede Zone und die Tages- und Nachtzeiten ![]() | 38 |
Während der folgenden Jahre wurden die verbal definierten Pegelwerte durch die bereits dargestellten statistischen Masse ersetzt. Der L50 trat an die Stelle des "Grundgeräusches", der L1 an jene der "häufigen Spitzen"; die "seltenen Spitzen" wurden fallen gelassen, da ihre Bestimmung oft zu Zufallsresultaten führte. Weil die Umschreibung der statistischen Pegel ohne Bezugszeit unvollständig wäre, wurde - wie bereits erwähnt - die Tagesperiode auf 16 Stunden, die Nachtperiode auf 8 Stunden festgelegt. In der Praxis hat sich bald der L50 als ausschlaggebend für die Beurteilung des Tageslärms erwiesen. Nachts fällt er dagegen in der Regel tief ab, so dass der L1 zum entscheidenden Mass wird. In diesem Zusammenhang haben die vom Bundesgericht beigezogenen Experten übereinstimmend erklärt, die im Laufe der Jahre gesammelten Erfahrungen hätten klar gezeigt, dass die im Schema 1963 vorgeschlagenen Grenzrichtwerte L1 für die Nacht zu tief angesetzt seien. Wo Wohnhäuser nahe an der Strasse stünden, wie das bei Wohnquartieren und Kernzonen üblich sei, werde der Grenzrichtwert L1 von 55 dB(A) - der sowohl für die ruhige Wohnzone II als auch für die gemischte Zone III gilt - auch bei bescheidenem Verkehrsvolumen sehr rasch überschritten. Das habe denn auch zur Folge gehabt, dass die mit städtischem Verkehr konfrontierten Kantone die Anwendung der L1-Nachtwerte vermieden und sich mit der in Fachkreisen verbreiteten Regel beholfen hätten, nach welcher beim L1 zwischen tags und nachts gemessenen Werten eine Differenz von etwa 10 dB(A) bestehe; diese Regel entspreche jedoch oftmals den Tatsachen nicht. Die bundesgerichtlichen Experten halten es deshalb für angezeigt, die im provisorischen Schema 1963 festgelegten L1-Grenzrichtwerte für die Nacht betreffend die Geräuschzonen II-V um 5 dB zu erhöhen. Diese Änderung soll auf den Verkehrslärm beschränkt bleiben, da für andere Lärmarten möglicherweise andere Korrekturen vorzunehmen sind. Eine Erhöhung der Richtwerte für die Zonen I (Kurzone) und VI (Hauptverkehrsader) drängt sich mangels entsprechender Erfahrungen nicht auf. Das Bundesgericht ist aufgrund dieser Ausführungen seinerseits zur Auffassung gelangt, ![]() | 39 |
Geräuschzone häufige Spitzen L1 Umschreibung
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tags nachts
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II 65 60 ruhige Wohnzone
| 42 |
III 70 60 gemischte Zone
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IV 70 65 Geschäftszone
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V 75 65 Industriezone
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Die Tages- und die Nachtperiode sind getrennt zu betrachten. Die durch Kurzzeitmessungen ermittelten Ergebnisse sind somit anhand von Verkehrsanalysen und -zählungen auf den täglichen bzw. nächtlichen Durchschnittsverkehr im Jahresmittel umzurechnen. Diese Umrechnung ist nach den Gutachtern für einen gemessenen Mittelungspegel Leq einfach und genau, bietet aber beim statistischen Schallpegel L1 erhebliche Schwierigkeiten.
