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11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. März 1987 i.S. Oltner Lagerhaus- und Speditionsgesellschaft AG gegen Einwohnergemeinde Olten und Regierungsrat des Kantons Solothurn (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 10 USG; Katastrophenschutz; Wegschaffungspflicht und Wiedereinlagerungsverbot von Chemikalien. |
2. Beim Katastrophenschutz darf die Behörde im Sinne einer vorläufigen Massnahme relativ undifferenzierte Anordnungen erlassen; diese sind aber alsdann innert nützlicher Frist nach dem neuen Erkenntnisstand zu präzisieren (E. 5a und 6). | |
Sachverhalt | |
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Kanton und Firma bemühen sich seit längerer Zeit, die sich aus der Lagerung ergebenden Gefahren einzudämmen. Nach der Brandkatastrophe von Schweizerhalle vom 1. November 1986 kam der Regierungsrat zum Schluss, dass das Sicherheitsrisiko nicht länger zu verantworten sei und deshalb Sofortmassnahmen getroffen werden müssten, um das Chemielager abzubauen. Er verfügte daher am 16. Dezember 1986 im wesentlichen, die Beschwerdeführerin habe ihr Lager teils mengenmässig zu beschränken, teils ganz aufzuheben und entsprechende Schutzmassnahmen zu treffen.
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Im einzelnen lautet die Verfügung - soweit hier interessierend - wie folgt:
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"1. Die Firma OLG hat so rasch als möglich die Gesamtmenge der eingelagerten Chemikalien auf höchstens 2500 Tonnen zu beschränken. Als äusserster Termin gilt Ende März 1987. Eine weitere Plafonierung wird in einer Anschlussverfügung festgelegt.
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3. Es wird untersagt, anstelle von weggeschafften Chemikalien neue Stoffe im Sinne von Ziffer 4 einzulagern.
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4. Folgende Stoffe sind sofort, spätestens jedoch bis Ende März 1987 wegzuschaffen:
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- Im Brandfall toxische Brandgase abgebende Substanzen (beispielsweise chlorierte Dioxine oder Furane)
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- Besonders ökotoxische oder humantoxische Stoffe
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- Stoffe, die elementares Quecksilber oder Quecksilberverbindungen nicht nur als unvermeidliche Verunreinigung enthalten
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- Lösungsmittel mit einem Flammpunkt unter 55o C
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- Chemikalien der Brandklasse 2
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- Biologisch schwer abbaubare Stoffe (beispielsweise Chlorkohlenwasserstoffe, metallorganische Verbindungen etc.)
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Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Anlageinhaber
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sind verpflichtet, im Rahmen der Selbstverantwortung gegebenenfalls weitere Einschränkungen vorzunehmen.
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Die OLG erhob gegen diesen Entscheid am 16. Januar 1987 beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, ihn vollumfänglich, eventuell nur hinsichtlich bestimmter Ziffern aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Nach Art. 10 Abs. 1 USG trifft, wer Anlagen betreibt oder betreiben will oder Stoffe lagert, die bei ausserordentlichen Ereignissen den Menschen oder seine natürliche Umwelt schwer schädigen können, die zum Schutz der Bevölkerung und der Umwelt notwendigen Massnahmen. Nach ihrem klaren Wortlaut richtet sich die Vorschrift an den Privaten und auferlegt ihm direkte Verhaltenspflichten. Insoweit bedarf es zu ihrem Vollzug, d.h. ihrer Durchsetzung durch einzelfallweise Anordnungen der Behörden, keines ausführenden Rechtes. Auch hindert der Umstand für sich allein, dass in einer Vorschrift eine weitere rechtssatzmässige Regelung in Aussicht genommen wird, die direkte Anwendbarkeit der Bestimmung nicht (BGE 112 Ib 43 /44 E. 1c). Das Bundesgericht hat ausgeführt, es entscheide mangels entsprechender Ausführungsvorschriften nach der Regel, die es als Verordnungsgeber aufstellen würde (a.a.O., S. 46 E. 4a). Dies ist ein allgemeiner Grundsatz; das Bundesgericht hat ihn - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - nicht auf die Fälle beschränkt, in denen "z.B. bezüglich Lärmimmissionen oder bezüglich Umweltverträglichkeitsprüfung bereits Normen des Bundes, der Kantone oder von Fachgremien bestehen oder aus den Beratungen und der Botschaft zum Gesetzesentwurf abgeleitet werden können". Etwas anderes lässt sich weder aus dem von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheid vom 25. Juli 1986 i.S. Adolf Besmer und Mitbeteiligte c. EMD (BGE 112 Ib 280 ff.) noch aus dem Umstand, dass im oben zitierten Urteil im konkreten Fall auf die bisherigen Unterlagen zur Lärmbeurteilung von zivilen Schiessanlagen abzustellen war, herleiten. Zu prüfen bleibt indessen, ob ![]() | 19 |
b) Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, es gehe nicht an, die unter Art. 10 USG fallenden Stoffe in Fallgruppen zusammenzufassen und die Zuteilung einzelner Stoffe in die entsprechenden Gruppen ihr zu überlassen. Dass weder der Regierungsrat des Kantons Solothurn noch die einlagernden Chemiefirmen in der Lage seien, die erforderliche Auflistung vorzunehmen, zeige, dass der angefochtenen Verfügung die rechtliche Grundlage fehle.
