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19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. Juli 1993 i.S. H. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 16 Abs. 3 lit. b, Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG. Entzug des Führerausweises; Bindung der Verwaltungsbehörden an das Strafurteil. |
2. Voraussetzungen, unter welchen die Entzugsbehörden vom rechtskräftigen Strafurteil abweichen dürfen (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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Einen gegen den Entzug des Führerausweises gerichteten Rekurs wies die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 18. Dezember 1991 ab.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 17. Januar 1992 beantragt H. dem Bundesgericht, das Urteil der Verwaltungsrekurskommission sowie die Verfügung des Strassenverkehrsamtes aufzuheben.
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Die Verwaltungsrekurskommission hat unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesamt für Polizeiwesen beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Im angefochtenen Entscheid wird dazu ausgeführt, die Verfügung sei vernünftigerweise dahingehend zu verstehen, dass das Verfahren dadurch ausgesetzt oder sistiert werde, auch wenn zugestanden werden müsse, dass die verwendete Bezeichnung missverständlich sein könne.
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aa) Der Führerausweisentzug ist eine administrative Massnahme. Das Bundesgericht folgerte in seiner früheren Rechtsprechung zwar daraus, die Verwaltungsbehörden könnten nach dem Grundsatz der Gewaltentrennung unabhängig von den tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Strafrichters über den Entzug des Führerausweises entscheiden, schränkte aber diesen Grundsatz dahingehend ein, dass im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtseinheit nicht ohne Not von den Feststellungen im Strafurteil abzuweichen sei; denn in der Würdigung des Tatbestandes sollten grundsätzlich zwischen Verwaltung und Strafjustiz keine Differenzen bestehen und es sei in ausgesprochenen Zweifelsfällen wenn immer möglich das Strafurteil abzuwarten, bevor eine Administrativmassnahme verfügt werde (BGE 96 I 774, bestätigt in BGE 101 Ib 273, BGE 102 Ib 196).
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In einem Urteil vom 9. Juli 1976 (in RDAF 1977, 351) betonte das Bundesgericht, das Bundesrecht verpflichte die Verwaltungsbehörde nicht, den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten; daraus folge, dass selbst ein krasser Widerspruch zwischen dem Entscheid der Verwaltungsbehörde und dem späteren des Strafrichters nicht zur Aufhebung des ersteren führe (vgl. auch Urteil vom 3. November 1978, in RDAF 1980, 46 f.). Auch in BGE 105 Ib 19 wird unter Hervorhebung der klaren Trennung von Verwaltungs- und Strafverfahren betont, die Verwaltungsbehörde brauche das Strafurteil nicht abzuwarten; dies entspreche auch gar nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers, denn dieser sei davon ausgegangen, dass der Entscheid über den Entzug des Führerausweises möglichst bald nach der Tat getroffen werde, ohne dass die für die Abwicklung des Strafverfahrens notwendige Zeit verstreiche; verfüge die Verwaltungsbehörde, bevor das Urteil im Strafverfahren vorliege, so habe sie selbständig zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für einen Ausweisentzug erfüllt seien; an diese Verfügung sei der Strafrichter bei seinem späteren Urteil in der gleichen Sache nicht gebunden; er habe in tatbeständlicher und rechtlicher Hinsicht selbständig zu entscheiden, ob sich der fragliche Motorfahrzeugführer strafbar gemacht habe, und es könnten für ihn insbesondere die Grundsätze keine Geltung beanspruchen, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die ![]() | 11 |