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Die Schätzungskommission ist davon ausgegangen, dass die am Tag gemessenen Werte zu "normalisieren", auf einheitliche Verkehrsverhältnisse umzurechnen seien. Der tatsächliche Verkehr lässt sich indessen nicht ohne weiteres durch einen "Normverkehr" ersetzen. Normwerte, die sich nach der Leistungsfähigkeit der Strasse richten, dienen in erster Linie als Projektierungshilfe beim Bau neuer Strassen. Sie werden zudem für Lärm-Prognosen herangezogen, wenn die Verkehrsbelastung einer bestehenden Strasse voraussichtlich stark anwachsen wird. In solchen Situationen empfiehlt es sich auch im Enteignungsverfahren, die Beeinträchtigungen aus dem "Normverkehr" ebenfalls in Betracht zu ziehen. So wird im Falle, dass die Entschädigungspflicht bereits ![]() | 48 |
Der üblicherweise den Lärm-Prognosen zugrundegelegte "Normverkehr" beläuft sich für vierspurige Nationalstrassen auf 2000 Fahrzeuge pro Stunde bei einem Lastwagenanteil von 12%, was 2400 Personenwageneinheiten pro Stunde (PWE/h) gleichgesetzt wird. Diese Normverkehrsmenge entspricht, wie die Experten dargelegt haben, nicht nur der wahrscheinlichen Verkehrsentwicklung auf bestimmten Strassenstrecken. Sie ist auch so gewählt, dass der durch dieses Verkehrsvolumen entstehende Lärm kaum noch überschritten werden kann. Nimmt nämlich der Verkehr noch zu, treten in den Spitzenstunden Verkehrsbehinderungen auf, so dass die Fahrgeschwindigkeit reduziert werden muss und auch der Lärm wieder abnimmt. Dieser Mechanismus kann allerdings nur für den Tagesverkehr spielen; der nächtliche Verkehr liegt weit unter einer maximalen Auslastung der Strassen. Da zudem die bereits erwähnte Faustregel, nach welcher eine Pegeldifferenz von 10 dB zwischen Messwerten tags und nachts bestehe, heute nicht mehr als allgemein gültig betrachtet werden kann, muss der Geräuschpegel nachts entweder gemessen oder aus auf den Einzelfall bezogenen Daten über den Nachtverkehr berechnet werden. Für Lärm-Prognosen kann - so sind die Experten hier vorgegangen - aus dem Tages-Normwert ein Nacht-Normwert berechnet werden unter der Annahme, dass das bestehende Verhältnis zwischen den stündlichen Fahrzeugmengen tags und nachts (in den vorliegenden Fällen ca. 6:1) unverändert bleibe.
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6. Gemäss der bundesgerichtlichen Praxis ist die Voraussetzung der Spezialität der Lärmbeeinträchtigung gegeben, wenn der Lärmpegel den Grenzrichtwert klar überschreitet. Zwar scheint nach dem Urteil Werren eine blosse Überschreitung zu genügen (BGE 94 I 301 E. 9aa), doch hat das Bundesgericht im Falle Lehmann und Fuhrer (BGE 101 Ib 407) und bestätigend im Entscheid Keller (BGE 102 Ib 274 E. 3a) ausgeführt, die Einwirkung liege ausserhalb des Normalen, wenn der Lärm die Grenzrichtwerte ![]() | 50 |
Nach den Aussagen der Gutachter sind erfahrungsgemäss Pegeländerungen von 2 dB oder weniger in der Regel nicht wahrnehmbar. Differenzen von 3 dB bilden Grenzfälle, während solche von 5 dB eindeutig wahrnehmbar sind, ohne allerdings als grosse Veränderung empfunden zu werden. Dieser Massstab gilt indessen nur bedingt auch für die Störung, stimmt doch die akustische Skala nicht notwendigerweise mit der subjektiven Störungsskala überein. Es darf nicht vergessen werden, dass eine Erhöhung des Leq oder des L50 um 3 dB auf eine Verdoppelung des Verkehrs zurückgehen und eine Erhöhung um 10 dB eine Verzehnfachung des Verkehrs, also eine drastische Veränderung bedeuten kann. Entsprechend der Empfehlung der Experten und in Übereinstimmung mit den angefochtenen Entscheiden ist daher bereits eine Überschreitung des Grenzwertes um 5 dB als klare Überschreitung anzuerkennen.