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Die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 10 USG hängt in der Tat davon ab, ob die Norm sachlich so abgefasst ist, dass sie ohne weitere rechtssatzmässige Konkretisierung privates Verhalten hinreichend bestimmt steuern kann. Die Bestimmung umschreibt die von ihr ins Auge gefassten Produkte nicht in der Weise, wie dies offenbar der Beschwerdeführerin vorschwebt; sie zählt keine einzelnen chemischen Stoffe oder Verbindungen wie etwa im Bereich der Arzneimittel, der Sprengstoffe oder des Treibstoffes auf. Vielmehr umschreibt sie diese in allgemeiner Form nach Massgabe der jeweiligen Umweltrelevanz; entscheidend ist ihre biologische Wirkung (Art. 7 Abs. 5 USG) und das damit verbundene Gefahrenpotential für den Menschen und seine natürliche Umwelt (Art. 10 Abs. 1 USG).
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Es ist der Beschwerdeführerin darin beizupflichten, dass Art. 10 Abs. 1 USG seinen sachlichen Geltungsbereich und die Pflichten der Betreiber von Anlagen und Lagern mit relativ hoher Abstraktheit definiert. Es trifft indessen offensichtlich nicht zu, dass keine tauglichen Kriterien für die Beurteilung des Gefährdungspotentials von Chemikalien existieren. Art. 10 Abs. 1 USG hat hauptsächlich die umweltgefährdenden Stoffe im Sinne von Art. 26 ff. im Auge. Für deren Humantoxizität kann beispielsweise auf die Giftklassen-Einteilung der Bundesgesetzgebung über den Verkehr mit Giften abgestellt, für die Umwelttoxizität die am 1. September 1986 in Kraft getretene Verordnung über umweltgefährdende Stoffe vom 9. Juni 1986 beigezogen werden. Dies schliesst nicht aus, dass für eine detaillierte Triage erhebliche Beurteilungsschwierigkeiten bestehen bleiben. Dies hindert indessen die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 10 Abs. 1 USG nicht. Die Anforderungen an die Bestimmtheit von Rechtssätzen hängt massgeblich von der Eigenart des Regelungsgegenstandes ab. Verlangt ist eine den jeweiligen Verhältnissen angemessene, optimale ![]() | 22 |
c) Wohl mag es zutreffen, dass eine gestützt auf Art. 10 Abs. 4 und allenfalls auf Art. 39 Abs. 1 USG erlassene bundesrätliche Verordnung den Vollzug von Art. 10 Abs. 1 USG erleichtern würde. Das Eidg. Departement des Innern weist aber zu Recht darauf hin, dass letztlich nur die privaten Firmen die Verantwortung für die detaillierte Risikobeurteilung innerhalb ihrer Betriebe und Lagerstätten übernehmen könnten und die Chemiefirmen dies in der Vergangenheit im Sinne eines Rechtes den staatlichen Behörden gegenüber auch in Anspruch genommen hätten. Tatsächlich ist der Staat beim Umweltschutz in weitgehendem Masse auf Informationen durch die Privaten angewiesen, und die Umweltschutzgesetzgebung setzt deren Selbstverantwortung voraus (vgl. etwa die Pflicht zur Selbstkontrolle gemäss Art. 26 USG). Mit dieser Selbstverantwortung und der Pflicht der Behörden zur Beratung (Art. 6 USG) lässt sich die relative Unbestimmtheit von Art. 10 Abs. 1 USG kompensieren. Hinzu kommt, dass bei komplexen und ungewissen Situationen, wie sie beim Katastrophenschutz vorliegen können, den besonderen Umständen und den tatsächlichen Gegebenheiten mit Einzelfallentscheiden durchaus Rechnung getragen werden kann (vgl. GEORG MÜLLER, Inhalt und Formen der Rechtsetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, Basel/Stuttgart 1979, S. 85). Dies gilt namentlich im vorliegenden Fall, wo der Regierungsrat seine Verfügung als vorläufige Massnahme versteht, die nach Massgabe weiterer Erkenntnisse durch Anschlussverfügungen abzulösen oder zu ergänzen sei (vgl. dazu E. 5a ![]() | 23 |
d) Diese Erwägungen führen zusammenfassend zum Schluss, dass Art. 10 Abs. 1 USG unmittelbar anwendbar ist. Zu prüfen bleibt, ob der Regierungsrat die Vorschrift im einzelnen korrekt angewendet hat.
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In Ziff. 1 der Verfügung wird die Beschwerdeführerin verpflichtet, die Gesamtmenge der "Chemikalien" auf höchstens 2500 Tonnen zu beschränken. Der Regierungsrat räumt ein, dass durch den Wortlaut dieser Ziffer der Eindruck entstehen könnte, der ![]() | 26 |
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Der Regierungsrat hat in seinen dem Bundesgericht eingereichten Bemerkungen den Charakter der angefochtenen Verfügung als bloss vorläufige Massnahme auch im Zusammenhang mit dem Einlagerungsverbot bestätigt. Er schliesst danach nicht für alle Zeiten aus, dass die Beschwerdeführerin in ihren Lagerräumen Chemikalien lagern dürfe, falls sie den Nachweis erbringe, dass die baulichen Massnahmen die erforderliche Sicherheit gewährleisteten und eine Notfallplanung durchgeführt sei; er erachtet es als durchaus möglich, dass unter diesen Umständen auf die angefochtene Verfügung zurückgekommen werde. Darauf ist er zu behaften. Wohl ist ein generelles und undifferenziertes Einlagerungsverbot als vorläufige Massnahme zulässig. Diese muss aber alsdann innert nützlicher Frist in eine definitive Regelung überführt werden (vgl. E. 5a oben). Der Beschwerdeführerin muss es freistehen, ein Gesuch um Wiedereinlagerung zu stellen, sobald die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind; dieses wird von der zuständigen Behörde umfassend zu prüfen sein.
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