Kurz darauf schränkte das Bundesgericht diese Praxis im Sinne seiner früheren Rechtsprechung wieder ein: Wenn die strafrechtliche Qualifikation einer Handlung oder die Frage des Verschuldens unsicher seien, bestehe die Gefahr, dass der Strafrichter - wenn er nach Abschluss des Entzugsverfahrens entscheide - zu anderen Ergebnissen gelange als vor ihm die Entzugsbehörde; ein solcher Ausgang sei im Hinblick auf die Rechtssicherheit unbefriedigend; es rechtfertige sich daher, in den genannten Fällen erst über einen Führerausweisentzug zu entscheiden, wenn das Strafverfahren, in dem primär über die Anwendung des Strafrechtes zu entscheiden sei, mit einem rechtskräftigen Urteil seinen Abschluss gefunden habe (BGE 106 Ib 398, E. 2). In einem Fall, in welchem der Beschuldigte bestritt, angetrunken gefahren zu sein, erkannte das Bundesgericht - da es nach den Akten möglich sei, dass der Beschuldigte erst nach der Streifkollision eine Flasche Rotwein getrunken habe, und über diese Frage am besten der Strafrichter urteilen könne -, die Verwaltungsbehörde habe das bei ihr hängige Beschwerdeverfahren zu Recht bis zum Vorliegen eines Strafurteils ausgesetzt (Urteil vom 25. November 1982 i.S. M.S. gegen Staatsrat des Kantons Freiburg). In BGE 109 Ib 204 bestimmte das Bundesgericht in einer allgemeineren Formulierung, die Verwaltungsbehörde habe, wenn in bezug auf das Verschulden oder die rechtliche Qualifikation des in Frage stehenden Verhaltens Zweifel bestünden, das rechtskräftige Strafurteil abzuwarten.
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Diese Rechtsprechung wurde in einem neueren Urteil zwar bestätigt, gleichzeitig wurde aber in Weiterführung der bisherigen Praxis betont, dass die Verwaltungsbehörde in aller Regel den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten habe (Urteil vom 27. Juni 1990 i.S. R.P. gegen Consiglio di Stato del Cantone Ticino).
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bb) Diese neuste Rechtsprechung ist zu präzisieren.
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Im Interesse von Rechtseinheit und Rechtssicherheit gilt es zu vermeiden, dass derselbe Lebensvorgang zu voneinander abweichenden Sachverhaltsfeststellungen von Verwaltungs- und Justizbehörden führt und die erhobenen Beweise abweichend gewürdigt und ![]() | 15 |
Will die Verwaltung nach der Ausfällung des Strafurteils dennoch von diesem abweichen, gelten die durch die bisherige Praxis für diese Fälle aufgestellten Grundsätze (vgl. insb. BGE 96 I 774). Sind die Voraussetzungen für ein (zulässiges) Abweichen hingegen nicht erfüllt, so ist die Verwaltungsbehörde an das rechtskräftige Strafurteil gebunden.
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cc) Diese Lösung weicht zwar von der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers (BBl 1955 II 27) ab, lässt sich aber neben den dargelegten Argumenten auch damit begründen, dass dadurch keine wesentliche Verlängerung der Verfahren eintreten muss. Zunächst gehört auch die Verfahrensbeschleunigung zu den Geboten der EMRK. Da zudem in klaren Fällen ohnehin kein umfangreiches Strafverfahren durchgeführt werden muss, verstreicht in aller Regel nicht viel Zeit, bis die Verwaltung gestützt auf einen Strafbefehl oder ein im summarischen Verfahren gefälltes Strafurteil entscheiden könnte. Erfordert der Fall hingegen aufgrund der besonderen Umstände ein umfangreicheres Ermittlungsverfahren, so ist die dadurch bedingte Verlängerung des Verfahrens im Interesse der ![]() | 17 |
d) Der durch die Entzugsbehörde im vorliegenden Fall angebrachte Vorbehalt lässt klar erkennen, dass sie Zweifel hegte, ob der Beschwerdeführer nicht doch angetrunken gefahren sein könnte. Sie hat daher angesichts dieser unklaren Beweislage das Entzugsverfahren zwar "eingestellt", aber unter der Bedingung, dass sich im Strafverfahren nichts anderes in bezug auf das Fahren in angetrunkenem Zustand ergebe. Der Sache nach handelt es sich daher um eine Sistierungsverfügung, in welcher indessen bereits bedingt für den Fall, dass das Strafverfahren im fraglichen Punkt nichts Abweichendes ergibt, eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Dieses Vorgehen ist im Lichte der oben dargelegten Grundsätze bundesrechtlich nicht zu beanstanden; insbesondere kann von einer Wiederaufnahme einer rechtskräftig beurteilten Sache nicht die Rede sein (vgl. dazu auch 115 Ib 152 betr. Widerruf eines Verwaltungsaktes, insb. Führerausweisentzug).
