BGE 112 Ib 176 | |||
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31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Juni 1986 i.S. R. und M. gegen Eidgenössisches Militärdepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Eigentumsgarantie, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Recht auf einen Richter, Eröffnung des Enteignungsverfahrens. | |
Sachverhalt | |
Frau R. und die Eheleute M. wandten sich im März 1984 als Eigentümer bzw. Mieter zweier Grundstücke in Rothenthurm an das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) und ersuchten dieses um Einleitung eines Verfahrens zur Enteignung nachbarlicher Abwehrrechte. Sie machten geltend, seit einiger Zeit würden in nächster Nähe ihrer Liegenschaften in zunehmendem Masse Schiessübungen, insbesondere auch Nachtschiessen, durchgeführt, die zivilrechtlich nicht geduldet werden müssten. Hierauf teilte das EMD den Gesuchstellern mit, dass es nicht bereit sei, ein Enteignungsverfahren einleiten zu lassen, da nichts für die Annahme übermässiger Immissionen spreche. Soweit es überhaupt Beeinträchtigungen gebe - während des bereits seit zwanzig Jahren dauernden Schiessbetriebes seien nämlich nie Reklamationen eingegangen - seien diese nicht übermässig und daher von den Betroffenen entschädigungslos zu dulden.
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Frau R. und die Eheleute M. haben die Weigerung des Departementes, bei der Eidgenössischen Schätzungskommission um Verfahrenseröffnung zu ersuchen, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten, welche vom Bundesgericht gutgeheissen wird.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Das Bundesgericht hat schon vor der Aufnahme von Art. 22ter in die Bundesverfassung festgehalten, dass die Eigentumsgarantie die Kantone verpflichte, ein gerichtliches Verfahren vorzusehen, in dem die von einer materiellen Enteignung Betroffenen ihre Ansprüche geltend machen könnten (BGE 80 I 244, BGE 81 I 347 ff.; vgl. auch BGE 101 Ib 283, BGE 98 Ia 33). Der Weg zum Richter muss in gleicher Weise gewährleistet sein, wenn eine formelle Expropriation in Frage steht. Da wie dargelegt das Enteignungsverfahren nur auf Begehren des Enteigners eingeleitet werden kann, ist dieser verpflichtet, seinerseits die Voraussetzungen zur Verfahrenseröffnung durch die Eidgenössische Schätzungskommission zu schaffen, und zwar im Falle angeblicher Nachbarrechtsverletzungen auch dann, wenn er den Eingriff bestreitet, weil die Schätzungskommission nicht nur über die Höhe der allfälligen Entschädigung, sondern auch darüber zu entscheiden hat, ob überhaupt nachbarliche Abwehransprüche bestünden und in sie eingegriffen worden sei (BGE 108 Ib 494, BGE 101 Ib 58, 289, BGE 94 I 299). Übrigens findet heute der Anspruch des Bürgers, Entschädigungsbegehren für Eingriffe des Enteigners in Nachbar- und andere Rechte einem Gericht unterbreiten zu können, eine weitere Grundlage in Art. 6 EMRK. Gemäss der autonomen Auslegung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stellen die - nach schweizerischem Recht öffentlichrechtlichen - Streitigkeiten über die Zulässigkeit der Enteignung und über die Höhe der Enteignungsentschädigung "des contestations sur des droits et des obligations de caractère civil" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar, für welche dieser den Zugang zum Gericht garantiert (BGE 111 Ib 231 ff. E. 2e mit Hinweisen auf die entsprechenden Entscheide des Europäischen Gerichtshofes; THÜRER, Europäische Menschenrechtskonvention und schweizerisches Verwaltungsverfahren, ZBl 87/1986 S. 251).
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b) Das EMD bestreitet, dass allenfalls auftretende Immissionen übermässig seien und dass die Beschwerdeführer als "Nachbarn" des Schiessplatzes gelten könnten. Diese Einwendungen sind jedoch im Verfahren, das den möglicherweise Lärmgeschädigten zur Forderungsanmeldung dient, fehl am Platz. Der Zugang zum Enteignungsrichter kann vom Werkeigentümer nicht mit dem Argument verweigert werden, dass kein nachbarlicher Abwehranspruch eingeschränkt worden sei, es insbesondere an der Voraussetzung der Unvorhersehbarkeit, der Spezialität der Einwirkungen oder der Schwere des Schadens fehle - also aus Gründen, die sich auf die materielle Berechtigung der geltend gemachten Begehren beziehen, über die gerade die Schätzungskommission zu befinden hat. Nach der Rechtsprechung darf das Unternehmen nur ausnahmsweise die Verfahrenseröffnung ablehnen, wenn die erhobenen Forderungen verjährt oder verwirkt sind, da sich das Bundesgericht auf Beschwerde des Gesuchstellers über diese Rechtsfragen mit voller Kognition aussprechen kann und damit der Rechtsweg garantiert bleibt (BGE 110 Ib 379 mit Hinweisen auf weitere Urteile); das gleiche gilt für den Fall, dass sofort feststeht, dass die Schätzungskommission von der Sache her für die Beurteilung der gestellten Begehren nicht zuständig sein kann (BGE 112 Ib 126 E. 3).
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c) Das EMD gibt schliesslich zu bedenken, ein allzu leichter Zugang zu den Schätzungskommissionen könnte zu unzähligen, zum Teil missbräuchlich eingeleiteten Verfahren führen. Diese Befürchtung ist vielleicht nicht vollständig unbegründet, für den Ausgang des Verfahrens jedoch unerheblich. Übrigens liegt im Umstand, dass das EMD hier als Enteigner das Seine für die Verfahrenseröffnung zu unternehmen hat, damit die Gesuchsteller ihre Forderungen dem Richter unterbreiten können, keinerlei Anerkennung dieser Begehren. In diesem Zusammenhang kann auch daran erinnert werden, dass in Fällen wie dem vorliegenden das Verfahren im Interesse der Enteigneten eingeleitet und deshalb zu prüfen sein wird, ob und inwieweit die Regel, wonach grundsätzlich der Enteigner die Verfahrenskosten zu tragen hat, ebenfalls anzuwenden ist (vgl. BGE 111 Ib 98 f.).
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