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7. Während in der Schweiz seit rund zwanzig Jahren die statistischen Schallpegel L1 und L50 zur Beschreibung einer bestimmten Geräuschsituation verwendet worden sind, hat sich international der energieäquivalente Dauerschallpegel oder Mittelungspegel Leq als Lärmmass durchgesetzt. Der Leq gibt die durchschnittliche Schallintensität, den energetischen Mittelwert eines schwankenden Geräusches pro Zeiteinheit wieder. Für diesen Wert ist charakteristisch, dass die gesamte Schallenergie miteinbezogen wird; erfasst werden auch kürzeste und seltene Schallsignale, die etwa bei Anwendung von L1 ausser Betracht fallen würden. Zwar vermitteln der L1 und der L50 als Wertepaar mehr Informationen als eine Einzelgrösse. Nach Angaben der Experten hat sich indessen erwiesen, dass sich der Leq bei starkem Verkehr ähnlich verhält wie der L50, bei schwachem, insbesondere nächtlichem Verkehr dagegen parallel zum L1 verläuft. Er kann somit in gewissem Umfange die Hauptfunktionen beider statistischer Pegel übernehmen. Der Mittelungspegel weist zudem den Vorteil einer einfachen rechnerischen Handhabung auf, was Umrechnungen auf ![]() | 52 |
Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen I-IV Immissionsgrenzwerte
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zu den typischen Nutzungen
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Empfindlichkeitsstufe Typische Nutzung Leq in dB(A)
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der lärmbetroffenen Gebiete
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Tag Nacht
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I Speziell bezeichnete Ruhezonen, namentlich mit 55 45
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- Krankenanstalten
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- Pflegeheimen
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- Kurhäusern
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- Erholungsheimen
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II Gebiete mit vorwiegendem Wohncharakter, 60 50
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namentlich mit
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- Praxis-, Büro- und Wohngebäuden
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in ruhigen ländlichen oder städtischen Gebieten
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- Altersheimen
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- Kinderheimen
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- Ferienhäusern
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Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen I-IV Immissionsgrenzwerte
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zu den typischen Nutzungen
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Empfindlichkeitsstufe Typische Nutzung Leq in dB(A)
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der lärmbetroffenen Gebiete
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Tag Nacht
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III Lärmvorbelastete Wohngebiete, 65 55
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namentlich mit
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- Praxis-, Büro- und Wohngebäuden
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- Gewerbebetrieben mit Wohnungen
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- Kaufläden usw.
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IV Industriegebiete, mit Gebäuden, die 70 60
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dem längeren Aufenthalt von
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Personen dienen, namentlich mit
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- Abwartwohnungen
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- Büro- und Laborgebäuden
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Die Experten haben dargelegt, die Beurteilung einer bestimmten Lärmsituation gestützt auf die Grenzwertschemata bedinge, dass von den selben Grundlagen und Kriterien ausgegangen werde, anhand derer die Grenzwerte festgelegt worden seien. Mit dem Argument der Weckschwelle werde indessen das reine Grenzwertdenken verlassen und der Horizont der Beurteilung erweitert. Die Frage der Schlafstörung durch Lärm sei ein seit Jahrzehnten kontroverses Thema. Ob ein Geräusch einen Schlafenden wecke, hänge von derart vielen Faktoren ab, dass verbindliche Aussagen kaum möglich seien; jedenfalls lasse sich angesichts der unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse die Annahme einer allgemein gültigen Weckschwelle von 45-50 dB nicht stichhaltig begründen. Übrigens habe es sich bei den bisherigen Untersuchungen fast ausschliesslich um Laboruntersuchungen gehandelt, bei welchen die Lärmpegel in Ohrnähe des Schlafenden gemessen worden seien. Diese könnten nicht direkt mit den L1-Pegeln im offenen ![]() | 87 |
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Diesen Vorschlägen kann sich das Bundesgericht mit gewissen Vorbehalten hinsichtlich der Einstufung der Liegenschaft Berger (s. unten E. 10c) anschliessen. Die für die drei Grundstücke massgebenden Geräuschpegel (MP) sind daher folgenden Grenzwerten (GW) gegenüberzustellen:
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Ammann Berger Kleiner
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MP GW MP GW MP GW
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Leq nachts
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mittlerer Verkehr 55 55 55 50 50 50
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Normverkehr 57 55 57 50 52 50
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L1 nachts
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(Grenzwert um 5 dB angehoben gemäss E. 4).