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b) Der Beschwerdeführer hatte das Strafurteil des Bezirksgerichts bewusst nicht weitergezogen; er begründete dies damit, dass die Widerhandlung im Sinne von Art. 95 Ziff. 1 SVG unbestritten sei; nicht anerkannt werde das Strafurteil indessen bezüglich des Fahrens in angetrunkenem Zustand.
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c) Entgegen der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung hält die Vorinstanz fest, es bestünden keine Gründe, vom rechtskräftigen Strafurteil abzuweichen.
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Es ist somit zu prüfen, ob die Entzugsbehörden vom rechtskräftigen Strafurteil hätten abweichen müssen, oder ob sie davon ausgehen durften, die Voraussetzungen dafür seien nicht erfüllt und das rechtskräftige Strafurteil daher auch für das Führerausweisentzugsverfahren verbindlich.
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aa) Von den tatsächlichen Feststellungen im Strafurteil darf die Verwaltungsbehörde nur dann abweichen,
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- wenn sie zusätzliche Beweise erhebt, deren Würdigung zu einem anderen Entscheid führt, oder wenn die Beweiswürdigung durch den Strafrichter den feststehenden Tatsachen klar widerspricht; hat sie hingegen keine zusätzlichen Beweise erhoben, hat sie sich grundsätzlich an die Würdigung des Strafrichters zu halten;
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- wenn der Strafrichter bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht sämtliche Rechtsfragen abgeklärt, insbesondere die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat (vgl. BGE 109 Ib 204, mit Hinweis).
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Die Verwaltungsbehörde hat insbesondere dann auf die Tatsachen im Strafurteil abzustellen, wenn dieses - wie hier - im ordentlichen Verfahren mit öffentlicher Verhandlung unter Anhörung der Parteien und Einvernahme von Zeugen ergangen ist, es sei denn, es bestünden klare Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Tatsachenfeststellung; in diesem Fall hat die Verwaltungsbehörde nötigenfalls selbständige Beweiserhebungen durchzuführen (BGE 103 Ib 104, bestätigt in BGE 104 Ib 358; Urteil vom 5. Juni 1981, in RDAF 1982, 362 f.; BGE 105 Ib 19, BGE 106 Ib 398, BGE 109 Ib 204, BGE 115 Ib 164).
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bb) Hängt die rechtliche Würdigung sehr stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt als die Verwaltungsbehörde (was etwa dann der Fall ist, wenn er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat: BGE 104 Ib 359), so ist die Verwaltungsbehörde auch in bezug auf die Rechtsanwendung an die rechtliche Qualifikation des Sachverhaltes durch das Strafurteil gebunden (BGE 102 Ib 196).
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d) Das Bezirksgericht hat, wie sich aus dem Strafurteil ergibt, den Beschwerdeführer persönlich angehört und einen Augenschein durchgeführt; die Zeugin E. war durch den Untersuchungsrichter einvernommen worden. Gemäss der obenerwähnten Rechtsprechung war die Verwaltungsbehörde damit an die Feststellungen des Bezirksgerichts gebunden, da diese nicht offensichtlich zu den Akten in Widerspruch stehen. Dasselbe gilt für die rechtliche Würdigung, hängt diese doch im vorliegenden Fall sehr stark von den örtlichen Verhältnissen ab, über die sich das Bezirksgericht durch einen Augenschein selber ins Bild setzte. Triftige Gründe, die im Sinne der angeführten Rechtsprechung die Verwaltungsbehörde zwingend hätten veranlassen müssen, vom Strafurteil abzuweichen, bringt der ![]() | 29 |
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