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mittlerer Verkehr 64 60 63 60 60 60
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Normverkehr 65 60 64 60 61 60
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Leq tags
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mittlerer Verkehr 63 65 62 60 58 60
| 100 |
Normverkehr 65 65 64 60 60 60
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a) Im Falle Kleiner liegt der heutige Geräuschpegel auf der Höhe der und der Immissionsgrenzwerte, überschreitet diese aber Auch der durch den "Normverkehr" verursachte Lärm würde die in der Nacht nur um weniges und jedenfalls nicht mit der Klarheit übersteigen. Die Voraussetzung der Spezialität Lärmbeeinträchtigung ist daher zu verneinen.
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b) Im Falle Ammann sind die Tagesgrenzwerte eingehalten. Nachts der Leq-Wert auf bzw. um 2 dB über der kritischen Lärmschwelle. Eine klare Überschreitung des Grenzwertes ist einzig für den L1 und zwar lediglich unter Annahme des "Normverkehrs". Die können hier aber nicht als ausschlaggebend betrachtet da keine Anzeichen für eine aussergewöhnliche Zunahme des in nächster Zukunft sprechen, ist doch die N 12 schon seit Zeit durchgehend befahrbar und wird wohl die Fertigstellung der N eher zu einer Verkehrsabnahme führen. Auch auf dem Grundstück Ammann somit die Lärmeinwirkung nicht die Intensität, die einen zu begründen vermöchte.
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c) Im Falle Berger schliesslich werden die Immissionsgrenzwerte deutlich überschritten, um 5 dB durch den massgebenden, um 7 dB den "Normverkehr". Dieses vom Falle Ammann abweichende Ergebnis ist allein auf die unterschiedliche Einstufung der Liegenschaft (Empfindlichkeitsstufe II) zurückzuführen; die Lärmbelastung der ist absolut gesehen etwas geringer als jene des Grundstücks Nun kann aber - wie schon angetönt - dem Einstufungs-Vorschlag Experten nur mit gewissen Bedenken gefolgt werden. Die Experten haben Antrag ausschliesslich damit begründet, dass das Resultat der vor Nationalstrassenbau durchgeführten Lärmmessung eine Zuweisung des Berger zum Gebiet mit vorwiegendem Wohncharakter rechtfertige. Es fraglich, ob sich eine Einstufung allein gestützt auf eine solche Messung vornehmen lasse, ohne beispielsweise zu dass das betreffende Grundstück gemäss Zonenplan in gemischten Zone liegt, in welcher der Grundeigentümer von einem auf den anderen durch zuziehendes Gewerbe in seiner Ruhe gestört kann, ohne dass er sich dagegen zur Wehr setzen könnte. Indessen die Frage nach der richtigen ![]() | 104 |
Von den Lärmimmissionen, wie sie hier bestimmt worden sind, wird einzig die oberste, nach Osten gerichtete Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung von insgesamt neun Wohnungen des Hauses Berger betroffen. Die tiefer liegenden Stockwerke werden durch den Lärmschutzwall besser abgedeckt. Das Mass der Lärmbelästigung überschreitet ausserdem nur nachts die kritische Lärmschwelle. Dem kann aber nach Aussagen der Experten schon dadurch abgeholfen werden, dass die vorhandenen Fenster geschlossen gehalten werden. Bestünde überhaupt die Möglichkeit, gestützt auf das Enteignungsgesetz die Aufwendungen für Schallschutzmassnahmen zu vergüten, so käme hier daher nur eine Entschädigung für schallgedämpfte Lüftung des Schlafzimmers, nicht aber für Schallschutzfenster in Frage. Der immissionsbedingte Schaden muss jedoch unter den gegebenen Umständen, insbesondere was seine Höhe im Verhältnis zum Gesamtwert der Liegenschaft betrifft, als gering betrachtet werden. Die Zusprechung einer Entschädigung fällt aus diesem Grunde ausser Betracht.
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Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens, eingeschlossen eine Partei- bzw. Umtriebsentschädigung an die Enteigneten, sind Art. 116 EntG entsprechend dem Enteigner aufzuerlegen. Da in den vorliegenden Fällen jedoch Abklärungen grundsätzlicher Natur getroffen worden sind, die im Interesse der Rechtsprechung liegen, ist ein Teil der Expertenkosten auf die Kasse des Bundesgerichtes zu nehmen.
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